[rohrpost] "Empire" - Kritik

holger schulze schulze@udk-berlin.de
Wed, 29 May 2002 14:00:44 +0100


dazu dreierlei :


1. es hat mich schon seit mitte der 90er jahre irritiert wie plötzlich
wieder immer mehr leute ganz ohne scheu, ohne peinlich zu wirken,
wieder von _kapitalismus_ sprechen konnten. ein wort, das zwischen 
85 und 95 kaum mehr unironisch auszusprechen war, sondern seinem
sprecher eher als ein zeugnis von geistiger verwirrung und
absurdem sektierertum ausgelegt wurde.


2. ich teile die diagnose von jörg lau - halte dies aber nicht unbedingt
für ein argument _gegen_ empire. es spricht sogar eher _für_ dessen
wirkung & bedeutung. 

gerade weil empire einen kursierenden jargon, eine nur 
halbverstandene und vage rezipierte terminologie, einen 
satz von quellen und denkfiguren zusammenfasst (der vergleich
mit _anti-oedipe_ ist treffend) und zu einem rhetorisch 
beeindruckend lesbaren, wenn auch eher rhapsodisch als 
logisch verstehbaren text zusammenfügt, schafft es einen
referenzpunkt, den viele versprengte rebellionswütige seit
mitte der 90er gesucht haben. 

empire ist von vorneherein - rhetorisch und theorie-marktmäßig -
als _das_ fehlende buch konzipiert. als die theoriewichsvorlage, 
das revolutionsmanifest, die messianische schrift. dass sie dies 
inhaltlich nur in selbstreferenz auf ein bestehendes theorie-
kontinuum argumentativ stützen kann, ist nicht ungewöhnlich, 
sondern üblich. dies ändert nichts an wirkung und bedeutung 
von empire, sondern stärkt diese, wirkt als theorieverstärker
und große revolutionserzählung, die all das zusammenfasst, was 
latent schon länger kursiert.

jörg laus kritik in der zeit folgt einem muster nach dem noch alle 
rhetorischen manifestschriften (und welches manifest wäre nicht 
rhetorisch?) abgewiesen wurden. 

wirksam waren diese dennoch. bedeutung haben sie bis heute.


3.

>Empire
>verhält sich zu ernsthafter Gesellschaftskritik und Politikwissenschaft
>"wie Pornografie zu Literatur". 

dies scheint mir vollkommen korrekt. aber auch hier gilt :
eben weil es eher pornografie als literatur ist, wird es wirkung
haben. im gegenwärtigen umfeld der theoriediskussionen und
des symposions-zirkus auf internationaler ebene geschieht eine verstärkung
der reize automatisch - nicht anders als in anderen märkten der 
internationalen unterhaltungsindustrie.

empires bedeutung liegt genau darin : 

ein rhetorischer theorie-porno zu sein, der eine stimmung
aufheizen hilft. dass seine dennoch bestehenden argumentativen stärken
darin untergehen, ist bedauerlich - aber ebenso nicht ungewöhnlich.
historisch gesehen ist es eher der normale preis einer schnellen, 
weitreichenden wirkung.

war die historische bedeutung einer theorieschrift jemals 
abhängig von ihrer theoretischen redlichkeit oder gar 
überzeugungskraft?

empire hat eine historische bedeutung.
und die ist jetzt schon spürbar.


















 dr.holger schulze  
 soundXchange
 universität der künste berlin
 postfach 120544
 d-10595 berlin

 http://new.editthispage.com
 http://www.udk-berlin.de/soundXchange