[rohrpost] Raum außerhalb des Spektakel- Systems

Ralf Knüfer ralf.knuefer@snafu.de
Sat, 14 Jul 2001 10:54:16 +0200


Die Sonne hat gesiegt
Was erscheint, das ist gut: Philosophen und Globalisierungsgegner
entdecken den Situationisten Guy Debord neu

http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/artikel59765.php


„Arbeitet nie!“ Als der Philosoph, Bohemien, Politaktivist und
Filmregisseur Guy Debord sich am 30. November 1994 mit einem Gewehr ins
Herz schoss, waren die Häuserwände des Athener Studentenviertels
Exarchia voller Worte aus dem Werk des Toten. Dabei war seine große Zeit
lange vorbei: Die Welt trauerte um einen der wichtigsten intellektuellen
Inspiratoren der 68er-Bewegung, einen der großen frühen
Medientheoretiker. Seither ist das wieder erwachte Gespräch über Debord
nicht mehr abgerissen: Internet- Suchmaschinen bieten mehr als 8000
Ergebnisse an. Will man die finnische, die kastilische oder doch die
deutsche Version eines seiner Texte? Will man arabische
Sekundärliteratur zur Kenntnis nehmen, japanische? Alles ist
verzeichnet.

Doch das Netz bleibt oft so ungelesen, wie es enzyklopädisch ist. Jetzt
hat das Magazine Littéraire (No. 399) Debord ein fünfzig Seiten starkes
Dossier gewidmet und ihn damit nachdrücklich zur Entdeckung empfohlen.
Baudrillard, Sollers und andere kommen zu Wort. Im Zentrum des Heftes
steht „Die Gesellschaft des Spektakels“, erschienen 1967, danach bald
als Raubdruck Kultgegenstand und 1996 bei Edition Tiamat neu auf deutsch
herausgekommen.

Das Spektakel? Es ist „Information oder Propaganda, Werbung oder
unmittelbarer Konsum von Zerstreuungen.“ Es ist das Bild der
Gesellschaft, wie sie es von sich selber zeichnet: „Das Spektakel stellt
sich als eine ungeheure, unbestreitbare und unerreichbare Positivität
dar. Es sagt nichts mehr als: , Was erscheint, das ist gut; und was gut
ist, das erscheint.‘“ Was nicht erscheint, ist schlecht. Wer den Raum
des Spektakels betritt, kommt in ein wertfreies, tautologisches Reich
der unendlichen Affirmation. Indem sie ständig glänzende Ereignisse
offeriert, trocknet die Gesellschaft des Spektakels den Raum für
Gedanken aus. Kritik wirkt wie Gemurmel übellauniger Kleingeister. Das
Spektakel zieht alle Aufmerksamkeit auf sich: „Es ist die Sonne, die
über dem Reich der modernen Passivität nie untergeht. Es deckt die ganze
Oberfläche der Welt und badet sich endlos in seinem Ruhm.“

Wer heute die „Gesellschaft des Spektakels“ liest, reibt sich die Augen.
Debords Stichwort war nicht „Massenkommunikation“, nicht „Wunsch-
Maschine“, nicht „Eindimensionalität“, doch stellt Frédéric Martel ihn
zurecht in eine Reihe neben Marshall McLuhan, Deleuze und Marcuse. Mit
dem ersten Teil seines Buchs hat Debord Ende der sechziger Jahre, also
lange vor dem Zeitalter des Infotainments, des Kabelfernsehens und des
Werbebombardements heutiger Ausprägung eine suggestiv-bilderreiche
Beschreibung der Show-Gesellschaft vorgelegt.

Weit davon entfernt, das Spektakel als „Schein“ zu mystifizieren,
beharrt der unkonventionelle Marxist Debord auf dessen materieller
Existenz: „Das Spektakel, das das Wirkliche verkehrt, wird wirklich
erzeugt.“ Die Gesellschaft braucht es, es hat eine definierbare
Funktion: „Als unerlässlicher Schmuck der jetzt erzeugten Waren, als
allgemeine Darstellung der Rationalität des Systems und als
fortgeschrittener Wirtschaftsbereich, der unmittelbar eine wachsende
Menge von Objekt-Bildern gestaltet, ist das Spektakel die hauptsächliche
Produktion der heutigen Gesellschaft.“ Nein, das Spektakel ist nicht
künstlich: „Es ist der getreue Widerschein der Produktion der Dinge.“

Yan Ciret feiert den charismatischen Theoretiker Debord als Exponenten
der poésie vécue, der in der Tradition französischer Moralisten wie La
Rochefoucauld oder Lautréamont, Widerstand geleistet habe gegen die
Vereinheitlichung des Denkens in einer Gesellschaft, von der dann auch
er benutzt worden sei. Ciret leitet Debords Thesen wie üblich vom
„Lettrismus“ her, einer anarchischen Folgevereinigung des Surrealismus,
die zum ersten Mal Aufsehen erregte, als vier ihrer Mitglieder 1950 als
Dominikanermönche verkleidet in Notre-Dame-de-Paris den Gläubigen den
Tod Gottes bekannt gaben. 1951 begegnet der 20jährige Debord am Rande
des Festivals von Cannes, wo er, der Pariser Bürgersohn aus dem grünen
Viertel um die Buttes Chaumont, damals lebte, dem Vater des Lettrismus,
Isidore Isou alias Isidor Goldstein aus Rumänien, der in Anwesenheit von
René Clément und Jean Cocteau seinen ersten Film vorführt.

Bald dreht Debord selber Filme – als Teil einer Revolution der
Wahrnehmung. 1952: „Hurlement pour de Sade“. Was Debord betrieb, war
radikal reduziertes Buchstabenkino. Schon damals war die Störung der
Bilder sein Ziel. Debords letzter Film, „in girum imus nocte et
consumimur igni“ (1981, „Wir irren bei Nacht im Kreis umher und werden
vom Feuer verzehrt“), der vor kurzem in Berlin wieder zu sehen war,
beginnt mit fünfzehn Minuten Dunkelheit.

Der Wunsch zu schlafen

Von Beginn an war der Kunstrevolutionär ein politischer Kopf. Der Gruppe
„Sozialismus oder Barbarei“ nahe stehend, einer trotzkistischen
Splittervereinigung, der damals auch Jean-François Lyotard angehörte,
wurde Debord jedoch schnell zum Außenseiter, der totalitaristische
Ideologien als Spektakel verstand und Systeme aller Art ablehnte. Das
ließ ihn früh zum Stalin-Gegner und Maokritiker werden.

Der mit nietzscheanischem Größenwahn, aber auch mit dessen Witz
ausgestattete Debord wird neben Asger Jorn zum führenden Mitglied der
„Situationistischen Internationale“, die mit den Künstlergruppen „Cobra“
und „Spur“ verbunden ist. Politisch forderten die Situationisten
Arbeiterräte, Selbstbestimmung und empfahlen wilde Streiks. Entscheidend
war die Guerilla- Taktik. Als Mittel dazu galten überraschende Aktionen,
Gegen-Spektakel. Einer der Schlüsselsätze der Bewegung gehört Debord:
„Ein Abenteurer ist der, der dafür sorgt, dass Abenteuer geschehen. Also
nicht einer, dem Abenteuer begegnen.“

Führt man Debords analytisch-beschwörende Kritik einer die ganze Welt
beherrschenden Spektakel-Gesellschaft mit seinem bohemehaften
Lebenswandel, seiner Tendenz zu einer internationalen partisanenhaften
Praxis zusammen, so erklärt sich seine Aktualität für die
Widerstandsversuche der Antiglobalisierungsbewegung. Zu ihr besteht ein
personelles Bindeglied: Der Situationist René Riesel war eine Zeit lang
Teil der theoretischen Mannschaft José Bovés. Doch die Verwendbarkeit
Debords scheint richtungsneutral. Aber auch die Rechte um Alain de
Benoist und die Verteidiger von Saddam Hussein begreifen seine
Medienkritik, die in den späten „Commentaires“ paranoide Züge annimmt,
als Theorie der gegen sie gerichteten Weltverschwörung.

Wenn Frédéric Martel sich mit Jean Baudrillard, der seine Beiträge aus
der Zeitschrift Utopie (1967-1978) jetzt neu herausgegeben hat,
unterhält, spürt man Distanz und Nähe zum Objekt. Einerseits setzt sich
Baudrillard von der Dialektik ab, die er hinter Debords Konzepten sieht.
Andererseits führt er die eigenen Anfänge und jene Debords über die
Lektüre von Bataille, Walter Benjamin und der Frankfurter Schule
zusammen. Theoretisch gibt er Debord recht: Die Sonne hat gesiegt. Der
Raum außerhalb des Spektakel- Systems ist verschwunden. Dieses System
hat heute vor allem ein Problem: Es ist „ohne jedes Ziel“.

„Das Spektakel“, sagt Debord, „ist der schlechte Traum der gefesselten,
modernen Gesellschaft, der schließlich nur ihren Wunsch zu schlafen
ausdrückt. Das Spektakel ist der Wächter dieses Schlafes.“

HANS-PETER KUNISCH