[rohrpost] Medien des Lebens

Claus Pias claus.pias at ruhr-uni-bochum.de
Die Jun 17 19:47:29 CEST 2003


Medien des Lebens

Internationale Tagung der Forschungsgruppe
"Das Leben schreiben",

Bauhaus-Universität Weimar
26.-29. Juni 2003

Tagungsort: neudeli,
Helmholtzstraße 15

Das moderne Wissen vom Leben hat sich seit dem 19. Jahrhundert in einem
engen Wechselverhältnis zwischen life sciences und Medientechnologien
formiert. Von Apparaturen und Instrumenten in physiologischen Labors über
Techniken der Darstellung und Repräsentation bis hin zu einer umfassenden
und vielseitigen Literatur reicht ein Medienverbund, der für die Konjunktur
des Lebensbegriffs sowie für die weitläufige Zirkulation von Vorstellungen
und Phantasmen über die Herkunft, das Wesen und die Gesetze des Lebens
verantwortlich ist. Dabei geht es um das Aufschreiben elementarer
Lebensäußerungen von Organismen ebenso wie um Modellbildungen, in denen man
biowissenschaftliche Beobachtungen auf andere soziale oder technische
Milieus überträgt. Dass das Vitale dabei überhaupt zu einem kulturellen
Leitkonzept der Moderne werden konnte und in die verschiedensten
Wissensgebiete und Disziplinen hinein wirkt, liegt nicht zuletzt an einer
Konstellation, die mit der Frage, was das Leben sei, eine enge Verschränkung
von technischen und diskursiven, wissenschaftlichen und ästhetischen
Strategien aufgerufen hat. Die Kraft des “Lebens³ dokumentiert sich in
zuckenden Froschschenkeln, sie koordiniert die Funktion von Zellen und
Organen, sie treibt die Entwicklung von Arten und Individuen hervor und soll
­ seit dem 19. Jahrhundert ­ noch in den großen Schöpfungen der Geschichte,
der Kultur und der Kunst erkennbar sein.

Diese Hinweise stecken ein Feld von historischen Themen, von sachlichen und
methodischen Fragen ab, denen die Tagung “Medien des Lebens³ gewidmet sein
soll. Es wird damit eine Perspektive nahe gelegt, in der sich neuere
Überlegungen aus den Bereichen von Wissenschaftsgeschichte und
Medienwissenschaft miteinander verknüpfen. Auch die Formierung
wissenschaftlicher Sachverhalte verlangt demnach eine Analyse jener
technischen, symbolischen und medialen Bedingungen, unter denen ein neues
Wissen sich konstituiert, durchsetzt und in Umlauf gerät. Und gerade die
Lebenswissenschaften lassen sich nicht von der Gesamtheit diskursiver,
technischer und ästhetischer Verfahren trennen, die einen eigenen
Objektbereich, mithin eine Kodierung des Lebens und seiner diversen
Äußerungen garantieren. Die historische Sichtung des Zusammenhangs von Leben
und Medien soll darum die Betrachtung von Laborexperimenten und
wissenschaftlichen Diskursen ebenso einschließen wie die Darstellungsweisen
in Kunst und Literatur. Dabei werden folgende Aspekte im Mittelpunkt stehen:

Das Wissen vom Leben und seine Epistemologie
Das Leben ist weder ein natürlicher Gegenstand noch ein vorgängig gegebenes
Objekt der Wissenschaften. Vielmehr wird es auf eigentümliche Weise durch
ein Gefüge aus Medien, Diskursen und Praktiken erzeugt. Welche Rolle spielen
einerseits das Gefüge der materialen Kultur und andererseits ästhetische
Kategorien wie Nachahmung, Fiktion oder Illusion bei der Konstituierung des
epistemischen Objekts “Leben³? Wie verhält sich eine Geschichte von
Präsentationsweisen in Experimenten, Laboratorien oder musealen Sammlungen
zu einer Geschichte des Wissens vom Leben? Und wie wäre eine Geschichte des
Wissens vom Leben zu schreiben, die nicht allein auf Fortschritt,
Erkenntnisprogress und Wahrheit verpflichtet ist, sondern den wechselnden
historischen Konstellationen und Regeln der wissenschaftlichen
Aussagenproduktion Rechnung trägt?

Medientechnologien 
Schrift- und Bildmedien, Aufzeichnungstechniken und Institutionen sind an
der Herstellung, Verwaltung und Verbreitung eines Wissens vom Leben
beteiligt. Und dieses Wissen ist durchaus von ästhetischen Verfahren und
Entscheidungen geprägt, die mehr als nur unscharfe Nachbilder des
szientifischen Diskurses sind. Damit stellt sich die Frage, wie der
Lebensbegriff durch unterschiedliche Disziplinen und Bereiche wandert, und
welche Transformationen er dabei erfährt. Wie konstituiert sich etwa ein
Wissen vom Leben in jenen Darstellungen und Inszenierungsweisen, durch die
verschiedene Prozeduren der Verbildlichung bestimmt werden? Wie prägen
rhetorische Verfahren und performative Strategien die Versuchsanordnungen
der Lebenswissenschaften und ihre Theoriebildungen? Wie stellen die
Verwaltung der am Leben erhobenen Daten und verschiedene
Aufzeichnungstechniken (Méthode graphique, Fotographie, Film) Evidenzen her?
Und welches Unbewusste wird beim Zusammenschluss von Medientechnologie und
life sciences erzeugt?

Die Streuung des Wissens
Das Leben wird seit dem 19. Jahrhundert ebenso zu einem statistisch
berechenbaren Sachverhalt wie zu einer mythologischen Ressource. Das Wissen
vom Leben tritt aus seinem disziplinären Zusammenhang heraus, streut in
unterschiedlichste Disziplinen und Bereiche und übernimmt dort Funktionen,
die weit über Analogiebildung oder wechselseitige Metaphorisierung hinaus
reichen. Wie gelangen Begriffe der Lebenswissenschaften wie Evolution,
Selbstorganisation oder Emergenz in historische, soziologische und
philosophische Theoriebildungen, und welche Funktionen übernehmen sie dort?
Wie sind Konzepte der Lebenswissenschaften (tierische Elektrizität,
Sinneswahrnehmung, Reizleitung) an der Entstehung neuer Medientechniken
beteiligt? Wie wird die Entwicklung optischer Geräte durch die
lebenswissenschaftliche Forschung vorangetrieben? Welche Wissensformen und
Mythologeme nähren das biopolitische Projekt der Moderne, das auf Kontrolle,
Steigerung und Züchtung des Lebens zielt? Ließe sich in dieser Hinsicht von
einem Leben der Medien sprechen?



Donnerstag, 26. Juni 2003

Moderation: Cornelius Borck

15:00 Uhr Begrüßung, Einführung

15:30 Uhr Jakob Tanner
Von der Leichensektion zur experimentellen Erforschung des Lebens:
Körpermodelle und die Moral der Wissenschaft im historischen Wandel

17:00 Uhr Erich Hörl
Das Leben im Zeitalter der Krisis. Zur historischen Epistemologie des
Neointuitionismus
18:30 Uhr Markus Krajewski
Ein Rudel Hirsche



Samstag, 28. Juni 2003

Moderation: vormittags Claudia Blümle, nachmittags Armin Schäfer

10:00 Uhr Michael Gamper
Der künstliche Mensch und die Masse. Das Wissen vom Leben und die
Gemeinschaft im Film der 1920/30er Jahre

11:30 Uhr Ute Holl 
Seesterne, Medusen und Vampire: Vom Leben auf filmischen Zeitachsen

danach: Mittagspause

14:30 Uhr Franziska Uhlig
Zur ästhetischen Simulation von Lebendigkeit

16:00 Uhr Frank Fehrenbach
colore vitale. Die Lebendigkeit der Bilder in der frühen Neuzeit

17:30 Uhr Gottfried Boehm
enargeia/energeia. “Lebendigkeit³ als ikonische Kategorie



Sonntag, 29. Juni 2003

Moderation: Cornelius Borck

10:00 Uhr Benjamin Bühler
Von der organischen Formbildung zur Allgemeinen Systemtheorie: Ludwig von
Bertalanffy

11:30 Uhr Maren Lehmann
"Was für ein Leben!" Zur Problematisierungvon Individualität in der
Biographie

13:00 Uhr Gerburg Treusch-Dieter
Archäologie und Gegenwart der Spirale.Zur Wiedergeburt der Golden Helix



Freitag, 27. Juni 2003

Moderation: vormittags Anja Lauper, nachmittags Alessandro Barberi

9:30 Uhr Gerhard Wiesenfeld
Übersetzung in die Instrumentalsprache. Die Figuren in Johann Wilhelm
Ritters “Beweis, dass ein beständiger Galvanismus den Lebensprocess im
Thierreich begleite³

10:45 Uhr Burkhardt Wolf
Mystischer Unfall. Zu Fechners Selbstversuchen

12:00 Uhr Claus Pias
Wiederholung und Zufall. George Gamows Programme des Lebens und des Krieges

danach: Mittagspause

14:30 Uhr Julia Voss
Darwins Diagramme. Eine Debatte um Punkt, Linie, Strich

16:00 Uhr Soraya de Chadarevian
Models and the Making of Molecular Biology

17:30 ­ 19:30 Uhr Führung durch Goethes naturwissenschaftliche
Sammlungen (aufgrund der Räumlichkeiten nur für Referentinnen und
Referenten)

 

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Claus Pias
Ruhr-Universität Bochum
Institut für Medienwissenschaft
Universitätsstr. 150 / Gebäude GB 3/34
44780 Bochum