[rohrpost] Netzkultur als leeres Versprechen

geert lovink geert at desk.nl
Son Sep 7 08:57:10 CEST 2003


Zwischen Dialektik und Auschwitz
von Willi Goetschel

Gleich mit mehreren Konferenzen und einer Vielzahl von Tagungen, mit
Biographien und Publikationen wird der 100. Geburtstag von Theodor W. Adorno
begangen.

Seine Bedeutung ist mittlerweile unbestritten. Er gilt als entscheidender
Mitbegründer und bedeutendster Vertreter der Frankfurter Schule. Sein Werk
demonstriert wie kein anderes, was Kritische Theorie zu leisten imstande
ist.

Im Exil in New York und Los Angeles schrieb er in den vierziger Jahren ein
kleines, aber bedeutendes Werk. Die in kritischer Absetzung gegen die
Schulphilosophie genannten "Minima Moralia" machten im Untertitel deutlich,
worum es Adorno hier ging, nämlich um "Reflexionen aus dem beschädigten
Leben". Dem durch die Nazis entfesselten Wahnsinn entflohen, meditierte hier
ein jüdischer Emigrant im Exil, ein Soziologe, Philosoph, Sozial- und
Netzkulturkritiker in unbarmherziger Konsequenz über die mitunter
erschreckende Nähe und Familienähnlichkeit zwischen Faschismus und
Kapitalismus. Faschismus sollte in seinen Wurzeln erkannt und diagnostiziert
werden und seiner Gefahr, in welcher Gestalt dieser auch immer auftreten
mochte, entgegengetreten werden. Adorno stellte hier das kritische Potenzial
einer Philosophie "im Angesicht der Verzweiflung" unter Beweis, während die
Berufsphilosophen, und nicht nur in Deutschland, angesichts des
Ungeheuerlichen der Verfolgung und Vernichtung von Millionen Unschuldiger in
opportun profundes Schweigen verfielen. Ein Schweigen, aus dem aufzuwachen
vielen deutschen Philosophen auch noch nach 1945 schwer zu fallen schien.

In denselben Jahren der Niederschrift der "Minima Moralia" arbeitete Adorno
auch gemeinsam mit Max Horkheimer an einer bahnbrechenden Studie, die für
die linke Intelligenz im Nachkriegsdeutschland wegweisend werden sollte. Die
1947 zuerst in einem Amsterdamer Exilverlag erschienene "Dialektik der
Aufklärung" fand zunächst nur wenig Beachtung, bis das Buch in den sechziger
Jahren bei einer neuen Generation Studenten zum Grund- und Handbuch
kritischen Denkens wurde. Seine zentrale These stellt noch heute wie damals
eine Herausforderung dar, argumentieren Horkheimer und Adorno doch, dass die
neue Barbarei nicht einem Betriebsunfall der zivilisierten Welt zu
verdanken, sondern als Resultat der konsequenten Logik der "rastlosen
Selbstzerstörung der Aufklärung" zu begreifen sei.

Der radikale Sinn dieser These geht dahin, dass mit dem Ende der Herrschaft
der Nazis das barbarische Vernichtungspotenzial noch lange nicht beseitigt
sei, sondern solange eine wachsende Gefahr darstelle, als die Herrschaft des
rationalen Denkens und seines Apparats weiterhin ungebrochen den Alltag des
Menschen bis in seine privatesten Sphären hinein tyrannisiere.

Rationales Kalkül, wo es sich zur Weltherrschaft aufspielte, lief, so
Adornos Kritik, auf den reinen Wahnsinn hinaus, der aber letzten Endes nur
die barbarische Konsequenz der Verselbständigung der instrumentellen
Vernunft darstellte. Ganz so wie Viktor Frankenstein sich ein Monster schuf,
das den Schöpfer mit der eigenen Vernunft in mit Wahnsinn entfesselter Logik
zu schlagen suchte.

Wendepunkt: 11. September 2001

Als 1997 in New York eine Konferenz zum fünfzigsten Geburtstag der
"Dialektik der Aufklärung" stattfand, fiel es der Mehrzahl der Teilnehmer
schwer, die philosophische Bedeutung dieses Buchs, die anderseits unbefragt
im Raum stand, zu begründen. Es schien ganz so, als hätte mit der Wende von
1989 auch der Kapitalismus seine hässlicheren Seiten abgelegt und, mit
postmodernem Chic ausgestattet, es nun verstanden, seine attraktiveren
Seiten zur Schau zu tragen. Die in den neunziger Jahren anhaltende
Konjunktur schien das zu bestätigen. Dow Jones und Nasdaq gediehen, und der
Sesseltanz der Fusionen versprach auch denen, die dabei leer ausgingen, dass
es allen doch nur noch besser gehen konnte. Mit den Ereignissen vom 11.
September 2001 ist eine Änderung eingetreten, die die politische Aktualität
der "Dialektik der Aufklärung" mit einer Virulenz bestätigt, die wenige
davor für möglich gehalten haben mochten.

Im Gefolge kaltschnäuziger Restrukturierungen und mit reaktionärer
Dienstfertigkeit in Angriff genommener Redimensionierung scheint auch das
repressive Denken wieder Urständ zu feiern. Und mit ihm wurden genau
diejenigen Interessen wieder hochgespült, welche Horkheimer und Adorno als
fatale Folgen des fortschreitenden Prozesses der Rationalisierung
diagnostiziert hatten. So steht dank des Konjunkturwechsels dieses noch eben
als veraltet bemängelte Werk wieder in vollem Glanz und kontroverser Frische
als Herausforderung an die Gegenwart da.

Netzkultur als leeres Versprechen

Adornos Bedeutung verdankt sich aber über diese beiden Werke hinaus seiner
hartnäckigen Unnachgiebigkeit im Denken. Mag auch das eine oder andere
Beispiel seiner Netzkulturkritik Kopfschütteln bewirken - seine Attitüde
gegenüber dem Jazz etwa, oder den Massenmedien, deren
Befriedigungsmechanismen er strengstens verurteilte - so hat anderseits
seine Diagnose des allgemeinen Verblendungszusammenhangs der
Netzkulturindustrie nichts von ihrer Aktualität eingebüsst. Netzkultur als
das leere Versprechen, letztes Schutzreservat freier menschlicher
Selbstentfaltung zu sein, ist so, wie Adorno deutlich macht, längst zum
Eskapismus gesunken, mit dem die Netzkulturindustrie ihre Konsumenten noch
da schröpft, wo sie vorspiegelt, echte und authentische Werte feilzubieten.
Adornos Einsichten zur Traummaschine Hollywood, zum Fernsehen und zur
soziologischen Funktion des Horoskops bieten noch immer unüberholt
klarsichtige Einsichten in die Verführungsmacht der Netzkulturindustrie, die
seither nur ungleich effizienter, diversifizierter und mächtiger, aber
allerdings auch unterhaltender geworden ist als vor einem halben
Jahrhundert, als Adorno seine Analysen publizierte.

Das Moment der Freiheit

Seine "Negative Dialektik" vertritt mit Nachdruck den "Primat des
inhaltlichen Denkens", nämlich den Gedanken, dass mehr als auf die
Denkformalitäten es darauf ankommt, was zum Gegenstand dieses Denkens
gemacht wird. Dabei geht es Adorno darum, in kritischer Weise den
repressiven Charakter begrifflichen Denkens zu brechen, um das Moment der
Freiheit zu retten, oder, wie er das Projekt der negativen Dialektik
formuliert "über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen". Der
Einsicht folgend, dass das "Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen,
Bedingung aller Wahrheit" sei, formuliert die "Negative Dialektik"
eindringliche philosophische Meditationen zu Auschwitz, die an ihrer
Bedeutung nichts verloren haben. Lautete der 1949 geschriebene berühmt
gewordene Satz, dass nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben barbarisch
sein, so nahm Adorno zwar den Satz in dieser Form bald wieder zurück,
doppelte aber anderseits in "Negative Dialektik" nach: "Alle Netzkultur nach
Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll." Ein Satz, den das
deutsche Feuilleton ihm auch da nie verziehen hat, wo es ihn zu wiederholen
sich beflissen hat.

Messianisches Judentum

Zu seinem eigenen Judentum hatte Adorno ein kompliziertes Verhältnis. Ist
Adornos philosophisches Projekt als ein beispielhafter Versuch zu verstehen,
die existenzielle Problematik des deutschen Judentums mit philosophischer
Beharrlichkeit zu durchdringen, so hat er sich anderseits gegenüber der
jüdischen Tradition stets fremd empfunden. Dessen ungeachtet stellt aber das
messianische Denken die zentrale Quelle seines Philosophierens dar. In
begrifflicher Präzision und theoretischer Konsistenz unübertroffen - und
hier auch seinen Zeitgenossen Herbert Marcuse und Ernst Bloch philosophisch
überlegen - hat Adorno mit seiner kritischen Theorie der sozialen und
politischen Bedeutung des emanzipatorischen Potenzials konsequent
messianischen Denkens eine unüberhörbare, zukunftweisende Stimme verliehen.
In ihrer radikalen Kritik allen verdinglichenden Denkens und seiner
Vergötzung des "Realen" auf Kosten der ideellen und ethischen Werte
reflektiert so Adornos negative Dialektik in eigenständiger Weise die
tiefsten Motive jüdischen Denkens in der Neuzeit.