<SPAM?> Re: [wos] wos3: Inhalte
Florian Cramer
cantsin at zedat.fu-berlin.de
Sat May 3 00:18:39 CEST 2003
Hallo allerseits,
Zuerst bitte ich um Nachsicht, daß ich verspätet in die laufende
Diskussion einsteige - ich war in der letzten Woche in den USA, und habe
es zu meiner Schande wegen Schreibverpflichtungen heute auch nicht zum
Treffen in der Humboldt Universität geschafft.
Susanne, zu zweien Deiner Punkte kann ich mir eine Antwort nicht
verkneifen:
> Ja, so ca. in 15 Jahren ist es sicher soweit. ;) Multimedia wird noch sehr
> lange keine Stärke von Linux bleiben weil:
Das hängt allein davon ab, ob Du "Multimedia" aus der Konsumenten- oder
der Produzenten-Perspektive betrachtest. Ja, gewiß, schon ein Anwender,
der mit GNU/Linux DVDs betrachten und in 5.1 Surround abspielen
will, hat es nicht immer leicht, einfache bei Saturn & Co. gekaufte
Multimedia-Gadgets (Karten, USB-Geräte, Kameras) funktionieren i.d.R.
nicht und auch Dinge wie einfacher DV-Videoschnitt und DTP sind mit
freier Software z.Zt. nicht gut machbar, und alle Feature-Gadgets einer
aktuellen Soundblaster-Karte wird man mit Linux/ALSA nicht nutzen
können.
Ganz anders sieht es jedoch auf der Multimedia-Produzentenseite
aus, und zwar dort, wo eben keine Kaufhaus-Hardware eingesetzt
wird. Ich kenne einen hauptberuflichen Komponisten, der wegen
besserer Software- und Hardwareunterstützung von MacOS zu GNU/Linux
gewechselt ist, zwar hochgradig gepatchte Kernel (mit Low Latency-,
Preemptive- und ALSA-Patches, die sich allerdings mit Kernel 2.6
erledigt haben werden) verwenden muß, aber unter GNU/Linux eben auch
eine anständige Unterstützung für seine RME Hammerfall-Soundkarte
selbst in der PCMCIA-Version genießt und die besten Ports seiner
LISP-/CSound- und PD-Software nutzen kann. Im ZKM Karlsruhe gab es
vor kurzem eine Konferenz professioneller Audio-Entwickler, mit der
klaren Botschaft, daß der GNU/Linux-Systeme schon mittelfristig den
Standard für professionelle Produzenten definieren werden und mit
ALSA & Co. schon jetzt über eine weitaus bessere Infrastruktur als
proprietäre PC-Betriebssysteme verfügen. (Natürlich werden in solchen
Umgebungen Desktop-Abfallprodukte wie die esound- und arts-Dämonen nicht
eingesetzt.)
Ähnlich sieht es auch in der Film-Postproduction aus, wo GNU/Linux-PCs
sich jetzt nicht nur massiv als Render-Server, sondern auch als
graphische Workstations durchsetzen und an die Stelle von SGI-Kisten
treten. Dies schlägt sich bereits in Software wie dem "Film-Gimp"
nieder, aber auch die vorhandene kommerzielle Standard-Software kann
dort problemlos portiert werden, weil sie (wegen SGI) traditionell auf
X11/Motif basiert.
Kurzum, es gibt sogar sehr gute freie Desktop-/Multimedia-Entwicklung
für GNU/Linux, sie scheint aber eher in starken Nischen als im
Desktop-Mainstream stattzufinden. Ein anderes Beispiel ist Squeak,
die von Alan Kay entwickelte Smalltalk-Umgebung, die ein komplett
programmierbaren objektorientierten Desktop mit drunterlaufender VM
zur Verfügung stellt, indem sich Nutzer ihre eigene Anwendungen durch
Kombination von Objekten selbst zusammenklicken können (man könnte
Squeak so gesehen das OO-/Desktop-Äquivalent von LISP-Maschinen nennen).
> Multimedia, Grafik und Internationalisierung ist so kacke unter Linux, dass
> ich drauf und dran war, einen Mac zu kaufen. Nach 10 Jahren Linux.
Beim Mac unter MacOS X 10.2 ist es nur scheinbar besser, wie ich
jetzt nach der Installation eines G4-Lampen-iMac an meinem Institut
feststellen konnte. MacOS X wird von Graphikern praktisch nicht benutzt,
weil die wichtige Software (Quark XPress z.B.) nach wie vor nicht
darauf portiert ist. Außerdem ist das Betriebssystem und der Desktop
unfaßbar lahm, hakelig und teilweise inkonsistent zu bedienen, und
ist mit seinen nicht abschaltbaren, augenschmerzenden Farben und
kitschigen Herzchen-Icons eine visuelle Qual. Von meinen Mac-nutzenden
Kollegen wird OS X rundherum abgelehnt. In deutschen Mac-Newsgroups -
die sich fast zu Unix-Fachnewsgroups gewandelt haben - gibt es sogar
Threads darüber, daß KDE 3.1 einen besseren (!) Desktop als MacOS X
bietet. Weshalb Apple nicht einfach den eleganten und visuell schönen
alten MacOS 9-Desktop auf Mach/BSD/NextStep-Basis nachgebaut hat, ist
mir schleierhaft.
> Ich bitte übrigens mal um Aufklärung, wieso manche Leute immer GNU/Linux
> schreiben - ausser dass Onkel Richard das gern so hätte. Gibt's da irgendeine
> offizielle Anweisung oder so? ;)
Meine Begründung: Ein Rechner nur mit Linux (=dem Kernel) ist nicht
nutzbar und würde nicht einmal ohne Kernel Panic booten. Für ein
minimales nutzbares System braucht man ein Userland aus einer Shell
(die man notfalls als Init-Prozeß starten kann), eine C-Bibliothek
und ein Satz Kommandozeilenprogramme wie ls, cat, cp, mv, mkdir,
rm, grep.
In allen "großen" Distributionen wie Debian, RedHat, SuSE, Mandrake,
Gentoo, Slackware stammt dieses Basis-Userland zu mindestens 90%
von GNU. Darüber hinaus "spricht" fast sämtliche übrige Software
durch die GNU C-Bibliothek zum Kernel und wäre ohne sie nicht
lauffähig.
Theoretisch könnte man Standard-Shell, Standard-Kommandos und
C-Bibliothek zwar auch z.B. durch BSD-Äquivalente ersetzen, doch mir
ist keine Distribution bekannt, die dies tut. Bekannte Ausnahmen von
der Regel sind Embedded-Distributionen (wie Single-Floppy, Router- und
PDA-Linuxe), die statt der GNU-Tools tinylogin, busybox und ash mit
µlibc oder dietlibc einsetzen. Wenn man aber von "Linux"-Installationen
auf Servern und Desktops redet, finde ich es fair, von Linux/GNU
oder GNU/Linux zu reden, da beide Teile hier wirklich den kleinsten
gemeinsamen Nenner des nutzbaren Betriebssystems bilden.
(Auf einem anderen Blatt steht, daß GNU-Software IMHO auch ein paar
echte Design-Nachteile hat, wie z.B. info-Seiten statt manpages und z.T.
aufgeblasene Optionen und Features.)
-F
--
http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/homepage/
http://www.complit.fu-berlin.de/institut/lehrpersonal/cramer.html
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