[rohrpost] Rudolf Maresch: Bin Ladin in Nike-Schuhen

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Mon Jun 9 08:18:45 CEST 2003


Bin Ladin in Nike-Schuhen
Wie der Philosoph Norbert Bolz den 11.9. verarbeitet

Rudolf Maresch, Telepolis, 08.06.2003

Vor einiger Zeit hat Robert Kagan in "Macht und Ohnmacht" Europa als
posthistorisches Paradies von Frieden und relativem Wohlstand
beschrieben, das der Realisierung von Kants "Ewigem Frieden" sehr nahe
kommen soll. Dagegen blieben die Vereinigten Staaten der Geschichte
verhaftet. Sie übten Macht in einer anarchischen Hobbesschen Welt aus,
in der auf internationale Vereinbarungen und Regeln kein Verlass sei,
Freiheit und Sicherheit aber vom Besitz und der Ausübung militärischer
Macht abhingen.

Von diesem Clash in den westlichen Beziehungen liest man im
"konsumistischen Manifest", dem letzten Buch von Norbert Bolz, das im
knalligem Ferrari-Rot daherkommt, nichts. Und vom US-Unilateralismus
und seinen "Befreiungstheologen" ebenso wenig. Wo US-Amerikaner den
Atlantik stetig breiter werden sehen und das "Ende des Westens"
weissagen, dominiert bei Bolz noch die bekannte, einheitliche Idee vom
Westen, die vom Ende der Geschichte, vom globalen Siegeszug des
Liberalismus und der Demokratie sowie von der Stilllegung des Kampfes
um Anerkennung geprägt wird.

Das gemeinsame Band stiftet dabei weniger ein formales Rechtssystem,
das auf verbindlichen Regeln, Normen und Prinzipien fußt und von
Kooperation, Dialog und gegenseitigem Vertrauen getragen wird, als
vielmehr ein liberales Markt- und Tauschsystem, das durch globale
Waren-, Geld- und Kapitalströme beatmet und am Leben erhalten wird.

Konsumiert mal schön!

Derzeit wird dieses System von einem neuen Fundamentalismus
herausgefordert: dem militanten Islam. Die Anschläge vom elften
September hätten das eindrucksvoll gezeigt. Mit dem Sturz der
Zwillingstürme seien laut Bolz auch etliche Gewissheiten des Westens in
ihren Grundfesten erschüttert worden. Beispielsweise die wohlmeinende
Vorstellung, dass Dialog und Toleranz gegenüber anderen Religionen,
Ethnien und Kulturen zum schiedlich-friedlichen Ausgleich, zu mehr
Frieden, Stabilität und Sicherheit in der Welt führen werde. Obendrein
hätten die Anschläge deutlich gemacht, dass die Strukturen und
Institutionen der vernetzten Weltgesellschaft noch nicht überall in der
Welt verankert seien. Folglich gäbe es noch etliche Orte, Plätze und
schwarze Löcher auf dem Planeten, in denen Gewalt und Fanatismus
regierten und Pläne für Umstürze und blutige Attentate gedeihen
könnten.

Wer etwas dagegen tun möchte, Fanatiker, Terroristen und Gotteskrieger
von ihrer Wut, ihrem Zorn und Hass auf "den Westen" heilen und von
ihrem gewalttätigen Vorhaben abbringen wolle, der müsse vor allem
"Risikostaaten mit dem konsumistischen Virus infizieren" und versuchen,
sie in die westliche "Konsum- und Produktivgenossenschaft" (Carl
Schmitt) einzugliedern. Gegen sie hülfe demnach nicht der westliche
Universalismus der Menschenrechte, sondern zuallererst Anbindung an das
Marktgeschehen sowie die rasche Verbreitung von Geld, Handel und Konsum
in diesen Staaten.

"Handel ist das funktionale Äquivalent zur Gewalt," meint Bolz
selbstsicher. Wer Handel treibt und konsumiert, so schlussfolgert der
Medienwissenschaftler, führt keine Kriege, von Waffen- und
Drogenhändeln mal abgesehen. Konsumenten sind in aller Regel
friedliebende Wesen. Sie schmeißen weder Bomben, noch kapern sie
Flugzeuge oder schneiden anderen im Namen Gottes die Kehle durch.

Der Konsumismus ist das Immunsystem der Weltgesellschaft gegen den
Virus der fanatischen Religionen.

Das ist die Kernthese des Buches. Nicht Religion, wie noch bei Marx,
sondern "wirtschaftlicher Erfolg" ist Opium für Fanatiker. Er coolt
Leidenschaften, besänftigt heiße Gemüter und führt Feindschaften in
Kundschaftsverhältnisse über.

Politische Nullität

Die neutralisierenden, entpolitisierenden und zivilisierenden Effekte
des Marktsystems gegen das Politische auszuspielen oder stark zu
machen, ist ein alter Hut. Sie ist eine Lieblingsidee des
individualistischen Liberalismus, um "das Maßgebende" des Politischen
zu negieren und den Staat der Suprematie des Ökonomischen zu
unterwerfen.

Nach Carl Schmitt verändert und denaturiert dieser Gedanke "alle
politischen Vorstellungen" in "systematischer Weise". Seine Heimstatt
findet er dort, wo der Bourgeois laut Hegel der Todesbereitschaft adé
sagt und als Preis oder "Ersatz für seine politische Nullität [...] die
vollkommene Sicherheit des Genusses" sucht: das problemlose Glück des
reinen Konsums. Dem Bourgeois bleibt so der Nachweis seiner Tapferkeit
und seines Heldentum sowie die "Gefahr eines gewaltsamen Todes"
erspart. An die Stelle des Helden, der sich mutig und todesgewiss ins
Kampfgetümmel wirft und leidenschaftlich für seine Sache ficht, tritt
der rechnende Händler, der seine finanziellen Vorteile kühl abschätzt
und die "Früchte des Friedens und des Erwerbes" genießen will. Käme es
dazu, hätte die Menschheit "endlich ihre Formel gefunden, so wie die
Biene ihre Formel im Bienenkorb gefunden hat." (Carl Schmitt).

Angelsächsischer Geist

Ursprünglich entstammt diese Idee dem angelsächsischen Sprachraum (
Wachsende Räume [1]). Zunächst haben sich britische Imperialisten ihrer
bedient, um ihren Machtbereich nach Übersee auszuweiten. Der Philosoph
Francis Bacon kann als einer der Initiatoren dieser Weltsicht angesehen
werden.

Später haben sich auch amerikanische Staatsmänner, namentlich George
Washington, Alexander Hamilton, John Adams und Thomas Jefferson, darauf
berufen. Lautstark lobten sie den Nutzen und die Frieden stiftenden
Effekte des Marktes, des Tauschhandels und der Kommunikation. Obwohl
sie Krieg gegen schwächere Völker auf dem nordamerikanischen Kontinent
führten, priesen sie Ende des 18. Jahrhunderts gegenüber ihren
stärkeren europäischen Gegnern die besänftigenden Wirkungen des Handels
auf internationale Streitigkeiten. Damals schwuren sie, ähnlich wie es
heute die europäischen Nationen gerne tun, der Macht ab. Sie verdammten
Krieg und militärische Macht und stuften Einsatz und Ausübung von
Gewalt als Mittel der Durchsetzung nationaler Interessen für historisch
überholt ein.

Dies zeigt, dass Markt, Kommerz und Kommunikation niemals Selbstzweck
waren, sondern immer schon Vehikel des Politischen. Zweifellos hat der
Kapitalismus im Laufe des letzten Jahrhunderts eine Reihe von Menschen
wohlhabender und gesünder gemacht. Gewiss nicht alle, aber doch nicht
ärmer oder kränker. So jedenfalls der Soziologe Johannes Berger [2] auf
der "Worlds of Capitalism" Ende Mai in Hamburg.

Auch wenn das Gefälle zwischen reichen und armen Ländern wächst, hat
sich die Verelendungstheorie der Marxisten insgesamt doch als
Rohrkrepierer erwiesen. Und hätten ehemalige Kolonisateure nicht
versäumt, so jüngst ein Ökonom im Merkur [3], in ärmeren Ländern bei
Zeiten eine funktionierende Marktwirtschaft einzurichten, ginge es
diesen Völkern vielleicht wesentlich besser als es ihnen heute ergeht.

Kapitalismus als Ersatzreligion

Von dieser nützlichen und ganz praktischen Seite des Kapitalismus will
Norbert Bolz allerdings nichts wissen. Ihn interessiert vielmehr dessen
"essentiell religiöse Struktur", jene Heilsversprechen also, die Walter
Benjamin Anfang letzten Jahrhunderts an ihm entdeckt und in einem
Fragment beschrieben hat ( Kapitalismus ist Kult [4]). Danach ist der
Kapitalismus "reiner Götzendienst", ein Kultus, der nonstop gepflegt
wird, zwischen Schuld und Entschuldung hin und her oszilliert und vom
Mammon des Geldes regiert und zusammengehalten wird.

Wo der Kapitalismus Fuß fasst, garantiert "nicht mehr Gott, sondern
Geld Weltsicherheit". Das Streben nach ihm ermöglicht den Verzicht auf
authentische Motive und letzte Werte. Statt Hass und Gewalt regiert
Habsucht, Geldgier und Kaufrausch. "Wo Geld die Welt regiert", schreibt
Bolz, "bleibt uns der Terror von nackter Faust und guter Gesinnung
erspart." Durch Markt, Preisbindung und Zahlungen verwandelt sich
politischer Enthusiasmus in "wohltuende Neutralität". Darum akzeptiert
auch "der prüde Hauseigentümer den Pornoshop in seiner Ladenzeile, und
der rassistische Oberbürgermeister den Araber im Westend."

Da Konsum, Luxus und Komfort, wie man weiß, auf Dauer zu Langeweile und
Indifferenz führen, braucht der Markt stets "die Stimulation des
Neuen". Das heißt, es müssen ständig neue Moden, Stile und Trends
erfunden, Kunden und Konsumenten umgarnt und neue Begierden und
Begehrlichkeiten in ihnen geweckt werden. Dem Kapitalismus gelingt das,
indem er Gebrauchswerte symbolisch überhöht, sie mit Ideen und
Geschichten, Gerüchen und Werten versieht und ausstattet. Der Kunde
kauft dann kein Vehikel, sondern Freiheit und Fahrgefühl; im Café um
die Ecke erwartet ihn keine schwarze Brühe, sondern eine Atmosphäre,
die zum Gespräch mit Freunden animiert; der Raucher inhaliert nicht
Teer und Nikotin, sondern atmet den Duft der weiten Welt; der Kunde
geht nicht zum Shoppen auf die Zeil, weil ihm etwas fehlt, sondern weil
er das Flanieren, Bummeln und Konsumieren genießen will.

Würden die Menschen nur einkaufen, weil sie etwas brauchen, oder würden
sie nur kaufen, was sie brauchen, wäre die kapitalistische Wirtschaft,
so Bolz siegestrunken, längst in sich zusammengebrochen. Der
symbolische oder kulturelle Kapitalismus, der Ideen in Markennamen
packt, sie mit Geschichten und Sehnsüchten anreichert und Lebensstile
feilbietet, verspricht aber keine Erlösung von den Übeln dieser Welt.
Anders als der politische Messianismus verheißt er "weder ein Ziel noch
das Ende der Geschichte, sondern nur das immer wieder Neue."

Verkehrung von Ursache und Wirkung

Von solchen einfachen Weltsichten scheinen die US-Imperialisten aber
nur mäßig überzeugt zu sein. Seit dem Ende des Kalten Krieges hat sich
bei ihnen ein Bewusstseinswandel vollzogen, der der Politik eindeutig
wieder Vorrang vor dem Ökonomischen einräumt und das Politische als ein
alle anderen Bereiche durchziehendes Zentralgebiet für sich und ihre
imperialistischen Ziele neu entdeckt. Sie misstrauen den Händlern und
Krämerseelen und votieren stattdessen für die Helden. Um als globale
Macht im Dschungel der failed states zu reüssieren, taugen privates
Unternehmertum und die Produktion für den Markt wenig. Es braucht dazu
vielmehr Mut, Durchsetzungskraft und politische Entschlossenheit, um
finstere Gebiete notfalls mit Waffengewalt zu erobern und Diktatoren
daraus zu verjagen.

Und auch die arabischen Selbstmordbomber scheinen von solchen Ideen nur
wenig angetan zu sein. Sieht man sich die Lebensläufe von Osama bin
Ladins oder Mohammed Attas an, so wird man genau das Gegenteil
feststellen. Nicht der Entzug, der Vorenthalt oder der Verzicht auf
Geld, Markenartikel und den Pursuit of happiness haben sie zum Heiligen
Krieg gegen den Westen animiert. Sondern in der Möglichkeit, in Saus
und Braus zu leben, haben sie jene Motive gefunden, die sie zu
Gesinnungstätern hat reifen lassen. Von Atta und seinen konspirativen
Freunden wissen wir, dass sie sich am Tag vor dem Anschlag in ein First
Class Hotel in Las Vegas einquartiert und sich beim Besuch eines dieser
Konsumtempel des amerikanischen Spielerparadieses den letzten Kick für
ihr Attentat geholt haben.

Auch die Biographie [5] von Omar Sheikh, dem Mörder des US-Journalisten
Daniel Pearl, ist in diesem Zusammenhang recht aufschlussreich. Aus
einer wohlhabenden anglo-pakistanischen Familie stammend, studierte er
in England an einer Eliteschule. Bilder und Berichte vom und über den
Bosnien-Krieg sollen ihn zunächst zum islamistischen Extremisten
gemacht haben, der später sogar zu einer Art "Lieblingssohn" bin Ladens
aufstieg und seine Frau unter einer Burka einschloss.

Offenbar ist es gerade das Virus des westlichen Lebensstils, der
pursuit of happiness, der dazu führt, dass junge, hoffnungsvolle
Muslime, die entweder in der westlichen Welt aufwachsen oder zumindest
in vergleichbaren Milieus sozialisiert werden, sich plötzlich dem
finstersten Fanatismus zuwenden und zum Selbstmordbomber werden. Den
"Ewigen Marktfrieden", den der Medienwissenschaftler anstelle des
"Ewigen Frieden" Kants apostrophiert, ist nicht die Lösung, sondern die
Ursache des Problems.

Stimmt dies, und es spricht sehr viel dafür, dann fällt die ebenso
knallige wie flaue These des Buches wie ein Kartenhaus in sich
zusammen. Der Wille, alle potentiellen Bin Ladins in Nike-Schuhe zu
stecken, würde genau das Gegenteil auslösen: mehr statt weniger
Gotteskrieger gebären. Weil ihm diese entgeistende Kraft des
islamischen Fundamentalismus entgeht, wird Bolz zum Messias eines
naiven Marktglaubens, der den Äquivalententausch zum Maß aller Dinge
macht. Vermutlich ist es aber gerade nicht Neid oder Missgunst, die den
Hass auf den Westen nähren und Muslime zu Attentisten machen, sondern
hauptsächlich die Jahrzehnte lange Erfahrung von sozialer Erniedrigung,
kultureller Demütigung und individueller Kränkung durch den Westen und
seine Politik.

Vom postmodernen Budenzauber, der auf knapp 130 Seiten von Bolz in
bekannter Manier entfaltet und für 10 Euro das Stück vom Verlag
verhökert wird, sollte sich der Leser aber nicht blenden lassen. Und
von der Suada, die auf ihn einstürzt, auch nicht. "Alles, was man
sieht", so das Motto des Buches, "ist constructed und constrained -
constructed, also nicht erfunden, constrained, also nicht gefunden".
Besser hätte man die Perplexität, die das Buch ausstrahlt, nicht
formulieren können.

Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, Fink Verlag: München 2002,
130 Seiten, 10 Euro.

Links

[1] http://www.heise.de/tp/deutsch/kolumnen/mar/12384/1.html
[2] http://www.worlds-of-capitalism.de/1024/expose1.htm
[3] http://www.online-merkur.de/seiten/hank.htm
[4] http://www.heise.de/tp/deutsch/kolumnen/mar/5083/1.html
[5] http://www.nouvelobs.com/articles/p2007/a192462.html

Telepolis Artikel-URL:
http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/buch/14956/1.html

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