[wos] TELEPOLIS: Die Wissenschaft schlaegt zurueck

Hendrik Naumann wos@post.openoffice.de
Mon, 3 Sep 2001 09:52:04 +0200


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 Die Wissenschaft schlägt zurück
 
 Peter Riedlberger   28.08.2001 
 
 Mehr als 26.000 Wissenschaftler haben den Verlagskonzernen ein 
Ultimatum gestellt, das am 1. September abläuft 
 
 Im STM-Sektor ("Science, Technical and Medical") wird das 
wissenschaftliche Verlagswesen von sechs Major Players monopolisiert ( 
 Reed Elsevier [0],  Thomson Corporation [1],  Wolters Kluwer [2], 
 Wiley [3],  Springer [4],  Blackwell's [5]). Dies hat ähnlich 
unheilvolle Auswirkungen wie im Bereich der Musikindustrie: 
Gemeinschaftlich versuchen die Majors, den Vorgang des 
wissenschaftlichen Publizierens so umzugestalten, dass er ihren 
Profitinteressen nutzt, gleichzeitig aber ganz massive Nachteile für 
die wissenschaftliche Gemeinde hat. 
 
 
 
 
 
 Es geht dabei um elektronisches Publizieren. Wenn früher ein Artikel 
in einer Zeitschrift erschien, dann kaufte eine Bibliothek die 
Zeitschrift und stellte sie in ihre Regale. Wer immer den Artikel lesen 
wollte, musste lediglich die Bibliothek aufsuchen, um die Zeitschrift 
einsehen zu können und bei Bedarf Kopien des Artikels anzufertigen. 
 
 Dieser Zustand ist im STM-Sektor bereits jetzt nicht mehr gegeben. 
Zahlreiche Artikel erscheinen bereits jetzt elektronisch. Bibliotheken 
kaufen keine Zeitschriften mehr, sondern lediglich "Lizenzen". Gezahlt 
wird bei jedem Lesevorgang. Ausdrucke sind untersagt. 
 
 Die Folgen sind gravierend: Technologisch werden Wissenschaftler in 
die Zeit vor der Erfindung der Fotokopierer zurückgeworfen. 
Gleichzeitig werden die Budgets der Bibliotheken unkalkulierbar: Wie 
soll sich vernünftig planen lassen, wenn je nach Zahl der Leser zu 
bezahlen ist? 
 
 Dazu kommen noch prinzipielle Überlegungen: Wenn keinerlei Kopien, 
weder als Daten noch als Hardcopy angefertigt werden dürfen, so darf 
als sicher gelten, dass das Wissen der Menschheit in ein paar hundert 
Jahren vollständig verloren ist. Wir besitzen z. B. aus der Antike 
keine Originaltexte von der Hand des Autors, und antike Kopien 
überstanden nur unter sehr speziellen Umständen (z. B. Papyri, die in 
der Wüste lagerten). Die Lebensdauer einer qualitativ hochwertigen 
CD-ROM soll bei ca. 50 Jahren liegen (Erfahrungswerte gibt es aus 
verständlichen Gründen nicht). Wenn die Majors in ein paar Jahrzehnten 
keine Interesse an Neuauflagen haben und dann die Streamerbänder bei 
einem Erdbeben oder einem Flugzeugabsturz auf das Verlagsgebäude etc. 
untergehen, dann haben wir eine Lücke in der Wissenschaftsgeschichte. 
 
 Ein weiteres Problem ist der Austausch. Wissenschaftliche 
Zeitschriften kosten ein kleines Vermögen. Um für die Verbreitung von 
Wissen zu sorgen, gibt es den so genannten Bibliotheksaustausch. Reiche 
Länder tauschen ihre wissenschaftlichen Zeitschriften mit armen Ländern 
(z. B. Osteuropa) eins zu eins, um auch serbischen oder russischen 
Forschern den Zugang zu neuestem Wissen zu ermöglichen. Eine solche 
Maßnahme wäre nicht mehr möglich, wenn es keine Zeitschriften, an denen 
man Eigentum erwirbt, gibt, sondern nur noch Lizenzen. 
 
 Gottseidank ist nun die Position von wissenschaftlichen Verlegern 
deutlich schwächer als die von Plattenlabels. Denn die 
Wissenschaftsverlage haben es nicht mit Zlatko und No Angels zu tun, 
sondern mit den klügsten Köpfen der Welt. Deren Verbitterung ist gut zu 
verstehen: Die Forschungen entstehen mit öffentlichen Geldern, und die 
wissenschaftlichen Artikel werden kostenlos samt dem Copyright (!) an 
die Verlage abgetreten. Solange ein Konsens bestand und die 
wissenschaftlichen Verleger Zeitschriften zu angemessenen Preisen 
produzierten, war dieses System in Ordnung. Nun, da vor der 
Öffentlichkeit verschlossen werden soll, was von den Steuergeldern der 
Öffentlichkeit bezahlt wurde, kommt es zum Bruch. 
 
 Naturwissenschaftler, in erster Linie Biochemiker, gründeten eine 
Organisation namens  The Public Library of Science [6] mit dem Ziel, 
eine öffentliche, im Internet zugängliche Bibliothek aller 
naturwissenschaftlichen digitalen Artikel einzurichten. Nicht, dass sie 
damit auf besondere Sympathie der Verlagskonzern hoffen dürften: Reed 
Elsevier unternahm bereits massive  Lobbyarbeit [7] gegen  PubSCIENCE 
[8], eine öffentlich finanzierte Abstracts-Seite für die Physik. 
Anscheinend mit Erfolg: Ein Kongress-Unterausschuss empfahl die 
Schließung der Seite, weil sie lediglich Aktivitäten dupliziere, die 
bereits von privater Seite geleistet würden. Absurd: Mit derselben 
Begründung ließen sich Schulen (Privatschulen) und Polizei 
(Wachdienste) einsparen. 
 
 Doch zurück zur "The Public Library of Science". Es ist 
offensichtlich, dass die Verlagshäuser nicht so einfach ihre Artikel 
für ein derart ambitioniertes Projekt herausrücken würden. Daher ging 
ein offener Brief an die STM-Zeitschriften: Alle Zeitschriften, die 
sich nicht bis zum 1. September (also Samstag dieser Woche) bereit 
erklären, sämtliche Artikel nach Ablauf von sechs Monaten nach der 
Erstpublikation der "The Public Library of Science" zur Verfügung zu 
stellen, werden von den Unterzeichnern vollständig boykottiert. Das 
heißt: In diesen Zeitschriften werden keine Artikel der Unterzeichner 
erscheinen, die Unterzeichner werden nicht als Gutachter zur Verfügung 
stehen und werden auch keine herausgeberischen Tätigkeiten wahrnehmen. 
 
 Die Sechsmonatsfrist soll garantieren, dass die Verlage ihr Geld 
einspielen können. Es geht ja nicht darum, die Verlage kaputt zu 
machen, Ziel ist lediglich, Wissenschaft weiter betreiben zu können. 
Wer intensiv an einem wissenschaftlichen Projekt forscht, wird keine 
sechs Monate warten können, und so kommen die Verlagshäuser zu ihrem 
Einkommen. Ein Wissenschaftler in Harare wird dagegen zufrieden sein, 
wenn er die neuesten Ergebnisse kostenlos, wenn auch mit sechs Monaten 
Verschiebung, lesen kann. 
 
 "The Public Library of Science" ist übrigens alles andere als ein 
kleines Weltverbesserer-Kaffeekränzchen. Mehr als 26.000 internationale 
Wissenschaftler haben den offenen Brief unterschrieben, alle mit vollem 
Namen und Funktion. Die "Advocacy Group" besteht aus dem Who-is-who der 
Biotech-Wissenschaft, mit zwei Nobelpreisträgern. 
 
 Bisher haben die großen Verlagshäuser keine Anstalten gemacht, bis 
Samstag einzulenken (nur ganz wenige  Zeitschriften [9] haben bereits 
vor dem offenen Brief wissenschaftsfreundlich verhalten). Was danach 
geschehen wird, kann man ahnen: Wer braucht Publikationsdienstleister 
im Zeitalter des Internets? Und was machen Verlage mit 
Fachzeitschriften, wenn keiner der renommierten Wissenschaftler für 
diese Zeitschriften mehr schreiben will? 
 
  
 
 Links 
 
 [0] http://www.reed-elsevier.com
 [1] http://www.thomson.com
 [2] http://www.wolters-kluwer.com
 [3] http://www.wiley.com
 [4] http://www.springer.de
 [5] http://www.blackwellpublishers.co.uk
 [6] http://www.publiclibraryofscience.org
 [7] http://www.infotoday.com/newsbreaks/nb010709-1.htm
 [8] http://pubsci.osti.gov
 [9] http://www.publiclibraryofscience.org/plosFAQ.htm#faq3
 
 Artikel-URL: http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/te/9405/1.html 
 
 
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