[rohrpost] Tom Holert: Die nützliche Bedrohung

sebastian.luetgert sebastian.luetgert" <sebastian@rolux.org
Tue, 29 Feb 2000 10:20:55 +0100


        Spex 3/2000

        Die nützliche Bedrohung

        Tom Holert

        Wo liegen die Widerstandspotenziale begraben, im Angesicht der
        AOL-Time-Warner-EMI-Fusion? Ein Gegenentwurf zur vorherrschenden
        Erzählweise des Naturgemäßen.

        Die Skala der Reaktionen auf die Verkündung des "Mega-Merger"
        zwischen AOL und Time-Warner vom 10. Januar 2000, dem einige
        Tage später die Nachricht von der Übernahme des Musikkonzerns
        EMI in das neue Konglomerat folgte, reichte von vollmundiger
        Empörung bis zu nackter Angst, von echter Bewunderung bis zu
        amüsiertem Einverständnis, von Spekulationswut bis zu
        Depression. Gemeinsam aber war fast allen Kommentaren das
        allergrößte Verständnis für die Absichten hinter dieser
        Superfusion. Denn naturgemäß sei es nachvollziehbar, dass sich
        der Online-Dienst AOL, der vor allem über Transportwege und
        Kundenkartei verfüge, mit Lieferanten von "content", also von
        Nachrichten, Unterhaltung, Lizenzen (Time-Warner, EMI) sowie den
        dazugehörigen TV-Kanälen und Tonträgerfabriken, zusammentue;
        naturgemäß gehe es darum, die Marktanteile in jeder Richtung zu
        erhöhen und eine komplette Wertschöpfungskette (also nicht nur
        horizontal, sondern auch vertikal integrativ) aufzubauen;
        naturgemäß dränge die Entwicklung von Medien und
        Kommunikationstechnologie zu immer größerer Verdichtung und
        Verschmelzung, weshalb jetzt auch die Übernahme der
        Telefongesellschaft AT&T nicht mehr ausgeschlossen werden dürfe;
        naturgemäß seien diese verkoppelten Prozesse des Fusionierens
        (ökonomisch) und Konvergierens (technologisch) nicht mehr
        kontrollierbar, schon gar nicht von den einfachen User-Subjekten
        vor den Heimbildschirmen (die anderen, ohne Bildschirme, fallen
        ohnehin aus allen Rechnungen heraus, naturgemäß).

        Klar, es gibt auch Mahner. Die Konkurrenz, wie Summer Redstone,
        der Chef des vor kurzem mit CBS zusammengegangenen
        Viacom-Konzerns, redet von AOLs "aufgeblähtem" Börsenwert und
        den Risiken eines derartigen Mergers. Die netzaktivistische
        Seite meldete sich ebenfalls mit Bedenken. Kurz nach dem
        AOL-Time-Warner-Deal gab es in der Mailing-List 'nettime' den
        Versuch, ein "Anti-Merger-Statement" zu verbreiten, doch kam
        dieses Papier, das vor der demoktratie-zersetzenden Wirkung der
        Fusion warnte, nicht über das Entwurfsstadium hinaus. Dafür
        treten amerikanische Politiker in Aktion. Senator Patrick Leahy
        (www.senate.gov/~leahy/releases/0001/0110_4144.html) fragt sich,
        ob "dieses ganze Konzentrieren und Konvergieren nicht Folgen für
        die Konsumenten impliziert, weil es Wettbewerb und
        Wahlmöglichkeiten minimiert, sowie weniger Stimmen erlaubt und
        weniger Pipelines zuläßt, die in den Markt hineinführen." Auch
        die Europäische Union hat bereits leise Zweifel an der
        Rechtmäßigkeit des Mergers geäußert, ebenso das Kanadische
        Industrieministerium.

        So ergänzen sich die Kritiker der ökonomischen Strategie und die
        Kritiker einer monopolistischen globalen Kommunikationsregie zu
        einem fragilen Chor der Einwände, die sich bis zu den
        Editorial-Autoren der Computerzeitschriften, besorgt um die
        konsumdemokratischen Rechte ihrer Klientel, oder den Anhängern
        von "AOL sucks"-Kampagnen herumsprechen und in vereinzelten
        Verweigerungsgesten (z.B. den eigenen AOL-Account abmelden)
        münden. All diese größeren und kleineren Widerstände verblassen
        aber vor der allgemeinen - eingestandenen oder uneingestandenen
        - Faszination angesichts jenes erhabenen Naturereignisses, als
        das der laufende Konzentrationsprozess in der Medien- und
        Kommunikationsindustrie derzeit wahrgenommen wird. Selbst dort,
        wo man die Rede von der "Schreckensvision" einer neuen,
        durchkommerzialisierten Konvergenz-Ära noch dann und wann
        bemüht, wird wenig Zweifel daran gelassen, dass man sich wohl
        wird "abfinden müssen" mit diesen Zuständen. 'De:Bug' flüchtet
        sich in neckische Analogien ("Teletubby Land"), während die
        'Jungle World' das "AOL überall"-Programm mit tristen Aussichten
        auf den Verlust von "kartellrechtlicher Transparenz wie auch
        journalistischer Unabhängigkeit" in Zusammenhang bringt. Die
        Frage, was eigentlich "zu tun" sein könnte, in dieser Lage, wird
        immer wieder aufgeschoben. Dabei wachsen mit jeder Superfusion
        zumindest die rhetorischen und semiotischen Möglichkeiten von
        kulturpolitischen Demonstrationen. Wenn es je eine Gelegenheit
        gegeben haben sollte, das Duo Kulturkritik-&-Indie-Philosophie
        wieder aufleben zu lassen, dann ist sie mit Hyper-Feindbildern
        wie AOL-Time-Warner-EMI, Disney, Viacom-CBS oder (demnächst?)
        Bertelsmann-Sony Music (bzw. Bertelsmann-Seagram) gekommen.
        Nicht nur der gigantische Homogenisierungsdruck, sondern auch
        die schiere Unausweichlichkeit des Angebots dieser
        Kommunikationstrusts im Alltag der nahen, allzu nahen Zukunft,
        müssten geeignet sein, eine Mobilisierungsenergie freizusetzen,
        die sich letztlich reiner Frustration verdankt.

        Dabei sollte man sich weniger um die "Effektivität" etwaiger
        Aktionen und Solidarisierungen scheren, als Modelle der Analyse
        und Beschreibung der kulturell-technologischen Machtstrukturen
        entwickeln. Für den Moment ist entscheidend, die
        Selbstverarschungsmuster vergangener Perioden der Kulturpolitik
        und Kulturkritik von vornherein zu verhindern, ohne durch ein
        Zuviel an wohlfeiler Selbstreflexivität wiederum an
        Handlungsfähigkeit einzubüßen.

        Worauf immer wieder, bis zur Ermüdung, hingewiesen werden
        sollte, sind die unmittelbaren und mittelbaren sozialen Folgen
        der Vertrustungsprozesse: Wo werden Jobs wegrationalisiert,
        welche neuen Konzepte von Arbeit setzen sich durch, welche
        Formen der Entwurzelung und Dislozierung lassen sich beobachten,
        wer diktiert die Preise (für die Löhne und die Produkte), wie
        genau werden bestimmte kulturelle Haltungen und Verabredungen in
        den komplizierten Netzwerken einer sich einerseits
        uniformierenden, andererseits konstant individualisierenden
        Ökonomie lanciert?

        "Wer sind diejenigen, die interagieren, und wer diejenigen, die
        interagiert werden in dem neuen System?", fragt der spanische
        Soziologe Manuel Castells in seinem Buch "The Rise of the
        Network Society" (1996). Und tatsächlich nähert sich diese Frage
        (nach der Art und Weise von Absenz oder Präsenz in einer
        Gesellschaft, die nur noch die elektronisch gewährleistete
        Repräsentation als triftige Repräsentation anerkennt) mit jedem
        Megamerger einer Antwort, Diese kann natürlich nicht lauten,
        dass die Kulturproduktion lediglich vereinheitlicht werde und
        folglich veröde (was sie natürlich häufig genug tut), sondern
        sie kann darüber informieren, wie Inklusion und Exklusion in
        einer On-Demand-Welt geregelt werden, welchen Disziplinierungen
        ein von AOL-Time-Warner-EMI & Co. dominiertes digitales
        Environment die Leute innerhalb und außerhalb dieses
        Environments unterwirft.

        Mit anderen Worten: Nicht die Tatsache, dass eine bestimmte
        Platte irgendwo aus der Labelstruktur eines Unterhaltungs- und
        Kommunikationstrusts kommt und den CD-(oder MP3-)Player des um
        Korrektheit bemühten Indie-Konsumenten mit ihrer Herkunft
        beschmutzt, ist das Problem, sondern die Tatsache, dass alles,
        was mit diesem Vorgang sonst noch so einhergeht, unterbelichtet
        bleibt. Der "reine" Genuss ist nicht zu haben, weil jeder Genuss
        in der globalisierten "Netzwerkgesellschaft" teuer bezahlt
        werden muss (am wenigsten von denjenigen, die am Ende die
        Kreditkarte zücken). Wie aber kann dafür gesorgt werden, dass
        immer genauer (und immer wieder) die Kosten, die Opfer, die
        Nachteile dieses kulturellen Genusses benannt werden, von der
        Vernichtung von Geschichte bis zur Vernichtung von Lebenszeit?
        Die AOL-Time-Warner-EMI-Fusion mag als Symbol, als neuer
        Leviathan, gute Dienste leisten, aber sie sollte von ihren
        Kritikern nicht als grandioses Naturschauspiel, sondern als eine
        echte Bedrohung dramatisiert werden - zu überführen in ein,
        zwei, drei Wissen über die Logik einer radikalen (und vielleicht
        desaströsen) Beschneidung von sozialen und politischen Chancen.



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