[WOS] WOS @ CCC '99

Volker Grassmuck wos@mikrolisten.de
Fri, 28 Jan 2000 15:28:41 +0200


Lieber Florian und Listige,

bei unserer Frage, wie denn einigerma=DFen sinnig eine OS-Layer von 
anderen zu unterscheiden ist, bin ich bei Lessig auf einen Hinweis 
gesto=DFen. Etwas versteckt gibt er dort die Quelle f=FCr seinen 
Code-Begriff an. 

Lawrence Lessig "Open Code and Open Societies: Values of Internet
Governance" in der Fu=DFnote auf S. 4f. 
http://cyber.law.harvard.edu/works/lessig/final.pdf

"I am using the term "code" here far more loosely than software
engineers would. I mean by code the instructions or control built into
the software and hardware that constitutes the net. I include within
that category both the code of the internet protocols (embraced within
TCP/IP) and also the code constituting the application space that
interacts with TCP/IP. Code of the latter sort is often referred to, 
in Jerome Saltzer's terminology, as code at the "end." "For the case 
of the data communication system, this range includes encryption, 
duplicate message detection, message sequencing, guaranteed message 
delivery, detecting host crashes, and delivery receipts. In a broader 
context the argument seems to apply to many other functions of a 
computer operating system, including its file system." Jerome H. 
Saltzer, David P. Reed, and David D. Clark, End-to-End Arguments in 
System Design, in INNOVATIONS IN INTERNETWORKING 195 (Craig 
Partridge, ed. 1988). More generally, this layer would include any 
applications that might interact with the network (browsers, email 
programs, file transfer clients) as well as operating system 
platforms upon which these applications might run."

Saltzers Begriff, auch wenn er nicht das OS als ganzes, sondern nur 
'viele seiner Funktionen' einschlie=DFt, scheint mir relativ pr=E4zise 
die infrastrukturelle Schicht zu benennen, um die es mir geht (=3D die 
frei zu sein hat). Lessigs Nachsatz weicht die Grenze dann wieder 
etwas auf. Theoretisch ist der Browser fuzzy, aber ich w=FCrd sagen, 
solange es einen freien Browser, Mailer etc. gibt, k=F6nnen sie mit 
kommerziellen koexistieren. 

Kennt jemand das Buch von Saltzer/Reed/Clark? Saltzer ist wohl 
einer der =E4lteren Herren des Inet, aber vielleicht nicht 
uninteressant f=FCr die n=E4chste wos?

Gru=DF
Volker


> Date:          Fri, 14 Jan 2000 00:21:37 +0100
> From:          Volker Grassmuck <vgrass@rz.hu-berlin.de>
> To:            wos@mikrolisten.de
> Subject:       Re: [WOS] WOS @ CCC '99
> Reply-to:      wos@mikrolisten.de

> Lieber Florian,
> 
> vielen Dank f=FCr Deine Kritik und Vorschl=E4ge. 
> 
> Was die beliebige Schachtelbarkeit von Layern betrifft, stimme ich
> Dir zu. Die Frage, wo das OS aufh=F6rt und die Applikationsschicht
> anf=E4ngt, hat uns ja schon fast seit Anfang an besch=E4ftigt. Deine
> beiden Stacks machen das nochmal sehr sch=F6n deutlich. Auch was Du
> =FCber eine m=F6gliche Aufteilung in User- und Kernel-Space geschrieben
> hast, =FCberzeugt mich. Allerdings nur, wenn einem sozusagen an einer
> 'Ontlogie' gelegen ist. Viel einfacher und 'ph=E4nomenologisch'
> gedacht, gibt es schon eine ziemlich klare Trennung. Ein Bild daf=FCr
> ist der Railroad Club am MIT Ende der 50er, =FCber den Steven Levy in
> "Hackers" schreibt. Da gab es eine Fraktion, die *auf* der Platte
> neue Modellh=E4user, -H=FCgel, -B=E4ume und Streckenf=FChrungen bastelte=
 und
> eine andere, die immer *unter* der Platte lag und an den Kabeln und
> Relais schraubte. Die Hacker gingen nat=FCrlich aus der zweiten
> Fraktion hervor. 
> 
> Hier kann man auch mal wieder die uns=E4gliche Autometapher bem=FChen:
> OS liegt unter der K=FChlerhaube, Schnittstelle sind Schrauben,
> Ventile, Klemmen etc., Systemwerkzeuge wie Schraubenschl=FCssel und
> Me=DFger=E4te sind erforderlich. Anwenderraum ist die Fahrgastkabine;
> Schnittstellen sind Kn=F6pfe, Schalter, Armaturenbrett. Und dann gibt
> es eben die Schrauber und Fahrer.
> 
> Neal Stephenson benutzt in seinem "In the Beginning was the Command
> Line" die Untescheidung in Coder und User, um zu argumentieren, da=DF
> OS "ihrer Natur nach" frei seien (sollten): "... the very nature of
> operating systems is such that it is senseless for them to be
> developed and owned by a specific company. It's a thankless job to
> begin with. Applications create possibilities for millions of
> credulous users, whereas OSes impose limitations on thousands of
> grumpy coders, and so OS-makers will forever be on the shit-list of
> anyone who counts for anything in the high-tech world. Applications
> get used by people whose big problem is understanding all of their
> features, whereas OSes get hacked by coders who are annoyed by their
> limitations" <z.B.
> http://larry.earthlight.co.nz/essays/commandline.html>
> 
> Und noch ein Beispiel aus der Biotechnologie, auf das mich Chris
> Kelty gebracht hat: Das Human Genome Projekt (HGP) war als offene
> kooperative internationale Forschungsbem=FChung geplant gewesen. Der
> Schock war gro=DF, als Anfang der 90er amerikanische Firmen begannen,
> einzelne Sequenzen zu patentieren. Diese Tendenz ist inzwischen
> zur=FCckgeschraubt. Das National Institut of Health (NIH) ist
> Haupttr=E4ger des HGP in den USA, allerdings mit einem kommerziellen
> Gegenspieler, Celera (Craig Venter). Hauptgrund daf=FCr k=F6nnte sein,
> da=DF die Pharmaindustrie gar nicht an der DNS selbst interessiert
> ist, sondern f=FCr wirtschaftlich verwertbare Produkte auf der
> dar=FCberliegenden Schicht der Proteine aufsetzt. Sie sind
> gewisserma=DFen die APIs, die es erlauben, Medikamente auf die
> Umgebung einzelner Individuen anzupassen. Eine analoge Schichtung
> w=E4re hier also: OS =3D DNS, Anwendungs-Software =3D Proteine. Wobei da=
s
> Wissen =FCber das OS heute wieder nach dem wissenschaftlichen Ideal
> frei ver=F6ffentlicht wird. 
> 
> 
> Florian Cramer wrote:
> > 
> > Am Fri, 07.Jan.2000 um 16:45:23 +0200 schrieb Volker Grassmuck:
> > 
> > > OS =3D Basisschicht, die Kommunikation und Interoperabilit=E4t
> > > erm=F6glicht, also Netz und OSs im engeren Sinne. OS =3D
> > > Infrastruktur; das, was nicht vordergr=FCndig semantische
> > > Funktionen hat, sondern die Voraussetzungen f=FCr sinnhaltige
> > > Prozesse schafft, f=FCr Anschlu=DFf=E4higkeiten und Zirkulationen.
> > 
> > Die Frage ist, ob diese Definition nicht f=FCr fast alle Software
> > gilt. (Z.B. f=FCr Funktionsbibliotheken, Java-VMs, aber auch f=FCr
> > Webbrowser und Textverabeitungsprogramme. Selbst wenn man
> > "sinnhaltige Prozesse"
> 
> Auch hier wieder sch=E4tze ich Deine begriffliche Strenge, aber es war
> viel einfacher gedacht. Wenn ich an meinem Systeme, an X, am
> Druckertreiber etc. rumschraube, ist das in meinem Fall kein
> Selbstzweck, sondern dient dazu, mich zu bef=E4higen, Texte zu
> schreiben, Mails zu lesen, Webseiten zu bauen etc. Wenn ich einen
> Text schreibe, hat das nat=FCrlich auch mit Kommunikation zu tun, aber
> nicht in dem oben gemeinten Sinne. Die Trennung in Schaffung von
> M=F6glichkeitsbedingungen und inhaltlicher Einf=FCllung der damit
> geschaffenen M=F6glichkeiten sieht f=FCr einen Coder nat=FCrlich anders
> aus, aber da kommt die o.g. Grundtrennung in Coder und User zum
> Tragen.
> 
> > Die Unterscheidung von OS und Anwendungen mit der Unterscheidung
> > von "Kernelspace" und "Userspace" gleichzusetzen, hilft auch
> > nicht, weil es v=F6llig arbitr=E4r ist, welche Programmfunktionen in
> > welche der beiden Schichten integriert werden. (Zum Beispiel kann
> > man unter Linux einen Webserver wie gew=F6hnlich im Userspace laufen
> > lassen oder, seit Kernel 2.3.x  im Kernelspace aktivieren.
> > Gleiches gilt z.B. f=FCr Dateisysteme wie NFS oder CFS. Der
> > Quake-Entwickler John Cormack dachte vor wenigen Tagen dar=FCber
> > nach, den Linux-TCP/IP-Stack experimentell in den Userspace zu
> > verlegen, und ein anderes Projekt versucht, sogar den gesamten
> > Linux-Kernel im Userspace nutzbar zu machen, um Kernel-Entwicklung
> > ohne Reboots zu erm=F6glichen.)
> 
> Ich bin nicht sicher, ob es so v=F6llig arbitr=E4r ist, was ins OS
> abgesenkt wird, und was nicht. Ein Kernel im Userspace macht
> nat=FCrlich nur Sinn, wenn die User Kernelentwickler sind. Wer sonst
> wollte den Motor beim Fahren neben sich auf dem Beifahrersitz liegen
> haben? Systemweite Basisfunktionen geh=F6ren eben unter die
> K=FChlerhaube. 
>  
> > > Dar=FCber liegt die Schicht der Anwendungen, der sinnhaften
> > > Operationen. Die Aufteilung in zwei Schichten markiert eine
> > > Unterscheidung in "Regelhaftigkeit" und "Ausdruck". Hier
> > > Standard, Eindeutigkeit, Verbindlichkeit, dort Vielfalt,
> > > Heterogenit=E4t und Gewusel. OS =3D ein
> > 
> > Die Unterscheidung greift meiner Meinung nach zu kurz, weil
> > Einheitlichkeit _und_ Heterogenit=E4t sowohl das "Betriebssystem"
> > (im Vergleich zu anderen Betriebssystemen), als auch die
> > "Anwendungen" (im Vergleich zu anderen Anwendungen)
> > charakterisieren.
> 
> Standard f=FCr Kommunikation =3D tcp/ip, http, smtp; individueller
> Ausdruck ist diese Mail, die ich Dir dar=FCber schicke. Standard f=FCr
> Interoperabilit=E4t und Portierbarkeit =3D Posix, der es erlaubt,
> einzelne Applikationen =FCberall laufen zu lassen. Standard f=FCr
> Texterstellung und -Kommunikation in deutschen B=FCrostuben ist
> WinWord (weshalb sich jedes neue B=FCro dreimal =FCberlegen wird,
> irgendwas anderes zu verwenden), die Texte, die er erlaubt m=F6gen
> auch weitgehend standarisiert sein, aber das liegt auf einer anderen
> Ebene. Klar gibt es viele OS und Be-OS mag ein prima OS sein, aber
> wenn es keine Economy of Scale erreicht, wird es gegen=FCber anderen
> nie einen infrastrukturellen Charakter bekommen.
>  
> > > Computer als "OS" der "Informationsgesellschaft". "Essentiell"
> > > f=FCr das
> > 
> > Ketzerische Frage: Ist "OS" in diesem metaphorischen
> > Sprachgebrauch nicht ein etwas umst=E4ndliches Ersatzwort f=FCr
> > "Grundlage"?
> 
> Gar nicht ketzerisch. Mit "Grundlage" bin ich einverstanden
> (operating system: /n./ [techspeak] (Often abbreviated 'OS') The
> *foundation* software of a machine, of course; (The Jargon File)).
> Ob "umst=E4ndlich" ist genau die Frage. Es geht ja nicht um ein reines
> Wortspiel, sondern darum, zu sehen, wie weit die These tr=E4gt und wie
> sie fruchtbar zu machen ist. Wenn dabei (mit gewissen l=E4=DFlichen
> Vereinfachungen) eine infrastrukturelle Schicht identifiziert wird,
> die =F6ffentliches Gut zu sein hat, w=E4re das doch schon etwas. 
>  
> > > heute haben (Tim O'Reilly sprach von der Gefahr propriet=E4rer
> > > Informationsschichten im Internet).
> > 
> > Ja, stimmt - sein Vortrag hat die o.g. Frage, welche Schicht
> > eigentlich das 'Betriebssystem' ist, schon l=E4ngst formuliert und
> > politisch zugespitzt.
> 
> Welche Schicht meinst Du? Sein Hauptpunkt ist ja, nach der
> Entkopplung von Hard- und Software, jetzt die von Software und
> Infoware. Die - rhetorische - Gegen=FCberstellung der Bloatware
> Windows und der winzigen Perl-Skripte eingebettet in einer Menge
> Information schafft das OS ja nicht aus der Welt. Vielleicht kann
> man Apache, Perl, Tcl etc. als OS des Webs sehen. Seine Vorhersage,
> da=DF Amazon Schlie=DFungen vornehmen k=F6nnte, hat sich ja mit deren
> Patentanmeldung auf den Einkaufskorb best=E4tigt. =DCbrigens ist Chris'
> Transkription von Tim Vortrag seit einigen Tagen online. 
>  
> > 
> > > - "Offenes" Geld:
> > > * David Chaums Ecash: was ist draus geworden? Welche anderen
> > > Ans=E4tze gibt es?
> > 
> > War es padeluun, der auf dem CCC-Kongre=DF darauf hingewiesen hat,
> > da=DF alle existierenden elektronischen Zahlungssysteme extreme
> > vertikale Hierarchien zwischen Produzenten und Konsumenten
> > kreieren, weil man z.B. einem Nachbarn, dem man ein gebrauchtes
> > Fahrrad abkauft, nicht per Kredit-, Geldkarte oder Cybercash
> > bezahlen kann, weil nur Firmen das Privileg eines Kartenlesers
> > besitzen?
> > 
> > So offensichtlich und trivial diese Einsicht auch ist, ich war
> > bisher nicht darauf gekommen, und sie l=E4=DFt mich seitdem nicht mehr
> > los (und auch viele meiner Freunde und Kollegen nicht, denen ich
> > sie weitererz=E4hlt habe).
> 
> Daniel Andujar hat schon vor einigen Jahren in Reaktion darauf
> seinen Street Terminal entwickelt, der es Bettlern erlaubt, Almosen
> per Kreditkarte anzunehmen. <http://www.irational.org/daniel>. Aber
> im Ernst, eine solche horizontale Transferm=F6glichkeit war bei Chaums
> eCash sehr wohl vorgesehen. 
>  
> herzliche Gr=FC=DFe
> Volker

=3D-=3D-=3D-=3D-=3D-=3D-=3D-=3D-=3D-=3D-=3D-=3D-=3D-=3D-=3D-=3D-=3D-=3D-=3D=
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