[rohrpost] reine kunst?

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Die Aug 3 15:27:49 CEST 2004


Hallo,

Letztens bin ich auf das insgesamt über 12 Seiten lange kuratorische
Statement von Alfons Hug, der in diesem Jahr zum zweiten Mal Chefkurator der
Biennale von São Paulo ist, gestoßen.

Anbei einige Auszüge. Im Rückbezug auf deutsche Geistesgrößen wird die
Malerei ­ gereinigt von aller tagespolitischen Last ­ zur alles überhöhenden
Kunstform re-etabliert. Denn deren hären Ansprüche seien in den 1970er
Jahren (z.B. durch die Videokunst) verdorben worden etc. etc.

Ist schon ziemlich unglaublich dieses Pamphlet ...
Man muss, glaube ich, die alten/neuen reaktionären Kunstdiskurse im Auge
behalten.

Grüsse
Iris

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Bilderschmuggler im Niemandsland der Kunst
Von Alfons Hug, Chef-Kurator der 26. Sao Paulo Biennale

Auszüge
Gesamttext (liegt auch auf englisch und portugiesisch vor) auf:
http://www.universes-in-universe.de/car/sao-paulo/2004/d-concept.htm


[...]

Krieg der Bilder

Die Deutung der Welt und besonders ihre Umsetzung in Bilder ruft neben der
Kunst noch andere, konkurrierende Medien auf den Plan, in erster Linie die
Bildmaschinen der Massenmedien und des Design. Eine nicht enden wollende
Flut kommerzieller Klischee-Bilder ergießt sich über die Welt, ohne dass
diese dadurch begreifbarer würde. Massenmedien und Design erzeugen
Vorstellungen und Konzepte, welche die realen Verhältnisse und deren Werte
nicht befragen, sondern bestätigen und fortschreiben. Sie erzeugen flache
Bilder, während die Kunst tiefe, schwere, komplexe schafft.

Das Design und sein engster Verbündeter, die Architektur, tun so, als könne
jemals etwas fertig und vollendet sein. Die Kunst geht dagegen davon aus,
dass nichts jemals fertig ist. Design verhält sich affirmativ zur
Gesellschaft, Kunst subversiv. Design behauptet, Kunst fragt. Design
fuchtelt aufgeregt mit seinem modischen Anspruch herum, Kunst genügt sich
selbst und erlaubt sich Differenzen zum idealisierten Bild vom Leben, das
uns etwa die Werbung bietet. Wenn diese ein überzeugendes fotographisches
Abbild der Gegenwart will, dann erzeugt die Kunst ein Bild der Zukunft. Im
Grunde handelt es sich um das exakte Gegenteil, auch wenn Designer,
Kreativdirektoren und Architekten noch so sehr auf ihren Künstlerstatus
pochen. Kunst ist die Abwesenheit von Design.

Hans Belting schreibt dazu: "Die klassisch moderne Malerei hat manchmal ihre
strahlende Autonomie erst durch die Austreibung der Bilder erzwungen, um
ihren Tempel zu reinigen. Sie überließ die Bilder, die von der Welt
infiziert waren, lieber anderen Medien. Die Malerei, als Repräsentantin der
Kunst, und die Bilder, als Protokolle der Welt, erklärten sich gegenseitig
den Krieg". [1]


[...]

Die ideologische Patrouille der letzten Jahre hat dazu geführt, dass die
Kunst mit Tagespolitik überfachtet worden ist. Künstler und Publikum sollen
sich aufgerufen fühlen, den Ernst der Verhältnisse und die Verwicklungen der
Wirklichkeit ad hoc zu mildern. Bewährte visuelle und plastische Strategien
werden zugunsten hochtrabender soziologischer Diskurse unterdrückt.

[...]

Im Grunde geht es heute immer noch um zwei miteinader rivalisierende
Vorstellungen von Kunst, die sich durchs ganze 20. Jahrhundert zogen und von
Benjamin und Adorno am prominentesten vertreten wurden. Während ersterer
eine werkfeindliche Avantgarde vertrat, die das Ziel hatte, die Potentiale
einer engagierten Kunst für eine Revolutionierung des Alltags zu nutzen,
bestand Adorno auf der Autonomie des Kunstwerks und auf seiner
Rätselhaftigkeit. Eine Funktionalisierung der Kunst lehnte er ab, da diese
damit ihre Transzendenz aufgebe und "unter ihren Begriff herabsinke", ja
"entkunstet" werde. In der idealistischen Ästhetik Adornos begegnet der
Betrachter dem Kunstwerk mit einer kontemplativen Einstellung, um in eine
andere Welt übertreten zu können. Nach dem Geltungsverlust der Religionen
überleben in der modernen Kunst metaphysische Bedürfnisse.

[...]


In seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft versucht sich Immanuel Kant
an einer Rangordnung der Künste. Der erste Platz gebühre der Dichtkunst, die
fast gänzlich dem Genie ihren Ursprung verdanke und am wenigsten durch
Vorschriften geleitet sei. Die Tonkunst setzte er an die zweite Stelle
aufgrund der ihr eigenen “Bewegung des Gemüts". Die bildende Kunst folgte
danach, wobei innerhalb dieser die Malerei am höchsten zu bewerten sei, da
sie mehr als andere Künste in die Region der Ideen eindringe und auch das
Feld der Anschauung erweitere.

Kants langer Arm scheint auch den Malern von heute wertvollen Beistand zu
leisten. Denn nach Jahrzehnten der Verbannung kehren sie nun auf den Olymp
der bildenden Kunst zurück.

[...]

Die Malerei war in den 70er Jahren ein Opfer oberflächlicher Politisierung
geworden, welche die Leinwand mit der Dominanz männlicher Genies von
Michelangelo bis Picasso in Verbindung brachte und in neuen Medien wie dem
Video adäquatere, neutrale Bildträger fand, die zudem den vermeintlichen
Vorteil hatten, soziale und politische Botschaften leichter transportieren
zu können. Ist mit der Malerei also apolitisches Verhalten in die Kunst
zurückgekehrt?

"Wir sind noch nicht recht gewöhnt an eine Malerei, die wieder ungeniert
Malerei ist, ohne sich noch jenem Programm zu unterwerfen, das wir meist
etwas gedankenlos KUNST nennen. Die "Kunst der Malerei" war schon längst da,
als KUNST, in ihrer abstrakten Würde, noch lange auf sich warten ließ, und
deswegen kommt sie heute wieder, nachdem KUNST etwas von ihrem Monopol
verliert. In der Kunst darf es keine Lügen geben, nur Wahrheit, wo sie doch
selber eine große Fiktion ist, zumindest eine ungewisse Idee. Von Lüge zu
reden, wäre in der Kunst ein harter Vorwurf, in der Malerei aber eine feine
Beschreibung, denn sie verfügt über schöne und alte Lügen, wenn man ihre
erprobten Regiespiele der Wahrnehmung so nennen darf, auf die wir wie ein
neugieriges Theaterpublikum warten. Wir nehmen auch sonst die Welt wahr,
nicht nur in der Malerei. Aber in der Malerei sind wir als Person im
Gespräch mit einer anderen Person, die hinter der Wahrnehmung Regie führt.
Dieser stumme Dialog macht Malerei lustvoll und rätselvoll. Die Malerei
macht uns Wahrheiten leichter, indem sie sie in "durchsichtige" Lügen
kleidet. Sie benutzt Lügen, mit denen man Wahrheiten sagen kann". [4]

[...]

Wenn Malerei auf die Vielfalt möglicher Verstehensweisen abzielt, bemüht
sich Wissenschaft um deren Reduktion. Kunstwerke mögen offen und mehrdeutig
sein, eine wissenschaftliche Studie ist es nicht. Darum wird gute Kunst auch
weiter schlechte Wissenschaft bleiben - und umgekehrt.

[...]

Mehr denn je geht es in der Kunst von heute wieder um die Macht des
Bilderschaffens und weniger um die Fähigkeit, Daten zu sammeln. Diese
Aufgabe kann man getrost den Wissenschaftlern überlassen, jenen Chronisten
der Unzulänglichkeit der realen Welt. Das Geheimnis der Malerei liegt darin,
dass ein winziger Pinselstrich den Schleier des Alltäglichen zerreisst und
eine neue Welt zum Vorschein bringt, vor deren Rätsel die Statistiken der
Mathematiker versagen. "Die winzige Kluft, die zwischen dem Bild selbst und
dem, was es bedeutet, besteht, ist die Quelle meiner Malerei" (Luc Tuymans),
[5]. Bei jedem Gemälde geht es also auch um jenes Stückchen Niemandsland,
das dort liegt, wo die Welt aufhört und die Leinwand beginnt.

[...]

Warum erlebt die Malerei, die auch auf der Biennale prominent vertreten ist,
heute wieder einmal eine Wiedergeburt? Warum hat sie im ewigen Disput des
"paragone", jener in der Renaissance gepflegten Rangordnung der Künste,
wieder Gewicht bekommen? Gewiss ist ihre besondere Aura gefragt, die Nahes
entrückt erscheinen lässt, und Fernes herbeiholt. Sicherlich spielt die
kritische Auseinandersetzung mit Zeitgeist und Lifestyle eine Rolle, wie ihn
Massenmedien und Werbung propagieren, und sicherlich geht es auch um
Singularität und handwerkliche Authentizität angesichts einer Lawine
technisch reproduzierter Medien. Die statischen Bilder der Malerei wirken
wie ein Anker in der Flut mobiler, manipulierbarer Bilder, denen niemand
mehr traut. Die stillen Bilder, die zu ungestörter Betrachtung einladen,
stemmen sich gegen den Lärm und die Reizüberflutung der kommerziellen Welt.
Auch sträubt sich Malerei aufgrund ihres ausgeprägten Eigensinns und ihrer
höchst subjektiven Verortung gegen kuratoriale Funktionalisierung.

Der Hauptgrund dürfte aber sein, dass sich die Malerei nicht mimetisch
gegenüber der Realität verhält, sondern die Gesetze der Wirklichkeit aufhebt
und die Dinge der Welt in prototypischer Gestalt und symbolischer Überhöhung
erscheinen lässt. Der Maler jagt weiterhin einem Idealbild von Mensch und
Welt nach, das uns allen seit Urzeiten vorschwebt.

[...]