[rohrpost] Re: def. medien und medienwissenschaft (florian cramer)

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Son Jul 20 22:43:45 CEST 2003


Am Mittwoch, 16. Juli 2003 um 14:01:51 Uhr (+0200) schrieb Martin Lindner:
 
> deine kritik beruht, wie mir scheint, auf einem von dir aufgebauten, allzu 
> schlichten gegensatz zwischen verschwurbelter geisteswissenschaft auf der einen 
> seite ("geschichtsmetaphysik", unexaktes hermeneutisches auslegen von letztlich 
> beliebigen "konnotationen") und exakter, no-nonsensehafter IT-theorie, die sich 
> letztlich am guten alten telegrafischen kommunikationsmodell von shannon/weaver 
> orientiert.

Ich würde es anders formulieren: Das Konzept der Medienwissenschaft mit
dem telegraphischen Kommunikationsmodell schon durch den Wortsinn des
"Mediums" untrennbar verbunden, und es ist nicht mehr zeitgemäß, weil
dieses Modell z.B. algorithmisch gesteuerte Informationstechnik nicht
adäquat beschreibt. Das Problem ist also der Terminus "Medium" bzw.
"Medien", dessen Wortsinn schlicht nicht trägt, was er mittlerweile
beschreiben soll.  Was heute "Medienwissenschaft" heißt, ist de facto
eine Wissenschaft technisch (1) generierter, (2) übermittelter und (3)
prozessierter/interpretierter Zeichen und müßte deshalb adäquat
"technische Semiotik" heißen. Ich halte diese Begriffsdifferenz deshalb
für nicht trivial oder bloß scholastisch, weil sie bedeuten würde, daß
man sich anderer Theorien und Methoden bedienen, man z.B. an Peirce und
Saussure statt an Kracauer und McLuhan anküpfen müßte. (Noch Manovich
ist in dieser Sichtweise gefangen, wenn Computersoftware aus der
Perspektive der Filmtheorie untersucht; was nur deshalb [zirkulär und
deshalb unkritisch] funktioniert, weil der Erfinder des graphischen
Benutzerinterface, Alan Kay, selbst McLuhanianer war und Computer als
Medien verstand.) 

Wie Du treffend anmerkst, ist der Begriff "Medien" Teil einer bestimmten
Wissenschafts- und Kulturgeschichte, die man auch mit Terminologiekritik
nicht wegdiskutieren kann. Nur ist das Problem, daß genau eben diese
Denktradition mit ihren falschen bzw. unzureichenden Methoden noch nicht
historisch geworden, sondern sehr real präsent ist und in dieser Präsenz
den Blick z.B. auf Computernetzkulturen verstellt (weil sie eben den
Netzcomputer partout nur als "Medien" in der Tradition McLuhanscher
Massenmedien lesen kann und will). Bevor man also, wie Du es
vorschlägst, "Medienwissenschaft" als kulturhistorische Untersuchung der
Rede von "den Medien" betreibt, muß man erst einmal das tote Holz und
die Mißverständnisse abräumen, die sich mit den Begriffen "Medien" und
"Medienwissenschaften" verbinden.

> ansonsten weise ich den vorwurf der zirkularität zurück: alle angekreideten 
> sätze enthalten eine nicht-triviale zuspitzung des medienbegriffs. und "was ich 
> genau als medien definiere", hatte ich doch gehofft, gegen ende gesagt zu haben. 
> noch mal stark verkürzt: ein eigendynamisches (rekursives, autopoietisches ...) 
> system im zeichenzirkulationsprozess mit (1) einer technischen, (2) einer 
> semantischen und einer (3) sozial-systemischen dimension. man muss das übrigens 
> dann nicht unbedingt "medien" nennen, aber ich finde das aus mehreren gründen 
> sinnvoll.

Hierin liegt, scheint es mir, unsere einzige echte Differenz. Ich würde
gerne ohne diesen Begriff auskommen bzw. ihn erheblich spezieller definieren 
und deshalb vorsichtiger verwenden. 

> du vertrittst, wenn ich das recht verstehe, die reduktionistische position, dass 
> medienwissenschaft eigentlich kanalwissenschaft bzw. codewissenschaft im sinn 
> der komplexeren IT-entwicklungen der letzten jahre sein sollte. 

Nein umgekehrt: Die Medienwissenschaft sollte sich mit dem, was
sie beschäftigt, nicht mehr "Medienwissenschaft" nennen. In den
1950er-70er Jahren gab es in Gestalt der Semiotik, Kybernetik,
Informationswissenschaft und der "Informationsästhetik" (ein Begriff Max
Benses) bereits tragfähige und präzise Konzepte, die offenbar nur wegen
ihrer damaligen ideologischen Affinität zu einem positivistischen
Technizismus über Bord geworfen wurden, oder auch nur, weil es einfach
hipper war, von "Medien" zu reden. 

-F

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