[rohrpost] Nach Genua: Offener Brief: Absender: Christian Th., Haftanstalt Alessandria, Italien

Julia Lazarus julia@t0.or.at
Sat, 11 Aug 2001 15:09:00 +0200


Am Montag dem 13.08 findet die zweite Haftpruefung=20
fuer einige - aber nicht alle - Mitglieder der Volkstheater=20
Kulturkarawane statt, die seit den Ausschreitungen=20
in Genua in Untersuchungshaft festgehalten werden.

Nach Aussagen der italienischen Staatanw=E4ltin Anne Canepa,=20
wird sich die italienische Gerichtsbarkeit bei ihrer=20
Entscheidung nicht von der "innenpolitischen Polemisierung"=20
in Oestterreich beeinflussen lassen.

Im Vorfeld der Verhaftung sind polizeiliche Vormerkungen -=20
Notizen von eifrigen oestterreichischen Volkspolizisten, die=20
nicht juristisch nachgewiesen wurden - aus der EKIS=20
Polizeidatenbank an die italienischen Behoerden weiter-
geleitet worden. Diese "Informationen" waren offenbar=20
massgeblich fuer die Inhaftierung der Volxtheater Kulturkarawane=20
in Italien. Die vertraulichen Daten wurden im Zuge des "=FCblichen"
Informationsaustausch innerhalb des Netzwerks europ=E4ischer=20
Polizeiorganisationen, das sich laut oe. Innenminister=20
Strasser erst im Aufbau befindet, an die italienischen=20
Behordern weitergeleitet.=20

In Zusammenhang mit den von Schily angeregten Gespr=E4chen zu
einem Ausreiseverbot f=FCr politisch engagierte Menschen im
Vorfeld von zuk=FCnftigen Gipfeltreffen, ist dieser Umgang mit
personenbezigenen Daten besonders brisant.

Laut einem Artikel des Oe. Nachrichtenmagizins "NEWS" vom 9.August=20
beruft sich die italienischen Anklageschrift auf diese=20
Aufzeichnunegn aus der oesterreichischen Polizeidatenbank,=20
und spricht von "penali precedenti", also von "Vorstrafen".

Nachdem auch die Gerichte in Goeteburg nicht entsprechend der=20
Sachlage entschieden haben, (Geldstrafen und lange Haft selbst fuer=20
diejenigen, die ihre Schussverletzungen nur knapp ueberlebt haben)=20
kann man sich ungefaehr vorstellen, wie die Entscheidung des=20
italienischen Gerichts ausfallen wird.=20

Im Standard online wurde jetzt ein offener Brief von Christian Thaler=20
veroeffentlicht, in dem er sich unter anderem mit der Praejudizierung=20
durch die oesterreichischen Regierung und Teilen der =F6sterreichischen=20
Presse auseinandersetzt.

http://derstandard.at/standard.asp?channel=3DPOLITIK&ressort=3DGIPFEL&id=3D=
675636


weitere Informationen:
www.no-racism.net/nobordertour


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OFFENER BRIEF:
Absender: Christian Th., Haftanstalt Alessandria, Italien=20


Sehr geehrter Herr Khol!

Ich befinde mich sein nunmehr zwei Wochen
gemeinsam mit anderen Teilnehmern der
=93PublixTheatreCaravan / NoBorder - NoNation
Tour=94 in einem italienischen Gef=E4ngniss in
Untersuchungshaft.

Als Gr=FCndungsmitglied des =93Volxtheater Favoriten=94
darf ich ihnen mitteilen, dass unser nun auch von
Ihnen illegalisiertes Projekt bereits seit dem Jahr
1994 besteht. Wir haben in dieser Zeit etwa
Brechts =93Dreigroschenoper=94, Dario Fos =93Bezahlt
wird nicht=94, Kleists =93Penthesilea=94, Heiner M=FCllers
=93Der Auftrag=94 sowie die Eigenproduktion =93Schluss
mit Lustig=94 als gro=DFe und erfolgreiche
Musiktheaterproduktionen inszeniert. Neben dem
Arrangement zahlreicher Liederabende und
Klein-Performances haben wir seit 1995 unter dem
Titel =93Die schweigende Mehrheit=94 auch immer
wieder mit Stra=DFentheateraktionen im =F6ffentlichen
Raum interveniert.

Am Samstag den 4. August, abends, erhielten wir
eine Ausgabe der Salzburger Nachrichten vom
1.8.2001, in der Sie, Herr Khol, mit den Worten
zitiert werden: "die (Theater-) Gruppe habe sich
immerhin in der Zeitschrift Tatblatt zu
Gewaltaktionen bekannt (?)=94, auch "gebe es
Verbindungen zu Linksextremisten, und eine enge
pers=F6nliche Beziehung zu den Gewaltt=E4tern von
Ebergassing.=94

Zu ersterem m=F6chte ich ausf=FChren, dass wir zur
Promotion bisher keine Pressearbeit im
herk=F6mmlichen Sinn ben=F6tigt haben, um vor
ausverkauften S=E4len zu spielen, oder hunderte
Schaulustige zu unterhalten. Dessenungeachtet
hat nicht nur das Tatblatt, sondern haben
zahlreiche Zeitschriften und Rundfunkbeitr=E4ge
unsere Arbeiten rezipiert.
Selten wurde dabei unterschlagen, dass wir uns in
unseren St=FCcken auch mit Rassismen,
Nationalismen, patriachalen Strukturen oder
Ausbeutungsverh=E4ltnissen auseinandergesetzt
haben. Oder dass wir uns gegen Schubhaft,
Deportation und gegen das Grenzregime im
Rahmen der =93Festung Europa=94 und damit explizit
und immer wieder gegen die allt=E4gliche und
institutionalisierte Gewalt in unserer Gesellschaft
ausgesprochen haben.

Zu zweiterem Vorwurf erscheint es mir einerseits
relativ unerheblich, in welcher Form Sie, Herr Khol,
den Begriff =93Linksextremismus=94 definieren (ob auf
Postbeamte oder Umweltsch=FCtzerInnen, auf
Alternativschulen, BurgschauspielerInnen,
HausbesetzerInnen, Datensch=FCtzer,
GewerkschafterInnen oder Oppositionelle, mit
solchen Termini kann bei Bedarf richtiggehend um
sich geschlagen werden).
Andererseits stellen sich f=FCr mich einige
pers=F6nliche Fragen. Ich habe schon in der
Unterstufe eines Realgymnasiums, im
Geschichtsunterricht gelernt, in welchem
Zusammenhang der Begriff =93Sippenhaftung=94 unter
anderem und nicht zuletzt eine gewichtige Rolle
gespielt hat: im Nationalsozialismus.

Mich w=FCrde interesieren, welche Ausbildung sie
genossen haben, Herr Khol.
M=F6chten Sie mehr =FCber mich erfahren?=20
Etwa, dass mein Vater sich in den Siebziger
Jahren dazu =FCberreden lie=DF, sich an unw=E4hlbarer
(wenn ich mich recht erinnere an
siebenunzwanzigster) Stelle einer Stadtpartei zu
kanditieren. Oder dass meine Mutter es sich noch
nie gefallen lie=DF, wenn sie sich schikaniert f=FChlte
oder Ungerechtigkeit mit ansehen musste, und
sowas wie Zivilcourage besitzt? Dass mein Bruder
unter anderem auch ein wunderbarer Mensch
war? Oder welche Haar- und Hautfarben meine
Kinder besitzen?

Sie und noch einige ihrer Berufskollegen k=F6nnen
sicher noch zahlreiche personenbezogene Daten
gebrauchen, um eine Gruppe Kulturschaffender zu
diffamieren.So viel Angst haben Sie vor einer
kleinen Theaterinitiative.
Wir werden uns jedenfalls vor italienischen
Gerichten f=FCr Konstruktionen, die wohl auch auf
Anregung der =F6sterreichischen Beh=F6rden
entstanden sind, verantworten m=FCssen. Davor
habe ich keine Angst.
Angst habe ich in meinen Tr=E4umen, wenn
faschistoide Polizisten auf Menschen einschlagen,
bis diese zur absoluten Selbstdem=FCtigung bereit
sind. Und manchmal auch vor Menschen wie Ihnen
Herr Khol.
(Es ist schwierig, mir hier in der Haft gesicherte
juristische Informationen zug=E4nglich zu machen,
und dennoch verbleibe ich in der Hoffnung, Ihnen
eines Tages vor Gericht zu begegnen.)

Mit freundlichen Gr=FC=DFen Christian Thaler