[rohrpost] Raunig on Zizek on Haider [in German]

Gerald Raunig Gerald Raunig" <raunig@igkultur.at
Thu, 10 Feb 2000 16:35:52 +0100


Süßstoff, Zucker, Antwortvielfalt
Politik im und nach dem Zeitalter des Postpolitischen
Replik auf Slavoj Zizeks nettime-Kurzessay


"Politische Wahlmöglichkeiten solcher Art - etwa zwischen Sozialdemokraten
und Christdemokraten in Deutschland, zwischen Demokraten und Republikanern
in den USA - müssen uns ja geradezu an jenes Dilemma erinnern, vor dem wir
stehen, wenn wir im Café nach Süßstoff fragen: Überall können wir zwischen
Natreen und Saccharin wählen, zwischen blauen und roten Tütchen, und fast
jeder hat die eine oder andere Vorliebe; und überall betont dieses
lächerliche Festhalten an der eigenen Vorliebe nur die völlige
Bedeutungslosigkeit der Alternative." (Slavoj Zizek in: Die freie Wahl
zwischen blauen und roten Tütchen. Warum wir es lieben, Haider zu hassen)




Hier am phantasierten Zentrum der Kaffeekultur, hier in Wien bedient man
sich noch immer des Zuckers. Nicht immer freiwillig, aber nahezu ohne
Alternative. Du bestellst eine Melange mit Süßstoff; serviert wird ein
Kaffee mit Zucker. Du urgierst, du hättest Süßstoff bestellt; die Antwort
ist: "Ja, bitte vielmals um Entschuldigung, bring ich gleich". Nach weiteren
fünf Minuten beeilst du dich, den Zucker in deinen Kaffee zu werfen, damit
er - diesmal nicht wegen des Zuckerersatzes, sondern wegen der zunehmenden
Abnahme der Wärme - nicht ungenießbar wird. Das ist, ich schwör's, kein
Einzelfall: In vielfältigen empirischen Versuchen ist es mir und vielen
Freunden gelungen nachzuweisen, daß, soviel Süßstoff auch bestellt wird,
fast immer nur Zucker serviert wird.

Es gibt Menschen, die die Grundlage dieses Phänomens in der Struktur der
Denkschemata von professionellen KellnerInnen suchen, welche angeblich das
Wort "Süßstoff", oder das hier gebräuchliche Synonym "Kandisin" nicht in
ihrem "Programm" haben, wie z.B. "Melange", "kleiner Brauner", "Sachertorte
 oder ähnliches. Das sei in der jahrhundertelangen Tradition der
Kaffeehäuser einfach ein bißchen zu progressiv. Andere meinen wiederum, daß
es eine gefinkelte kleinkapitalistische und suchtmittelverbreitende Taktik
sei, bei der Bestellung von "Verlängerten" automatisch - und auch gegen die
Regeln der Zubereitung der Wiener Melange - Schlagobers beifügen zu müssen,
bei der Bestellung von Kandisin automatisch Zucker. Das wolle der Kunde so,
weil er seine Erfüllung jenseits der vorgeschriebenen Moden der
spartanischen Zurückhaltung doch im süßen Glück suche.

So sicher wie die KellnerInnen in Österreich mir den Kaffee als
Zwangsmaßnahme nur mit Zucker servieren, und auch davon ausgehen, daß das
dem unbewußten Subcode der Bestellung des Kunden entspricht, so führt die
intellektuelle Herbeiwünscherei der "Wende" zwangsläufig zu einem
conservative turn, zur Machtübernahme der Rechtsextremen unter der
beschwichtigenden Decke mit den Christlich-Sozialen und damit erst zur
wahren Wahllosigkeit. In Österreich haben über Monate vor und nach den
Nationalratswahlen Medien und führende Intellektuelle die Wende getrommelt.
Schnell verschwamm die Kritik an den unglaublichen, aber realen Ausformungen
der sozialpartnerschaftlich dominierten Koalition der Mitte mit dem
Herbeireden einer "Erneuerung", die aufgrund der Kräfteverhältnisse des
österreichischen Parteiensystems groteskerweise nur eine konservative
Restauration sein konnte. Denn schon vor den Wahlen war klar: Da es kaum
Chancen für eine Mehrheit links der Mitte gibt, war die Alternative zur
alten SPÖ/ÖVP-Koalition schlicht und einfach eine Regierungsbeteiligung der
rechtsextremen FPÖ. Prompt werden die für sich schon ohnehin fragwürdigen
Aussagen der Philosophen-Dandies Rudolf Burger und Konrad Paul Liessmann
(s.u.a. die Kontroverse in der Tageszeitung "Der Standard" nach den
Nationalratswahlen, z.B. Liessmann, "Die Intellektuellen und ihr Volk", 30.
10.und gettoattack: "Prinzip der Schuldumkehr, 4.11.,
http://www.derstandard.at/) nun vom neuen Kunststaatssekretär Morak (ÖVP)
aufgegriffen und massiv zu einer Apologie für sein Zusammengehen mit einer
Partei verwendet, deren Chef er noch fünf Jahre zuvor mit einem deftigen
"Raus mit Haider aus Österreich!" bedacht hatte.

Die Pointe Zizeks trifft für Österreich also erstens überhaupt nicht mehr
zu. Es gibt keinen Pluralismus von einander sehr ähnlichen Möglichkeiten
mehr, eine angeblich bedeutungslose Alternative zwischen blauen und roten
Sackerln, sondern - spätestens aufgrund der Festlegung eines
christlich-sozialen Parteichefs - nur eine einzige Variante: die taktisch
motivierte "Normalisierung" der rechtsextremen FPÖ durch die
christlich-soziale ÖVP. Was soviel heißt wie: Selbst und gerade wenn ich
noch so stark gegen Natreen, Saccharin und deren annähernde
Ununterscheidbarkeit auftrete, ich entkomme dem Zucker nicht: die FPÖ ist an
der Regierung, Österreich die Avantgarde Europas, die die Exklusion der
extremen Rechten aus den Regierungen aufhebt und damit den Dammbruch zu
ungekannten Formen politischen Extremismus in Europa verursacht.
Zweitens ist auch aus der Erfahrung in Österreich wieder einmal zu lernen,
daß das kulturelle Feld als die gesellschaftliche Entwicklung begleitender
kritischer Diskurs äußerst leicht Gefahr läuft, in eine affirmative Rolle
innerhalb von Schüben der politischen Restauration zu schlüpfen, auch und
wohl hauptsächlich wegen der zunehmenden Homogenisierung der
Medienlandschaften und einer steigenden Skandalisierungstendenz im
integrierten Spektakel, das die Funktion der Intellektuellen auf die von
plakativen StichwortgeberInnen zu dezimieren tendiert.

Und dennoch und da es nun mal so ist: wie jeder mißlichen Lage sind auch
dieser Situation als Krise die Möglichkeitsbedingungen für etwas Besseres
immanent. Im Gegensatz der von Zizek zu Recht kritisierten und beschworenen
klebrigen Mitte eines Zweiparteiensystems (mit Auswirkungen bis in
zivilgesellschaftliche Bereiche) kann sich aus der Polarisierung nicht nur
eine neue Position der Sozialdemokratie jenseits der neoliberalen Konzepte
des "Dritten Wegs" entwickeln: Noch viel wichtiger wird sein, daß sich ein
neues - post-postpolitisches - System von vielfältigen Antagonismen
ausbildet, deren Verhandlung umso möglicher wird, soweit die Restbestände
zivilgesellschaftlicher Organisation nicht durch kontrollgesellschaftliche
Mechanismen zerrieben werden. Und das ist auch hier in Österreich noch
längst nicht soweit. Wir sind nicht zuckersüchtig, höchstens 27 Prozent!

antagonism versus populism!
support the austrian resistance actions
http://www.t0.or.at/gettoattack
http://www.servus.at/kanal/gegenschwarzblau


Gerald Raunig


PS. Ich entschuldige mich bei allen KellnerInnen Österreichs für die
literarisch zugespitzten Pauschalverurteilungen.

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sektor3/kultur.
Eine Konferenz der IG Kultur Österreich zu den zivilgesellschaftlichen
Facetten des kulturellen Feldes.
31. März bis 2. April 2000
Wien, Kunsthalle Exnergasse/WUK
Infos in Kürze auf
http://www.igkultur.at
Tel: +43 1 503 71 20



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