[rohrpost] Telepolis: Gender & Sex: Die Angst vor der Wahrheit

micmix micmix at gmx.de
Die Sep 15 11:45:07 CEST 2015


Hallo Till, hallo Manuel, beste Rohrpost,

zur Frage der 'Wissenschaftlichkeit': es ist nach wie vor so, daß in den Naturwissenschaften, voran in der Physik, die Schärfe und Feinheit der Begriffsbildung den anderen Disziplinen weit voraus ist. Der Vorstellung von Welt, die in den Grundzügen zum Ende des 19. Jahrhunderts aus der Physik entstand, Relativitätstheorie und Quantenmechanik, entspringt erst das harte Kriterium der Falsifizierbarkeit. Es dient u.a dazu, Argumenten dort Absagen zu erteilen, wo Schlußfolgerungen, in manch hermetisch praktizierter Beweisführung, über die Grenzen des in der jeweiligen Disziplin angewandten Axiomensystems hinauszutreten suchen und damit den Horizont der Wissenschaftlichkeit verlassen würden. Der Wiener Kreis hat darauf hingewiesen, daß mit der empirisch erfassbaren, relativen Häufigkeit, synthetische a priori an Stellung verlieren würden. Der Schluß von gestern auf Morgen, von Hier auf Dort, die Induktion, besäße exakte Gültigkeit ausschließlich dort, wo eine (falsifizierbare, dh. grundsätzlich widerlegbare) Gesetzmäßigkeit festzustellen ist. 

Die Rückführung der Wahrscheinlichkeit zur empirischen Überprüfbarkeit solle allerdings aus wissenschaftlicher Sicht nicht dazu verleiten (anhand der Axiomatik einer Disziplin, samt der Zuordnung ihrer Definitionen, expliziter und impliziter) ein Forschungsgebiet nur deshalb zu verwerfen, weil es 'mit unzulänglichen, logisch ungenügend geklärten oder empirisch ungenügend begründeten Mitteln errafft worden ist' (Carnap, Hahn, Neurath, zur wissenschaftlichen Weltauffassung, 1929). So wäre die Meinung nach wie vor zulässig, Soziologie, Gender-Studies, Media Theory und andere Hybride zwischen den klassischen Disziplinen, ob inter- oder transdisziplinär, dürften als wissenschaftlich betrachtet werden, so lange die inhärente Axiomatik und moderne Logik nicht ins Nebulöse geführt sind. 

So ist moderne Wissenschaftlichkeit adhoc kaum an der Zuordnung zu einer Disziplin abzulesen, vielmehr an der angewandten Praxis. Beim trans- und interdisziplinären Arbeiten in den erst neuerdings abgesteckten Forschungszweigen, ist es kaum auszuschließen, daß manche Verwirrung schon alleine ob unterschiedlicher Begriffsbildungen besteht. Umso genauer wären in der Praxis angewandte Definitionen zu prüfen, bevor ans Falsifizieren gedacht werden kann. In der empirischen Untersuchung bestimmt nicht zuletzt die Wahl des 'Freiheitsgrades (prozentuelle Unsicherheit)', mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Gesetzmäßigkeit festzustellen wäre und somit die Güte einer Aussage. 

Ich meine, 'Exaktheit' betrifft hier nicht alleine die wissenschaftliche Deutungshoheit, sondern zuvorderst die Relevanz der gestellten Fragen in Bezug auf nachvollziehbare Argumentationslinien und demenstprechendes Schlußfolgern. Dieser [Sex : Gender]-Rohrpostthread würde nicht stattfinden, träfe dieser nicht Definitionsprobleme, die konkret von unterschiedlichen Disziplinen abhängen. Es empfiehlt sich strenge naturwissenschaftliche Kriterien (höchste messbare Wahrscheinlichkeit) dort zur verlangen, wo auch anwendbar. Wo die Instrumentarien (noch) nicht so weit reichen, manche Definition wenig nachhaltig bleibt, auch absurde Fragestellungen auftauchen, nicht nachvollziehbare Schlüße gezogen werden, bleibt uns zum Trost weiterhin der methodische Zweifel und das Plädoyer, den nicht ganz so exakten Wissenschaften nicht per se eine Wissenschaftlichkeit absprechen zu wollen, sondern am Detail die Zuverlässigkeit zu prüfen.

Beste Grüße
Mic Mikina