[spectre] standortgeraeusch ?

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Sun Sep 4 19:05:49 CEST 2011


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standortgeraeusch ?

Zum Buch _echtzeitmusik berlin: selbstbestimmung einer szene_

Vor kurzem sagte mir ein DJ aus London, der am Pioneer CDJ-XXX oder 
CDJ-XXXX mit Vorliebe live einen Anti-Remix bis zur Unkenntlichkeit 
des Ausgangsmaterials pflegt und der sich damit nicht zu sehr auf den 
"DJ" festlegen laesst, dass es keine Grenzen der musikalischen 
Entwicklung gaebe. Er sagte das auf mein Erstaunen hin, dass so vieles 
moeglich sei und sich vermengen oder kombinieren lasse im Bereich des 
Auditiven. Sein Argument war das einer pluralistischen Intuition, 
innerhalb derer vielleicht alles geht, was geht. Mein Erstaunen kam 
von einer eher kategorischen Denke her, die nicht alles mit allem 
moeglich macht, nicht weil es Genregrenzen gaebe -- weil es Grenzen 
der Genres gibt.

Live und nicht-live, diese Bedeutungen wurden im Deutschen lange 
quasi-traditionell mit Konzert und Konserve umschrieben. Das war so 
vermutlich bis zum Einzug der Popmusik, die wohl erst wirklich begann 
mit der Generation von Musik-Macherinnen, die noch im 2. Weltkrieg 
geboren wurden, also in der Nachkriegszeit reuessierten. Live und 
Echtzeit -- so man im Band "echtzeitmusik berlin" unterscheidet und 
doch nicht kohaerent unterscheidet -- sind Begrifflichkeiten, die von 
Klaus Theweleit (am Saxophon bei der "Blaskappelle Rote Note" in der 
1980er (?) Jahren) auseinandergehalten wurden, als Virilio von der 
Echtzeit der Fernseh-Kriegs-Bilder im Jahr 1991, im zweiten Golfkrieg 
sprach. Denn "Echtzeit" blieb als Metapher fuer technische Ablaeufe 
bis dahin dem Zeit-Verhaeltnis vom Inneren des Rechners zum Auesseren 
des Rechners vorbehalten. Also dem, was man auch als Mensch-Maschine 
Schnittstelle bezeichnet. Nichts kann in keiner Zeit stattfinden oder 
verarbeitet werden, also bemisst der Horizont der Echtzeit eine 
Zeitspanne fuer eine Verarbeitung von Daten in einer Maschine, einer 
Zeitspanne, die vorhersehbar ist und die zumeist als sofort, beinahe 
verzoegerungsfrei wahrgenommen wird. Damit ist eine Dauer fuer die 
elektronische Datenverarbeitung, aber phaenomenologisch auch ein Mass 
von Geschwindigkeit gemeint, eine Ultrakuerze des Erscheinens, so 
Virilio.

Jedes Schreibsystem 'hat' eine solche Echtzeit der inneren Maschine, 
die sich zum Auesseren, z.B. dem Schreibenden verhaelt. Zeit, die als 
sofort und instantan empfunden wird und dennoch im Ablauf der Maschine 
Rechenzeit benoetigt. Theweleit beharrte damals auf dieser Rechenzeit 
als Zeit der Maschine, welche in einer Maschine ablaeuft, sich aber 
zur Aussenwelt verhaelt, und betrachtete die wohl tausendemal als 
"computerspielartig" beschriebenen Bilder des Krieges in Kuwait 
offenbar als live. Wenn Krieg als geschlossenes System gedacht wuerde, 
dessen eigene Zeit seine Wahrnehmung bestimmte, waere an der 
Echtzeitmetapher nichts auszusetzten. Aber als geschlossenes System 
kommt er erst garnicht in die Welt, da ja nicht der Krieg den Krieg 
fuehrt, trotz seiner Eigendynamik.

Schuss und Bild. Sinnesdaten einer angeblichen Echtzeit, denen demnach 
eine andere Zeit zukommt als instantant (zeitecht) zu sein, ohne 
Entscheidungsmoeglichkeit fuer den Zuschauer, ob diese Live-Bilder 
auch _live_ sind, also gerade tatsaechlich passieren, dass heisst ob 
den Bildern das Zeit-Moment des "jetzt im Moment" zukommt, also ob 
das, was gesehen wird oder entziffert wird, auch im Jetzt des 
Zeitgleich eines Hier-und-dort geschieht. Der Echtzeit als der 
uneinsehbaren, unerfahrbahren, aber informatorisch als 
Reaktionszeit eines Systems doch messbaren Zeitspanne einer 
Verarbeitungszeit, und den Live-Bildern als Daten eines Vorgangs der 
Ferne, kommen innerhalb von Zeitmodellen folglich andere Stellen zu. 
Die Bilder der Echtzeit sind mit dem Geschehen synonym, zwischen dem 
Prozess des Geschehens dort und hier besteht kein Unterschied 
(Simulation). Bilder des Live sind Uebertragungen und bauen die 
raeumliche Distanz zum Geschehen auf, die sie abzubauen vermeinen 
(Fern-Sehen).

Virilio ging es freilich um eine Geschwindigkeit des Geschenden, die 
das humanoide, wahrnehmbare Mass ueberschreitet, und eine 
Schnelligkeit meint, deren Aktionszeit nicht mehr mit menschlicher 
Re-Aktionszeit uebereinstimmen kann. Die Informatik sagt aber mit 
Echtzeit schlicht und "lediglich" zunaechst nichts von 
Geschwindigkeit und weiss von Zeitspannen, die mit der 
Lichtgeschwindigkeit ihre physikalische Grenzen haben:

"Der Begriff Echtzeit legt lediglich fest, dass ein System auf ein 
Ereignis innerhalb eines vorgegebenen Zeitrahmens reagieren muss."

Zu ergaenzen waere, der Zeitrahmen als Grenzziehung wird gesetzt, 
damit es zu keiner Katastrophe kommt, zum Beispiel beim Brennen einer 
Audio-CD. Denn wird hierbei ein Zeitrahmen beim Beschreiben einer 
CD-R ueberschritten, ist der irreversible Rohling zerstoert bzw. 
nicht mehr auslesbar und damit unbrauchbar. Informatik hat also einen 
Begriff von Dauer. Zur Rettung von Virilios Metaphorik muss demnach 
nocheinmal gesagt sein, dass seine Behauptung eben die war, dass 
solche Dauer mit den Sofort-Bildern des Krieges nicht mehr gegeben 
ist und sich das Verhaeltnis der Aktionszeit zur Reaktionszeit 
gedreht haette: Der Mensch ist nunmehr angeschlossen an die 
Aktionszeit der Maschinen und kann nur noch reagieren. Doch liegt 
diesem Befund eben die Behauptung zugrunde, dass die Bilder sofortige 
waeren. Waere die Simulation aber allgegenwaertig, waere sie 
unerkennbar und nur transzendental zu ueberschreiten.

Theweleit musste am Saxophon vielleicht noch die ganze Bandierra 
Rossa fuer 2 bis drei Minuten spielen [1] und 'bewahrte' auch in 
seinen Endlospapier-Buchtexten eine Zeit, die am Werk ist oder in 
der man am Werk ist und bei der die Beschleunigung und die 
Langsamkeit Optionen sind, ohne auf einer implodierten medialen Zeit 
des allzeit rasenden Stillstands zu beharren.

Wo und wie wird in dem hier besprochenen (beschriebenen) Band 
_echtzeitmusik_ aber mit dem Echtzeitbegriff hantiert, wenn eine 
Szene sich selbst zu bestimmen versucht, deren erlaeuternder Leitsatz, 
eben Szene zu sein,  auch dahin geht, dass Szenen wohl immer in 
Ungleichzeitigkeiten bestehen,  an verschiedenen Orten zu 
verschiedenen Zeiten. Die Begrenzung auf diese Stadt Berlin arbeitet 
offenbar mit dem Ort, mit dem alles, was dieser und in dieser 
Musikszene passiert, in einem Rahmen gefasst werden kann, damit der 
Rahmen-Ort ueberschaubar bleibt und Szene konstituierbar wird. Nicht 
umsonst geht "Szene" auf den zeitlich begrenzten und Zeit 
begrenzenden Ort des Theaters zurueck, an dem eine andere Zeit als 
die 'normale' erfahrbar wird. Nicht eine ganze Stadt kann also 
spielen und zum karnevalesken Event, zur Ausnahme werden, wie das 
Internationale Dixieland Festival in Dresden seit 40 Jahren 
vorspielt. Die Stadt, und das kann man beinahe lexikalisch in 
_echtzeitmusik_ mit den vielen Namen und Spielstaetten nachlesen, 
wird zum temporalen Fenster und zur gebrochenen Buehne fuer 
Ortsverteilte in Ortsverteilungen herausgestellt, die sich 
assoziierend bestimmten musikalischen Tendenzen zuordnen. 
Nicht  m i t  der Stadt als ganzer wird hier etwas gemacht, was 
Fahne, Plan und Diktat der identifikatorischen Standort(kultur)politik 
waere ("Berliner Luft", Paul Lincke, "be berlin", Berliner Senat). 
Stattdessen kommt eine a-identifikatorische Haltung und 
Prozesshaftigkeit zum Vorschein, bei der  i n  dieser un-bestimmten 
Stadt etwas gemacht wird.

Die "kleine Sozialgeschichte der Berliner Echtzeitmusik-Szene" von 
Marta Blazanovic im Band scheint das zu bestaetigen. Abgesehen davon, 
dass man in ihrem Text auch die uebliche Zeitstrahlkarte der 
Entwicklung der musikalischen Szene findet, findet man diese 
Kartografie darin als eine der Orte, an den gespielt wurde und wird. 
Aehnlich wie der Swing in New York Harlem eine geografische Karte mit 
den Clubs und Bars hatte, die etwa Cab Calloways Wege im Stadtteil 
nachvollziehbar machen, lassen sich bei Blazanovic Verdichtungen und 
Ebenen ablesen, und Abbrueche. Das "symbolische Kapital", von dem sie 
aber spricht, endet mit der "Sanierungsphase", von der sie auch 
spricht. Dann wenn der Raum zu teuer wird, wenn die Investition in 
das Kapital nicht mehr haltbar wird, bricht auch der Kapitalbegriff 
des Symbolischen zusammen. Manchmal muss man das selbst traurig 
erfahren. Zahlt vor Staatsanwalt und Gericht ein Gesellschafter 
buergerlichen Rechts seinen Anteil an der Miete nicht, ist der 
gemeinsame Zweck  -- der allzuoft mit der Zwecklosigkeit der Kunst 
fixiert wird -- verloren. Ist das Signum der Echtzeitmusik dieses, 
ueberkommene (weil eingeordnete und eingeebnete) Strukturen der 
Improvisation zu verlassen aber Improvisation dabei neu zu finden, 
dann geht nach allem was man ueber die Improvisation erkannt hat -- 
etwa des Jazz, als Ausdruck und Reflektion der Notwendigkeit der 
alltaeglichen Ueberlebenstaktik -- diese auf banale Raumfragen, die 
Mietfragen sind zurueck, auf die Bedingungen ausserhalb des 
Musikalischen. Der Raum des Klangs wird improvisiert, nicht ohne 
das Klischee der "freien" Improvisation aber auch nicht ohne die 
Folie ihrer Unmittelbarkeit mittelbar zu befragen.

Nach Anerkennung durch die etablierten Stellen der immer noch 
existierenden Hoch-Kultur-Stadt zu schielen ist verstaendlich, denn 
auch die andere Miete des anderen anderen Raums neben der Szene, der 
Wohnung naemlich muss ja gezahlt werden (@Juerg Bariletti: Man muss 
ueberall heizen.). Entgegen Gruppen und Wortfuehrern, welche die 
Differenzen der Kulturarbeit verwischen, ist diese Hochkultur immer 
noch bestimmend, auch wenn sie durch genau das Quartiersmanagement 
'synergentisch' aufgefrischt wird und sogar die Formen der 
Nicht-Etablierten Kultur annimmt. Die Differenz einer musikalischen 
Praxis zum grossen Sortiment ist faktisch und die kritischen 
Anschluesse an die fruehe Moderne innerhalb des "Reduktionismus" 
Berliner Couleur sind offenbar. Sie zu benennen waere 
musikwissenschaftliche Aufgabe, weil dann nachgewiesen werden 
koennte, dass die Enthaltung gegenueber "gesettleten" Klaengen im 
Kontrast steht zu der lugreichen Vorstellung alles verbindender 
Kulturmaschen. Diese szenische Gegen-Etablierung einer Klangmacherei 
ist szenisch, weil sie in Biotopen geschieht, in gewaehlten 
Schutzraeumen unter manchmal haertesten Bedingungen ("dann muss ich 
voll heizen", Juerg Bariletti). Aus denen will man raus. Und das 
geht nur ueber die Gegenetablierung zur Gegen-Etablierung. Dann 
wird der allgemeine Zwang zur Verwertung im Gegenreflex vorschnell 
mit einer Institution, der GEMA, gleichgesetzt, post-eokonomisch der 
Preis fuer die eigene Arbeit moeglichst verweigert, aber das Wilde 
der Hauptstadt der verinternationalisierten deutschen Kultur 
gepriesen indem man Politiker anruft, anfleht, die Homogenisierung 
zu stoppen, im Namen eben jener Foerderung des Tourismus, der das 
Geld fuer Kultur-Subventionen in die Stadt spuehlen soll.

Die Komplizenschaft (Margareth Kammerer) von Publikum und Musikern im 
Konzert, von der im Buch die Rede ist, ist fatal. Im Ausland am 
Prenzlauer Berg, konzentriert, konzertant, zuhoerend, befindet man 
sich nicht einfach im Ausland, auch nicht der gesunden Entfremdung 
vom Inland oder in einer anti-deutschen Erfrischung, sondern in 
Deutschland, das sich geoeffnet gibt und seine inneren Grenzen in 
Wahrheit strengstens bewacht. Die hypermobile Stadt des _heute 
Berlin, morgen vielleicht Lagos_ und der Kreativklassenverband 
laesst zwar im Selbstverstaendnis der Soundorganisation der 
echtzeitmusik Fragen zu und offen, kann diskursiv improvisatorisch 
gesehen werden und spricht auf hohem Reflexionsgrad zu sich selbst 
von Heterarchie (im Vorwort von Gisela Nauck), scheint aber ein 
"sound credit" zu sein, eine sichere Sache. Die un-bestimmte Stadt, 
welche seit 1989 anzog, die Besucher und Macher gleichermassen wie 
Preise, kann nun keine Stadt des Unbestimmten mehr sein. Auch wenn 
es Berlin ehemaliger Kredit war, der vermutlich noch lange auf einer 
gewissen Glaubwuerdigkeit beruhen mag. Man mag das Tacheles als 
Kulturspot dritten Ranges und als Tourifalle ansehen, die Mauer, die 
dort im April 2011 zur Schliesssung gezogen wurde, ist, wenn es denn 
ein symbolisches Kapital gibt, die symbolische Auszahlung und 
Beendigung der Mehrwertproduktion.
Die echte Musik, das Authentische befragend, in ihrer eigenen Zeit, 
Zeitverfuegbarkeiten erfragend, so wie sie wohl von den meisten 
"Echtzeitmusikern" gegen die Zeit des Unverstehens von Klang 
verstanden wird (vgl. Annette Krebs Hinweis aufs Eigentum am Chronos 
mit der "jeweilige[n] Zeit", sowie Margareth Kammerers Verweis auf 
den gluecklichen Augenblick des Kairos: "genau in dem Moment"), wird 
selbst zur Touristenfalle, in welche Macherinnen fallen, wenn sie 
bestaendig (ein Charakteristikum des Reduktionismus des gesetzten 
Geraueschhaften ist ja das bestaendige, staendige Bestehen auf dem 
Klingen) und im nicht akzeptierten Dilemma von Miete und weniger 
Miete an ihre Autonomie denken.

Wenn es eine Rebellion war, anderen als repraesentativen Klang (im 
Plural) zu machen und die dafuer noetigen Infrastrukturen zu schaffen, 
dann traegt man unter historischen Gesichtspunkten dieser relativ 
kurzen Geschichte einer und einer halben Dekade das Mischpult in 
einer durchsichtigen Tuete herum, wie sein Anerkennungsproblem, das 
jenes des gesellschaftlich Verkannten ist, der aber szenisch 
anerkannt wird. Die Trashpopkulktur haelt dafuer bekanntlich die 
Bezeichnung Kult bereit. Vielleicht kann man sagen, wie die 
transkribierten Gespraeche und Diskussionen und auch die Aufsaetze 
und die Fotos, die auch als die "eigene" und "jeweilige" 
Musikwissenschaft fungieren, wirksam sind.

Wenn im Buch Live oder Echtzeit unterschieden werden und doch nicht 
kohaerent unterschieden werden, worin liegt die Besonderheit der 
echtzeit in Berlin? Etwa im vergleich zu Frank Schergels Buch _Ohne 
Musik ist quasi alles lau: 331/3 Jahre Koelner Musikszene_ (2002), in 
dem er Portraets der dortigen vielfaeltigen Musik der 
nicht-buergerlichen Art bietet, aber auch viele Quer-Einsichten gibt, 
in die experimentell, pop-musikalischen geschichtlichen Verlaeufe in 
Deutschland am Rhein. Dort steht gleich anfangs die Feststellung, in 
England haette sich der New Wave entwickelt, "waehrend Deutschland 
musikalisch sehr langsam reagierte", wie Jon Savage zitiert wird. 
Abgesehen von der vedrehten Sichtweise, eine stilistische Welle 
allein wuerde musikalische Entwicklung anstossen koennen, ohne ihre 
Hintergruende aufzusuchen, ist das ein entscheidender Hinweis. Savages 
_England's Dreaming: The Sex Pistols and Punk Rock_ hat zum 
Ausgangspunkt immerhin die beruehmte Three-Day Week 1973, die den 
Kollaps des Britischen Sozialsystems markierte. Als die 
Tory-Regierung in London Einsparungen des Verbrauchs von 
elektrischem Strom verordnete, als Reaktion auf die Streiks 
Britischer Kohlearbeiter gegen Lohnkuerzungen, ging das noch nicht 
voll in der Ausbeutung aufgegangenen Jungen Leuten gegen ihren 
Strich. Damit aenderten sich auch bald alle Frisuren und zeigten 
zusammen mit einem ersteinmal rueckwaerstgewandten und reduzierten 
Rock-'n'Roll gewollte Unordnung (oder eine unuebersichtliche nur 
szenekennerische Ordnung). Die bald fuer die Ordnung der offiziellen 
Symbolproduktion rekuperiert wurde. Damals hatte das Land, laut 
Premierminister Heath, nur fuer drei Tage Produktion in Woche Kohle. 
Man sass bis Maerz des darauffolgendes Jahres fuer drei Tage die 
Woche im Kerzenlicht. Die Kulturstudis sahen Punk als Ausdruck der 
sozialen Zeit-Lage.

Diese Vorstellung von Echtzeit als einem kurzweilig (aber) Waehrenden 
ist den Klaengen der vielen im Buch Erwaehnten oft eingeschrieben. 
Bei Ignaz Schick wird diese Forschung, oder besser die Erfindung von 
Material-Bedingungen, um diese dann zu erforschen, im Text zur 
Werk-Selbst-Schau. Divergierende Durabilitaet wird aber nicht nur 
angestrebt, sie wird auch, weil Musik die Medienumgebung fuer Zeit 
ist, in ihrer Uneinholbarkeit gespielt. Vor allem oft in bezug zur 
Systemen, deren, ja eben Echtzeitprozesse nicht ausgereizt zu sein 
scheinen. Das kann auch der eigene tremor-maessig trainierte Koerper 
sein, wie bei Michael Vorfeld. Bei seinen Schlaegen auf die Saiten 
wird Rhythmus nicht nur ganzzahlig oder nur Off-Beat oder ihre 
Kombination, die zeitliche Einteilung unterliegt hier einer 
affektiven Folge. Er scheint den geschlossenen Koerper damit ueber 
Rhythmik vermittelt oeffnen zu koennen. Wenn, um nocheinmal die 
Metaphernbestimmung zu bemuehen, das System, geschlossen, seine 
eigene Zeit herstellt, der man Folge zu leisten hat, kaeme der 
Echtzeit des Spielens mit Klang an dieser Stelle einige Evidenz zu. 
Die Rhythmik kommt beim Spiel zustande, ihre Performanz ist so genau 
nur dieses eine mal moeglich. Sogar die Reproduktionsfrage von Sound 
wird also von echtzeitmusik neu befragt -- ohne den Moment zu 
fetischisieren?

Aber die vormals un-bestimmte Stadt wird zur bestimmten, auch mit 
einer gruppierten Assoziation, die im Versuch zur Eigenzeit zu 
gelangen diese Zeit nur durchsetzen kann, wenn sie ihrem gefundenen 
Milieu, dem "Labor Diskurs", wie die Autorinnen es nennen, immer 
wieder neu zu entfliehen vermag. Das Vermoegen sie jedoch nur, wenn 
der Klang und seine Produktion nicht voll synchron zum Standort der 
Stadt laeuft. Denn die ganzen Settings, die da angestellt werden, 
sind ja angestossen vom Impetus, mit Systemen der Klangproduktion am 
System der Klangproduktionen zu arbeiten und diese nicht nur fuer 
den Ausdruck oder die Interpretation bereits vorentschiedener 
Ergebnisse zu benutzen.

Die vorgenommene Selbstbeschreibung im Buch ist auf gleichem Niveau 
gelagert und bietet sozusagen eine Dokumentation der musikologischen 
Debatten, welche an den Gruppen der Szene reiben, ohne musikologisch 
zu sein. Weder Theweleitisch noch nach Virilio wird Echtzeit zu einer 
pragmatischen Metapher, ohne voll anwendbar zu sein, ohne label zu 
sein, so lange die Gemeinschaften im vorinstitutionellen Status 
verbleiben. Echtzeit kann man sehen als Umsetzungsversuch eines 
Wunschs nach einem Gut, das nicht zur kaufbaren Ware wird, im Raum 
der Zeit von selbst organisierten Produktions- oder Spielstrukturen, 
die zunaechst gegen die bereits organisierten zu stehen scheinen, 
mit diesen aber dealen muss. Das heisst, die Abbrueche der Orte sind 
nicht zu beklagen, sondern bilden die erwuenschte und zugleich 
gehasste Dynamik, fuer die das Sublabel der Echtzeitler, trotz aller 
Vermeidung des Labels, beruehmt ist. Dieses Sublabel besteht jedoch 
in einer Vergangenheit und kann nur noch als Mythos aufrechterhalten 
werden, weil mit der Nachwendezeit in unsentimentaler Vermarktung 
abgeschlossen wird. berlin (kleingeschrieben) selbst ist dieses 
Label, an dem echtzeitmusik mitarbeiten muss. Wenn sie nicht zu ihrem 
eigenen Quartiersmanagement werden will, muss echtzeit ihre gerade 
gewonnene Geschlossenheit wieder an ihrem Anspruch des Verteilten 
messen und Verteilung selber diskutieren. Da das Management der 
Gestaltungszonen ja lediglich das "billiger" verwaltet, aber die 
Eigenverantwortung seiner Schuetzlinge fuer die Aufwertung 
einfordert, und das voellig indifferent oder auch "heterarchisch" den 
Inhalten gegenueber. Oder (mit Ulf Sievers gefragt S. 293), kann man 
"zu kapitalistisch" sein?
_________________________

[1] www.bibliotecamarxista.org/Audio/canzoni_lotta/BANDIERA%20ROSSA.mp3

Matze Schmidt

echtzeitmusik
selbstbestimmung einer szene / self-defining a scene
(berlin 1995-2010)
Wolke Verlag
416 S.
29,– EURO
www.wolke-verlag.de/impromusik/193.html

www.echtzeitmusik.de

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