[spectre] Utopie, Polit-Technologie und schwarze Magie

Soenke Zehle soenke.zehle at web.de
Mon Aug 22 11:21:41 CEST 2005


Russisches Internet (RuNet):Utopie, Polit-Technologie und schwarze Magie
von Henrike Schmidt / Katy Teubener
Informationstechnologie = Befreiungstechnologie? Historischer Vorlauf

<http://parapluie.de/archiv/pakt/runet/>

Im Jahr 1949 riefen die transatlantischen Verbündeten die so genannte 
'Cocom-Initiative' ins Leben: diese stellte eine Liste derjenigen Güter 
zusammen, die einem Import-Embargo in die Länder des Warschauer Paktes 
unterlagen. Durch das Embargo sollte die ökonomische und militärische 
Entwicklungsfähigkeit des Ostblocks geschwächt werden. Als besonders 
heißes Gut galt die Informationstechnologie. Denn ohne die Entwicklung 
einer leistungsfähigen kommunikativen Infrastruktur sei langfristig kein 
Staat zu machen, geschweige denn ein Bündnis zu sichern. Die 
Cocom-Initiative gehört zu den wenigen erfolgreichen Beispielen für ein 
politisch motiviertes Embargo: die Computerindustrie in den Staaten des 
Warschauer Paktes und in der Sowjetunion im besonderen litt schwer unter 
den Einfuhrbeschränkungen. Im Land selbst gelang es nicht, diesen 
Wettbewerbsrückstand auszugleichen und eine konkurrenzfähige 
Informationstechnologie als Wissenschaftszweig und Produktionslinie zu 
etablieren, anders als dies in der konventionellen und atomaren 
Wehrtechnik oder dem Prestigeobjekt kosmische Raumfahrt der Fall war. 
Das wissenschaftliche Potential war dabei durchaus vorhanden. Doch zu 
brenzlig war der Stoff der Informationstechnologien, als daß man ihn den 
so genannten 'kreativen Kollektiven', die in den 1960er Jahren den 
Aufbruch in ein stärker selbstbestimmtes wissenschaftliches Arbeiten und 
Produzieren wagten, überlassen wollte. An die Stelle kreativer 
wissenschaftlicher Arbeit trat eine staatlich verordnete Kultur der 
Raubkopie, schrieb Juri Rewitsch vor einigen Jahren in der russischen 
Zeitung Iswestja.

Im Jahr 1991 brach die Sowjetunion zusammen. Damit war auch das Ende des 
Warschauer Paktes gekommen. Namhafte Soziologen wie Manuel Castells 
gehen davon aus, daß die Unfähigkeit der Sowjetunion, auf die 
Anforderungen des Informationszeitalters zu reagieren, ihren endgültigen 
Fall heraufbeschworen hat. Ein Erklärungsansatz, der seine Berechtigung 
hat. Der Wandel von der industriellen zur informationellen Wirtschaft 
sei nicht nachvollzogen worden, was zum ökonomischen Zusammenbruch 
führte. Man könnte das Argument dahingehend ausweiten, daß die 
gesellschaftlich Flexibilität im Ganzen fehlte, mit deren Hilfe die 
Modernisierungsschübe des ausgehenden 20. Jahrhunderts bewältigt werden 
konnten. Den Herausforderungen der Informatisierung und der 
Globalisierung hatte das verkrustete Sowjetsystem nichts 
entgegenzusetzen. Die Förderung des Internet in Rußland durch 
amerikanische staatliche und gesellschaftliche Institutionen ist dabei 
durchaus im Sinne einer Befreiungstechnologie zu sehen. Programmatisch 
nannte sich eine der ersten dieser Initiativen aus dem Jahr 1990 
'GlasNet', gefördert von der amerikanischen Association for Progressive 
Communications Organisation. Glasnost und Network galten als die Zutaten 
des technologischen Wundermittels. Und in der Tat ist beispielsweise das 
(geistes)wissenschaftliche Internet in Rußland ohne das Engagement des 
Mäzen George Soros nicht zu denken. In den Jahren von 1996 bis 2001 
förderte die Soros-Stiftung Open Society die Einrichtung von 
Internet-Zentren an über 30 Hochschulstandorten in Russland, von 
Jaroslawl bis zum Altai. Insbesondere in der Frühzeit der Verbreitung 
des Mediums im Land ist die Bedeutung dieser Fördermaßnahme angesichts 
geringen staatlichen Engagements kaum zu überschätzen.

Im Jahr 2005 bricht die Sowjetunion ein zweites Mal zusammen. Die 
gesellschaftlichen Umbrüche in Georgien, der Ukraine, Kirgisien, 
Usbekistan und Moldawien gehen einher mit einer Abwendung von Rußland, 
die in ihrer Radikalität über eine neue Qualität verfügt. Wieder spielen 
die Informationstechnologien -- nicht zuletzt das Internet -- eine 
zentrale Rolle: per Weblog wird von den Massen-Demonstrationen aus Kiew 
nach Rußland berichtet; die einzigen Medien, die halbwegs aktuell und 
objektiv aus den belagerten Städten Usbekistans berichteten sind 
Internet-Zeitschriften. Die amerikanische Einflußnahme auf diese 
Prozesse wird im übrigen von einigen russischen Intellektuellen nicht zu 
Unrecht auch kritisch im Sinne einer Fortführung der 
US-Interessenspolitik mit anderen Mitteln interpretiert. Die massive 
Unterstützung beispielsweise der Oppositionsbewegungen in Georgien oder 
der Ukraine, aber auch in Kirgisien, durch amerikanische Institutionen 
werden interpretiert als der Versuch, langfristig geopolitische 
Positionen zu sichern, wie der Direktor des Instituts für politische 
Soziologie Wjatscheslaw Smirnow im Interview mit der Internet-Zeitung 
Russisches Journal darlegt. Unabhängig von der jeweiligen Wertung der 
Vorgänge gerät Rußland, dessen offizielle Repräsentanten sich zunehmend 
in der Rechts- und Kulturnachfolge der Sowjetunion sehen und immer 
weniger Kurs auf eine postsowjetische Zukunft nehmen, durch die 
dramatischen Entwicklungen an seiner Peripherie zunehmend unter Druck.

Viel Feind, viel Ehr -- von der tatsächlichen Bedeutung des Mediums 
Internet als einer Befreiungstechnologie zeugen die Äußerungen seiner 
Widersacher. Im April 2005 berichtet der hochrangige Offizier des 
Nachrichtendienstes Frolow dem russischen Föderationsrat zur Lage der 
Nation und zum Infektionspotential durch die revolutionären Umbrüche in 
'Rußlands Hinterhof': das Internet habe in Rußland eine solche Stärke 
erreicht, daß es erfolgreich Meinungsmacht generiere. Frolow nimmt 
explizit Bezug auf die Entwicklungen in der Ukraine und in Georgien, die 
maßgeblich durch einen geschickten Einsatz moderner Kommunikationsmedien 
gekennzeichnet seien. Und fordert eine Kontrolle des Internet in 
Rußland, bis hin zu einer Registrierung der UserInnen.

Die Ankündigung rief in den russischen Internet-Medien selbst eine 
heftige Reaktion hervor. Vergleichbare Drohungen einer staatlichen 
Regulierung oder sogar Zensur des russischen Internet haben schon fast 
Tradition, derart freimütige Äußerungen eines FSB-Offiziers, von manchen 
Kommentatoren als offener Verfassungsbruch gewertet, sind jedoch ein 
ernstzunehmendes Warnzeichen. Trotzdem werden die Ankündigungen Frolows 
mit beißendem Spott über seine Naivität, die eine totale Unkenntnis des 
Mediums offenbare, begleitet. Der Internet-Journalist Waleri Panjuschkin 
bemitleidet die Nachrichtendienstler gar, die tagein tagaus die 
E-Mail-Korrespondenz zu kontrollieren hätten. Denn eine totale Kontrolle 
des Internet sei rein technisch gar nicht möglich. Der Aktivismus 
Frolows und Konsorten ist dennoch besorgniserregend, schreibt 
Panjuschkin, denn er zeugt von einer Geisteshaltung, die wieder 
zunehmend auf Kontrolle setzt, um die eigene Position der Schwäche zu 
übertünchen. Eine technische Kontrolle ist aber effektiv nur da 
umzusetzen, wo die Gedanken der Menschen gleich mit kontrolliert werden, 
so der Journalist. Auf Dauer sei eine Reglementierung der Medien nur um 
den Preis eines Rückschritts ins Informations-Steinzeitalter möglich, 
meint auch sein Kollege Dmitri Butrin. Neben dem Internet hat Butrin 
dabei insbesondere den Mobilfunk im Auge, denn Handys werden nicht nur 
in den Metropolen mittlerweile exzessiv genutzt. Die derzeitige 
russische Regierung sieht sich damit einem klassischen Zielkonflikt 
gegenüber. Um den Anschluß an die globalen Entwicklungen nicht zu 
verlieren -- schließlich ist die Isolation der Sowjetzeit ein für alle 
mal passé -- ist die Förderung der Telekommunikationstechnologien nötig, 
zumal sie über den Konsum auch dringend benötigte Wachstumsraten 
verspricht. Eine politisch eigenständige -- möglicherweise sogar 
widerständige -- Nutzung des Mediums ist hingegen nicht im Sinne der 
Regierung unter Wladimir Putin.
Wer macht die Meinungsmacht im russischen Internet?

Wer aber macht die vom Nachrichtendienstler Frolow angeführte 
Meinungsmacht im russischen Internet, das mit einer Reichweite von circa 
15 Prozent der Bevölkerung möglicherweise die kritische Masse erreicht 
hat, um mit dem Fernsehen als Leitmedium zu konkurrieren? Tatsächlich 
zeichnet sich das russische Internet -- auch im westlichen Vergleich -- 
durch eine Vielzahl von 'originären' elektronischen Tageszeitungen aus, 
d.h. von Ressourcen, die kein Offline-'Muttermedium' in Form einer 
Zeitung, eines Fernseh- oder Radiosenders besitzen. Diese berichten 
kritisch und unabhängig über nationale und internationale Politik. 
Unabhängig bedeutet dabei in erster Linie 'nicht staatlich finanziert', 
denn viele dieser E-Journals leben von politischem Geld, allerdings dem 
der so genannten 'gefallenen Oligarchen'. So ist es ein offenes 
Geheimnis, daß die populäre und auch im Westen oft zitierte 
Internet-Zeitschrift Gazeta.ru dem heute wohl bekanntesten politischen 
Gefangenen Rußlands, Michail Chodorkowski, nahe steht. Grani.ru, mit 
circa 20 000 Besuchern pro Tag gleichfalls eine der zentralen 
Informationsplattformen, wird von dem im Londoner Asyl lebenden Boris 
Berezowski finanziert. Das politische Internet, so der Historiker und 
Analyst Dmitri Iwanow, stellen in Rußland eben die Netz-Medien dar -- 
und nicht die Websites politischer Institutionen oder Akteure.

Neben den E-Journals im engeren Sinne spielen natürlich auch in Rußland 
die Weblogs eine zunehmende politische und gesellschaftliche Rolle. Der 
russische Internet-Forscher Jewgeni Gorny geht davon aus, daß die 
russische Mentalität mit ihrem stark ausgeprägten kollektivistischen 
Charakter die Nutzung dieses Kommunikationsgenres sogar besonders 
befördere. Besonders beliebt ist der Blogger-Service der amerikanischen 
Site Livejournal.com, die als quasi exterritorialer Raum auch künftig 
vor Zensur schütze. Jüngst hat die populärste russische Suchmaschine 
Yandex.ru einen neuen Service eingerichtet, eine Suchfunktion speziell 
für Blogs. Bisher sind rund 100 000 russische Blogs indiziert, auf die 
nun per Suchbegriff zugegriffen werden kann:

In der Tat ist der neue Such-Service ein Instrument der Navigation durch 
die öffentliche Meinung im Internet, mit dessen Hilfe wir der sozialen 
Bedeutung Rechnung tragen wollen, die den Blogs von vielen 
Internet-Nutzern heute zugesprochen wird, so Projekt-Manager Andrei 
Sadowski.

Ungeachtet der offensichtlich wachsenden Bedeutung des Internet als 
Medium einer kritischen und alternativen Öffentlichkeit in Rußland, 
versteht sich die Szene selbst in weiten Teilen keinesfalls als 
Opposition. Während sich -- leicht zugespitzt -- die westliche 
Netzöffentlichkeit mit wohligem Kampfgeschrei in das virtuelle Getümmel 
stürzte und gegen Kommerzialisierung, Regulierung und 
Instrumentalisierung des Freiraums Internet mobilisierte, bleiben die 
Artikulationen der russischen Netzkultur vergleichsweise still und 
bescheiden, ungeachtet ihrer ja von höchster Instanz -- den 
Nachrichtendiensten -- bestätigten Effizienz. Richard Barbrooks Manifest 
des Cyber-Kommunismus oder Anarcho-Kommunismus, um nur einen populären 
Ansatz zu nennen, stößt in der 'Heimat' des real existierenden 
Sozialismus auf eine Mischung von Amüsement und offener Ablehnung. Die 
wohl erfolgreichste Kampagne des russischen Internet, die auch 
internationale Aufmerksamkeit erregte, war im Jahr 2004 
bezeichnenderweise die 'Stop-Barbie-Aktion'. Als Protest gegen die 
Dominanz globaler Wert- und Schönheitsmaßstäbe unterstützte die 
Netz-Gemeinschaft eine Kandidatin im Kampf um die nationale Nominierung 
für die Miss-Universe-Wahlen, die keinesfalls über die standardisierten 
Garde-Maße verfügte. Die Resonanz war groß und demonstrierte das 
Mobilisierungspotential. Die interaktive Abstimmung zugunsten von Aljona 
Pisklowa, der Undercover-Schönheitskönigin, wurde sogar als 
basisdemokratischer Wahlsieg gefeiert. Die ungefähr zeitgleich 
verlaufende Aktion des Netz-Aktivisten Oleg Kirejew, der zum Boykott der 
Präsidentschaftswahlen aufrief, verhallte dagegen weitgehend ungehört 
und wurde von den Netz-Kollegen bisweilen nachgerade belächelt.

Show also statt Substanz? Oder Information statt Agitation? Als Beispiel 
für letztere Herangehensweise kann der informationspolitische 
Nachrichtenkanal Polit.ru gelten, der im Jahr 1997 gegründet wurde und 
heute zu den Veteranen im Geschäft gehört. In ihrer Grundsatzerklärung 
beklagt die Redaktion die Verlogenheit der offiziellen Politik und will 
dieser eine neue, selbst bestimmte Agenda entgegenstellen. 
"Authentizität" ist das Ziel, in Abgrenzung von den "sekundären" 
Retorten-Produkten der offiziellen Medien. Zu diesem Zweck soll auch 
eine "neue" Sprache entwickelt werden, die in der Überwindung der 
offiziellen Rhetorik eine gesellschaftliche Diskussion erst möglich macht.

     "Die Beziehungen der rußländischen Bürger zu ihrer Geschichte und 
zu ihrem Land sind heute nicht einfach. Die ideologische Sphäre ist im 
Ganzen mit sekundären Produkten überfüllt, unter anderem aufgrund der 
Unsinnigkeit und der beabsichtigen Lüge von Seiten der politischen 
Sphäre. Wir wollen mit echtem Inhalt arbeiten, und deshalb interessiert 
uns die Aufgabe der Entwicklung von Themen für die politische 
Tagesordnung sowie die Entwicklung einer Sprache für die 
gesellschaftlich-politischen Diskussionen. Dabei verstehen wir sehr 
wohl, daß man Ideologie nicht fälschen kann, dieses Produkt entsteht nur 
im Zuge einer gesellschaftlichen Diskussion."

Mit rund 30 000 LeserInnen pro Tag gehört Polit.ru zu den populärsten 
E-Journals des russischen Internet -- und gibt sich damit nicht 
zufrieden. Das Internet ist nur ein wichtiger Bestandteil eines 
alternativen Kulturraums mit Buchhandlungen, Klubs und eigenem Verlag, 
hinter dem der Philologe und Verleger Dmitri Itzkowitsch steht. Zur 
spezifischen Mission von Polit.ru & Co. äußerte er sich im Jahr 2001 im 
Interview mit der Journalistin Olga Kabanowa folgendermaßen:

     "So einzigartig [Polit.ru] war, so einzigartig bleibt es auch. 
Welche Internet-Projekte kennen Sie denn noch, die sich ausschließlich 
intellektuell engagieren? [...] Für mich ist das Projekt Polit.ru eine 
prinzipielle Plattform, ein Vorposten meiner Weltanschauung. Wir sind 
doch Leute, die sich Räume aneignen. Obwohl ich selbst da keine 
speziellen Ambitionen hege. Verliefe das Leben anders -- in 
demokratischen Institutionen, in einer Bürgergesellschaft, -- ich bin 
nicht sicher, ob meine Business-Aktivitäten solche wären wie jetzt. 
Warum auch?"

Programmatisch ist in diesem Sinne die Veranstaltungsreihe der 
"Öffentlichen Lesungen", die Polit.ru regelmäßig im hauseigenen 
Kult-Klub Bilingua durchführt. Hier stehen Historiker, Ökonomen, 
Soziologen, Kulturwissenschaftler und Politiker Rede und Antwort zu 
ihren Vorstellungen über die Perspektiven des Landes. Ungeachtet des 
ambitionierten und explizit 'ideologischen' Anspruchs, der in der 
Berichterstattung und der Tätigkeit der von Polit.ru auch eingelöst 
wird, will man jedoch keine Opposition sein und schon gar keine 
Gegenkultur, wie der Chefredakteur der Ressource Witali Lejbin im 
Frühjahr 2005 im persönlichen Gespräch deutlich macht. Persönliches 
Understatement oder politische Pragmatik?
Das Internet als Naturreservat

Die Gründerzeit des russischen Internet, von seinen Protagonisten 
bisweilen fast zärtlich 'RuNet' genannt, fällt in die Mitte der 1990er 
Jahre, in denen sich auch Polit.ru formierte. Das Medium wurde zum 
Symbol der Aufbruchsstimmung der Perestroika, zum Inbegriff für freie 
und uneingeschränkte Selbstentfaltung und Kreativität im globalen 
Kontext. Das Netz ist das 'natürliche' Medium der Selbstentfaltung. 
Man(n) -- der überwiegende Teil der RuNet-Elite ist männlich -- war in 
seinem ureigenen Element angekommen. Die Exklusivität des Nutzer-Kreises 
-- zu diesem Zeitpunkt geschätzte drei bis vier Prozent der russischen 
Bevölkerung, der überwiegende Teil davon Akademiker und Journalisten in 
den Metropolen und der Emigration -- verlieh dem Ganzen Klub-Charakter, 
im Russischen auch tusowka genannt. In diese Zeit der Erfahrung des 
Internet als einem "anderen Raum" (Jewgeni Gorny), der tatsächlich kaum 
Berührungspunkte aufwies mit dem realen Leben, fällt die Entstehung fast 
aller wichtigen kulturellen und politischen Webressourcen. Die 
Internet-Zeitschriften Zhurnal.ru und Russki zhurnal, Polit.ru, Lenta.ru 
und Gazeta.ru entstanden in den Jahren von 1997-1999. Die Internationale 
Vereinigung der russischen Internet-Gemeinschaft Ezhe.ru gründete sich 
in dieser Zeit ebenso wie die beiden, heute allerdings weitgehend 
leblosen, Internet-Akademien. Auch die Gründerväter selbst sind heute 
Berühmtheiten aus quasi mythischer Vorzeit, viele dabei nach wie vor 
erfolgreich im Netz aktiv. Was als Hobby -- oder als rein ästhetisches 
Vergnügen -- begann, wurde für viele eine auskömmliche Profession.

Das RuNet stand also bis in die späten 1990er Jahre aufgrund der 
Schwierigkeiten der Transformationsperiode im gesellschaftlichen 
Schatten, von den Verantwortlichen in Staat und Wirtschaft weitgehend 
übersehen. Insofern entwickelte sich hier, fernab politischer oder 
ökonomischer Instrumentalisierung, wirklich eine 'andere Welt', die dem 
freien Spiel der kreativen Kräfte einen 'Ort' zur Verfügung stellt. Im 
Editorial zur ersten Ausgabe der Netzzeitschrift Russisches Journal 
schreibt deren Gründer und Chefredakteur Gleb Pawlowski im Jahr 1997:

     "Die Frage eines Ortes für den Austausch von Ideen und Fragen ist 
für die Länder der russischen Sprache heute sogar wichtiger als das 
Recht der Gemeinschaften und der Individuen auf Selbstdarstellung; 
dieser Ort ist akut renovierungsbedürftig.
     Das Russische Journal will einen solchen Ort schaffen, und keinen 
Schutz- oder Fluchtraum. Zuerst der Ort, dann die Gemeinschaft -- das 
russische Internet zeichnet sich dadurch aus, daß sich in ihm wie im 
silurischen Meer noch nicht die häßlichen Geschöpfe der 'oberen Welt' 
vermehrt haben."

Die Metaphorik des Textes, geprägt von der Euphorie des Beginns, ist 
aussagekräftig. Das Internet als quasi natürlicher Raum, als Meer der 
Urzeiten, ist noch "rein" und "unbesiedelt". Wie sich diese Utopie des 
Internet als eines Reservoirs für widerständige und kreative Kräfte 
unter dem Druck der Kommerzialisierung verändert, läßt sich in den 
Nekrologen auf die frühe westliche Netzkultur nachlesen. In dieser 
Hinsicht verläuft die Entwicklung auch in Rußland nicht anders, mit dem 
gravierenden Unterschied, daß sich parallel zur (bisweilen noch 
zögerlichen) Kommerzialisierung mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts 
erneut eine politische Verschärfung der Lage manifestiert. Seit dem 
Machtantritt Wladimir Putins sind die russischen Medien in weiten Teilen 
unter die staatlichen Fittiche zurückgeholt worden. Insbesondere das 
Fernsehen steht im Mittelpunkt dieser Bemühungen, in einem weniger 
ausgeprägten Maße die Printmedien. Das Internet -- ungeachtet der oben 
erwähnten Diskussionen über eine mögliche Regulierung -- ist jedoch bis 
heute in der Tat unzensiert. Es bleibt ein freier Raum, doch ist es noch 
ein 'anderer' Raum? Der Eskapismus und Hedonismus der russischen 
Netzelite wird zunehmend bedroht -- und herausgefordert. Bleibt die 
Frage, ob man sich im Netz eine bequeme Nische sucht, oder aber diese 
verläßt. Der Herausforderung zur Verteidigung ihrer Freiräume stellen 
sich die Netz-Aktivisten nur ungern. Genauer gesagt, sie stellen sich 
ihr in der Praxis, lehnen aber eine publikumswirksame Etikettierung als 
Opposition oder Gegenöffentlichkeit ab.
Nicht-Opposition!

Exemplarisch verdeutlicht diese Ablehnung des Oppositionsgedankens das 
Projekt 'Rußland 2', initiiert und realisiert im Frühjahr 2005 von dem 
Galeristen, Kulturpolitiker und 'Polit-Technologen' Marat Gelman. Auf 
der Homepage der Initiative wird der Mangel einer politischen Kultur im 
Lande beklagt, ein Vakuum intellektueller Energie. Es fehle die Luft zum 
Atmen. Welche Optionen stehen den russischen Intellektuellen angesichts 
dieser Situation (nicht) zur Verfügung? Kooperation mit dem Staat -- 
unmöglich aufgrund von dessen Nicht-Reformierbarkeit und 
Abgeschlossenheit. Opposition -- unmöglich, weil unfruchtbar und 
unwirksam. Emigration oder Untergrund -- in persönlicher und politischer 
Hinsicht unbefriedigend und nicht zielführend. Wo liegt der Ausweg? In 
dem Aufbau einer unabhängigen kulturellen Infrastruktur, eines 
Parallel-Universums, das über eigene Medien, Künste, Institutionen 
verfügt. Territorial im Lande angesiedelt, stellt dieses 'Rußland 2' 
keine Insel dar, sondern eine Enklave -- die klassische Utopie vom 
'anderen' Ort wird in den Staatskörper selbst verlagert. Erst wenn das 
hierarchische, vertikale und autoritative System des offiziellen Rußland 
zusammenbreche -- was unausweichlich früher oder später der Fall sein 
werde -- trete Rossija 2 an seine Stelle. Der Gedanke der Opposition 
jedoch wird von 'Rußland 2' strikt zurück gewiesen:

     "'rußland 2' ist in gar keinem fall ein oppositionelles projekt, 
zumal der überwiegenden mehrheit der bevölkerung des landes das 
'putin-rußland' ja gefällt. so soll es dann eben sein. das künstlerische 
projekt 'rußland 2' soll ganz einfach die existenz eines anderen landes 
in den gleichen grenzen fixieren: eines freieren, internationaleren, 
kritischeren landes, das die souveränität der person und die freiheit 
der schöpferischen tätigkeit verteidigt.
     bei aller fremdheit von 'rußland 2' und 'rußland 1' ist dieses doch 
kein oppositionelles oder dissidentisches projekt, sondern existiert 
ohne alle präfixe im sinne eines nicht-, kontra-, unter-, gegen-: es 
hält einfach die Distanz."

Das Internet, es liegt auf der Hand, ist ein nicht unwichtiger Punkt auf 
der Karte dieses 'Landes im Land'. Dabei ist 'Rußland 2' keineswegs ein 
reines Netzprojekt, nutzt jedoch die Möglichkeiten der Organisation, der 
Repräsentation und der Vernetzung im Web, beispielsweise über die 
Erstellung eines interaktiven Katalogs kooperierender Ressourcen. Das 
Internet ist Aktionsraum, aber in gewisser Hinsicht auch Kulturmodell. 
Deutlich wird dies in der Gegenüberstellung der Parameter von 
Horizontale und Vertikale: Das starr hierarchisch organisierte System 
von 'Rußland 1' unter Wladimir Putin läßt sich sinnbildlich in den 
präsidialen Euphemismus von der 'Machtvertikale' fassen, während das 
alternative 'Rußland 2' durch seine vernetzten Strukturen und seine 
Interaktivität gekennzeichnet ist. Dies sind positive Epitheta einer 
'Netzkultur', die sich jedoch keinesfalls auf das Internet beschränkt. 
Der Gedanke des Internet als Kulturmodell mit seinen Eigenschaften der 
kooperativen Ästhetik und der flachen Hierarchien läßt sich on- wie 
offline gleichermaßen realisieren. Die Auftaktveranstaltung fand 
dementsprechend in Form einer Ausstellung zeitgenössischer Kunst im 
Zentralen Künstlerhaus in Moskau statt.
Die Hypothek der Sowjetära -- Dissidenz und Ent-Ideologisierung

Warum jedoch diese komplizierte Konstruktion einer Nicht-Opposition, wo 
doch durchaus Opposition -- im westlichen Sinne -- ausgeübt wird? Woher 
rührt dieser Unwillen gegenüber "Präfixen" oder Etiketten? Woher stammt 
dann dieser Wunsch nach "Reinheit" und "Ursprünglichkeit"? Warum diese 
betonte Ablehnung der Dissidenz? Könnte das Internet angesichts der sich 
verschärfenden Machtansprüche des Staatsapparates nicht gerade ein 
zentrales Betätigungsfeld für eine Neuauflage der Bürgerrechtsbewegung 
darstellen?

Offensichtlich ist die sowjetische Dissidenz jedoch kein Modell für die 
heutige kritische Netz-Öffentlichkeit in Rußland. Zu sehr richtete sich 
diese in ihrem bürgerrechtlichen Engagement wie in ihren ästhetischen 
Abgrenzungsversuchen gegen die Staatsmacht. Und reproduzierte damit, so 
die herrschende Re-Interpretation der nachfolgenden Generation, die 
Werte des Systems lediglich mit einem negativen Vorzeichen. Beide 
Ansätze waren zutiefst ideologisch ausgerichtet und geprägt. Wirksame 
'Aktion' hingegen war unmöglich. In der Zeit der Perestroika stand die 
russische intelligenzija dann zwar bereit zur Übernahme politischer 
Verantwortung, doch wurden ihre Hoffnungen enttäuscht -- nicht zuletzt 
aufgrund der geplatzten Utopie eines nunmehr konkret 'erfahrbaren' 
Westen. Die hehren Worte der 'Demokratie', 'Opposition', 'soziale 
Marktwirtschaft' verloren als Westimporte und ideologische Worthülsen 
rapide an Wert.
Polit-Technologie und schwarze Magie

Ent-Ideologisierung mag ein nachvollziehbarer Impuls und ein hehres 
Anliegen sein. An der postulierten Distanz zwischen 'Rußland 1' und 
'Rußland 2' darf allerdings mit einem Blick auf die professionelle 
Biographie seines Initiators Marat Gelman mit Fug und Recht gezweifelt 
werden. Der Galerist gehört zu den wohl umstrittensten Figuren der 
russischen (Netz)Kultur, mehrte er doch seinen Ruhm in den vergangenen 
Jahren mehr als Polit-Technologe denn als Galerie-Besitzer. Gemeinsam 
mit dem einst als "grauer Kardinal" des Kreml berühmten Gleb Pawlowski, 
seines Zeichens Chefredakteur des Russischen Journals, gründete er im 
Jahr 1995 die Stiftung für effektive Politik. Die Stiftung konzipierte 
und realisierte staatlich anerkannte 'Content-Projekte' und 
Internet-Medien, organisierte erfolgreich Wahlkampagnen unter anderem 
für Boris Jelzin und Wladimir Putin und baute politische Parteien 
'schlüsselfertig', in Rußland und der Ukraine. 2002 trennte sich der 
Galerist, der russischen Aktionskünstlern wie Awdej Ter-Oganjan oder 
Oleg Kulik zum internationalen Durchbruch verholfen hatte, von der 
Stiftung und wechselte als Medienanalyst und Berater zum staatlichen 
Fernsehen. Hier kündigte er im Frühjahr 2004 und widmete sich fortan 
wieder verstärkt der kulturellen Arbeit -- darunter dem 
Parallel-Universum 'Rußland 2'. "Als Rückkehr zu den Dissidenten" 
betitelten die Journalisten Arina Borodina und Viktor Chamraev diese 
erneute Kehrtwendung im Leben des Polit-Künstlers Marat Gelman. Im 
übrigen pflegt auch sein (Ex)Partner Pawlowski, der noch zu 
Sowjet-Zeiten wegen Tätigkeit im Samizdat im Lager einsaß, eine 
sorgfältig gestaltete dissidentische Biographie. Angesichts der oben 
zitierten dezidierten Abgrenzung des Gelmanschen Projekts von der 
Tradition der Dissidenz erfüllt dies mit Erstaunen. Polit-Technologe, 
Dissident, Galerist, alternativer 'Kulturträger'? Gelman selbst spricht 
von einer zunehmenden Lust am Spiel mit seinen verschiedenen 
Identifikationen. Der Netz-Aktivist Oleg Kirejew, einer der wenigen 
Vertreter einer im westlichen Sinne politisch aktiven Netz-Kunst, 
kritisiert diese jüngste Wandlung vom Polit-Technologen zum Regimegegner 
als oberflächlich bis gefährlich. Zu lange habe sich Marat Gelman auf 
Augenhöhe mit den Mächtigen bewegt, um nun angesichts ihrer radikalen 
politischen Pragmatik den Erstaunten zu spielen.

Aber was genau steckt eigentlich hinter dem in russischen (Netz)Kreisen 
so populären wie schillernden Begriff des Polit-Technologen, der im 
westlichen Sprachgebrauch so keine Analogie zu haben scheint? Ein 
Polit-Technologe stellt den Politikern beratend Werkzeuge für die 
Realisierung ihrer strategischen Ziele zur Verfügung. Er identifiziert 
sich nicht zwangsläufig mit den vermittelten Inhalten und politischen 
Botschaften, sondern konzentriert sich auf erfolgreiche politische PR. 
Marat Gelman vergleicht die Tätigkeit des Polit-Technologen nüchtern mit 
der eines Anwaltes, der gleichfalls nicht mit seinem Klienten 
sympathisieren müsse, um ihn zu verteidigen. In der Wahrnehmung der 
russischen Netz-Gemeinschaft ist der Polit-Technologe jedoch zum Mythos 
geworden. Mit demiurgischen Kräften ausgestattet wird er zu einem Magier 
des Informationszeitalters, sein wirksamstes Mittel ist die 'schwarze PR'.

Ungeachtet der bis heute vergleichsweise geringen Verbreitung des 
Internet in Rußland spielt das Medium für die politische PR tatsächlich 
eine nicht geringe Rolle. Gerne werden kompromittierende Materialien und 
Falschmeldungen im Internet lanciert, die dann in den traditionellen 
Medien aufgegriffen werden. Was sich im 'natürlichen' Raum des Internet 
zunächst als l'art pour l'art entwickelte, wurde zunehmend kommerziell 
und politisch nutzbar. Die Kreativität, das spielerische Denken, die 
Fähigkeit der Vernetzung -- alles genuine Eigenschaften der russischen 
Netz-Elite, die nun als Rohstoff der politischen Manipulationskunst dienten?

'Schwarze PR' rückt so in der mythischen Beschwörung durch die 
Netz-Gemeinschaft in die Nähe der Schwarzen Magie. Sie erhält einen 
Touch von Konspiration und Verschwörung, der mittlerweile in 
literarischen Verarbeitungen lustvoll in Szene gesetzt wird. So zum 
Beispiel in dem Roman Golem, die russische Version von Andrei Ljewkin, 
in dem ein Polit-Technologe -- angeblich dem Vorbild Gleb Pawlowskis 
nachempfunden -- eine zentrale Rolle spielt. Der Golem manipuliert im 
Dienste seiner politischen Herren die öffentliche Meinung, ist jedoch 
selbst auch Instrument. Der Autor weiß, wovon er schreibt, auch wenn 
sein Roman keinesfalls als autobiographisch interpretiert werden sollte. 
Er arbeitete zunächst als politischer Kommentator für Polit.ru und 
realisierte später im Auftrag der Stiftung für effektive Politik 
erfolgreich weitere Internetprojekte. Ljewkin siedelte erst in den 
1990er Jahren nach Moskau über. Im Jahr 2001 erhielt er den renommierten 
Andrei-Bely-Literatur-Preis, eine alternative Literaturauszeichnung mit 
dem symbolischen Preisgeld von einem Rubel, für seine frühen 
Erzählbände. Zuvor hatte er in Riga (Lettland) maßgeblich Anteil an der 
alternativen Kulturszene. Heute ist er als politischer Kolumnist für 
zahlreiche Netz-Zeitungen tätig.

Der Golem, russische Version kann als schillernde Figur stellvertretend 
für die Ambivalenzen der russischen Netzkultur stehen. Der 
Literaturwissenschaftler Sergei Denisow sieht die Frage des 
Verhältnisses der Kultur zur Macht als das zentrale Thema des Romans. 
Bereits in den frühen 1990er Jahren hatte der auch im Westen vielfach 
übersetzte und bekannte Autor Viktor Pelewin diesen Motiv-Komplex der 
'schwarzen' politischen PR und der elektronischen Medien zwischen 
demiurgischem Schöpfertum und menschlicher Hybris, technologischer 
Innovation und Manipulation so unterhaltsam wie treffend geschildert.

Im Internet -- oder breiter gefaßt in den Neuen Medienwelten -- 
verwischen die Grenzen zwischen Fiktionalität und Faktizität zusehends. 
Die Golems, so scheint es, verlassen den Bereich der Literatur und 
siedeln sich im 'realen' (Netz)Leben an. Die Biographie wird zum 
Gesamtkunstwerk, das sich Ansätze der Dissidenz ebenso einverleiben und 
anverwandeln kann wie die schwarze Magie der Polit-Technologie. Marat 
Gelman, immer gut für einen signifikanten Slogan, prägte in den 1990er 
Jahren das Schlagwort von der "Ästhetik des Engagements", in Anlehnung 
an die amerikanische Literaturkritikerin Suzi Gablik. Ursprünglich war 
damit eine politisch und sozial engagierte Kunst gemeint, wie sie in der 
Galerie des Meisters auch zu sehen war und heute noch in seiner 
virtuellen Galerie zu bewundern ist. Diese Ästhetik des Engagements 
äußerte sich jedoch auch bald in einer Teilhabe an einer 
ästhetisierenden Politik, die Inhalte der Regierung -- oder anderer 
politischer Kräfte -- so verpackte, daß sie schön konsumierbar wurden. 
Hier trifft der Polit-Technologe auf den Ästheten (und weniger auf den 
von Gelman genannten Anwalt): beiden geht es wesentlich um die Form und 
weniger um den Inhalt. Ihr Material sind in der Ökonomie der 
Aufmerksamkeit Kommunikationsstrategien, wie sie im Internet besonders 
gut nutzbar sind.

Aus Spiel wird Ernst?

Der russischen Netzkultur fällt es schwer, auf die geänderten 
gesellschaftlichen Bedingungen in Putins Rußland -- 'Rußland 1' -- zu 
reagieren. So verständlich und legitim der Anspruch auch sein mag, in 
einem 'natürlichen' Lebensumfeld seinen originären, kreativen Impulsen 
nachzugehen, so wenig läßt sich auf diese Weise der eigene Freiraum 
gegen die sich zunehmend verhärtenden Außenwelten verteidigen. Der 
Abschied vom Naturreservat Internet, das eine 'andere' Existenz in 
Aussicht stellte (die Utopie vom natürlichen Raum), hin zu einer 
Multiplizität von konkurrierenden Öffentlichkeiten, wie es die 
US-amerikanische Politologin Nancy Fraser formulierte, fällt schwer. 
Denn diese erforderte eine stärkere ideologische Positionierung, die vor 
dem Hintergrund der Erfahrungen der Sowjetzeit instinktiv abgelehnt wird.

Eine innere Zerrissenheit bleibt spürbar, erklärbar aus eben jenem 
historischen Hintergrund: dem Wunsch nach Tat und Aktion, nach Einfluß 
und Macht (in einem durchaus positiv verstandenen Sinne) steht die tief 
verwurzelte Angst vor ideologischer Vereinnahmung gegenüber, vor den 
'Großen Worten' und 'Großen Erzählungen' im Sinne Lyotards. Was jedoch 
sind die Konsequenzen einer solchen paradoxen Positionierung? Der Wunsch 
zur Teilhabe an der Macht verwandelt sich bisweilen in eine fragwürdige 
Form der Kollaboration. Und die Scheu vor politischer Ideologisierung 
erschwert die Entstehung einer wirksamen alternativen Öffentlichkeit, 
die auch die private Artikulation 'natürlicher Bedürfnisse' selbstredend 
beinhaltet.

Gegenanzeige: Angesichts der Vielzahl an russischen Netz-Ressourcen, 
Projekten und Protagonisten handelt es sich bei dem Begriff der 
russischen Netzkultur um eine Abstraktion. 'Die' russische Netzkultur 
ist in ihrer Gänze ebenso wenig zu fassen wie 'die' amerikanische oder 
'die' deutsche Szene. Es handelt sich in den dargestellten Schilderungen 
vielmehr um die Beschreibung von Tendenzen, die uns als auffällig und 
typisch erscheinen und die uns angesichts ihrer Ambivalenzen -- 
zugegebenermaßen -- immer wieder in Verwirrung stürzen. Als 
Ausgangspunkt für eine eigenständige weitergehende Erkundung des RuNet 
und seiner Vielzahl von interessanten Projekten und Persönlichkeiten sei 
die Liste der "Physiognomien des Russischen Internet" empfohlen, 
veröffentlicht auf der Site der Internationalen Internet-Gemeinschaft 
Ezhe.ru (leider weitgehend in russischer Sprache).
Literaturhinweise

     * Castells, Manuel: The Information Age: Economy, Society and 
Culture. Oxford (UK): Maiden (Mac) 1997.
     * Ljewkin, Andrei: Golem, russkaja wersija. Roman, Rasskazy, powest 
[Golem, russische Version. Roman, Erzählungen, Powest]. Moskau: 
Olma-Press 2002.
     * Fraser, Nancy: Rethinking the public sphere: A contribution to 
the critique of actually existing democracy. In: Calhoun, Craig (Hrsg.): 
Habermas and the Public Sphere, Cambridge / Massachusetts: MIT Press 
1993, S. 109-142.
     * Pelewin, Viktor: Generation P. Moskau: Vagrius 2003.
     * Pelewin, Viktor: Generation P. Übers. A. Tretner. Berlin: Volk 
und Welt 2000.
     * Popovska, Elena: Die Welt zwischen den Welten oder die Golems von 
Moskau. Computer als Realitätserzeuger in Viktor Pelevins Princ Gosplana 
und Generation P. In: Anzeiger für Slavische Philologie. Band XXXI. Hg. 
v. Wolfgang Eismann u. Klaus Trost. Graz 2003, S. 63-76.
     * Rewitsch, Jury: Neizwestnyje EWM [Unbekannte Rechenmaschinen]. 
In: Iswestija (11. Juli 2000), S. 7.

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