[rohrpost] In der Echokammer des Selbst

Tilman Baumgärtel mail at tilmanbaumgaertel.net
Die Jul 13 16:33:47 CEST 2004


Hi!

Hier ein Text, der in den nächsten Tagen in der taz erscheinen wird, über 
eine Arbeit von Terry Riley, die mich schwer beeindruckt hat.

Als Maintainer von Rohrpost und auch sonst bin ich jetzt erstmal weg. 
Macht's gut und danke für den Fisch.

Gruesse,
Tilman

---------------------------------SCHNAPP!----------------------------------------

In der Echokammer des Selbst

Die einzige Installation des Minimal-Music-Komponisten Terry Riley ist nach 
mehr als drei Jahrzehnten rekonstruiert worden.

Von Tilman Baumgärtel


Hier gibt es kein Entrinnen vor dem Selbst. Wohin man auch blickt, man 
sieht den eigenen Körper. Das leiseste Geräusch wird von zahllosen, sich 
überlagernden Echos aus verschiedenen Richtungen reflektiert. So sehe ich 
also aus, so klinge ich. Die Installation „Time Lag Accumulator“ von Terry 
Riley ist eine Echokammer des Ichs.

Der minimalistische Komponist hat dieses Werk 1968 für die 
Ausstellung  „Magic Theater Show“ in Kansas City entwickelt, und seither 
ist es nie wieder gezeigt worden. Es ist die einzige derartige Arbeit von 
Riley, der eigentlich als einer Begründer der Minimal Music und als 
Komponist von Werken aus streng repetativen Patterns bekannt geworden ist. 
Mit den von ihm entwickelten Methoden haben es Komponisten wie Steve Reich 
und Philip Glass zu Weltruhm gebracht. Der weniger Karriere-orientierte 
Riley verabschiedete sich Anfang der 70er Jahre  nach Kompositionen wie „In 
C“ und „A Rainbow in Curved Air“  von seinen minimalistischen Methoden und 
ging nach Indien, um sich im Raga-Singen ausbilden zu lassen.

Erst mehr als dreißig Jahre nach seiner ersten Präsentation ist jetzt in 
Lille, einer der beiden diesjährigen europäischen Kulturhauptstädten, in 
der Ausstellung „Les Microfolies“ eine neue Version des „Time Lag 
Accumulators“ zu sehen. Damit ist ein in Vergessenheit geratenes 
Schlüsselwerk der postmodernen Kunst wieder zu entdecken. Der 
„Zeitverzögerungs-Akkumulator“ war nicht nur die Blaupause für die 
Videoinstallationen, mit denen Künstler wie Dan Graham oder Bruce Nauman 
Anfang der 70er Jahre ihre Karriere begonnen haben. Er bringt auch wie 
keine andere Arbeit aus dieser Zeit die Moment-Fixiertheit und die Abkehr 
von den Großen Erzählungen der Moderne in den 60er Jahren auf den Punkt. 
Riley selbst hatte in seinen Wanderjahren durch Europa und Indien alle 
seine Aufzeichnungen weg gegeben, und so musste Kurator Richard Castelli 
nach den vagen Erinnerungen des Komponisten die Arbeit neu bauen lassen. 
Die Originalversion steht angeblich bis heute in einem Garten in Kansas City.

Von außen erinnert der achteckige Pavillon mit seinen Wellblechwänden an 
ein Wachhaus oder eins der historischen Berliner Straßen-Pissoirs. Wenn man 
durch die einzige Tür eingetreten ist, findet man sich in einer von acht 
Kammern wieder, deren Wände mit Spiegelfolie bezogen sind. Unter der Decke 
hängen Mikrophone, die jedes Geräusch aufzeichnen und mit leichter 
Verzögerung (eben mit „time-lag“) in einer anderen Kammer wider geben. 
Mehrmals hört man die eigene Stimme aus verschiedenen Richtungen. Wenn man 
laut genug geschrieen hat, überlagern sich diese Echos zu einem erst 
anschwellenden, dann langsam absterbenden Wall of Sound.

Die Wiederholungen bügeln etwaige Unvollkommenheiten der eigenen Stimme 
aus, doch schließlich bleibt von dem, was man gesagt hat, statt Bedeutung 
nur ein waberndes Rauschen übrig. Der „Time-Lag Accumulator“ ist eine Art 
Dub-Stück zum Durchwandern. Kaum zu glauben, dass die Orginalversion mit 
einer Reihe von Tape-Loops auf Tonband-Maschinen lief; mit denen Riley zu 
der Zeit auch die wildesten Kompositionen seiner Laufbahn  „Music from The 
Gift“  hergestellt hat. Nun produziert das Computerprogramm MAX die 
künstlichen Echos.

Plötzlich klingt es, als ob eine 100köpfige Schulklasse in den Raum 
eingedrungen ist: Kichern, Kreischen, Türenschlagen donnern durch das 
Achteck, aber dann rennen nur zwei Kinder an einem vorbei. Noch lange, 
nachdem sie wieder weg sind, klingen ihre Rufe nach, und ihre leiser 
werdenden Echos erinnern an die Geräusche eines entfernten Freibads oder 
eines Rummelplatzes. Dann ist man wieder allein mit dem eigenen Bild und 
dem eigenen Sound, und kann mit sich selbst einen mehrstimmigen Kanon 
singen. Interessanterweise führt die Konfrontation mit dem eigenen Ich 
irgendwann zu einer zunehmenden Dezentrierung bei gleichzeitigen 
Anwandlungen von ozeanischen Gefühlen.

Der „Time-Lag Accumulator“ erinnert an die „philosophischen Spielzeuge“ des 
18. und 19. Jahrunderts. Geräte wie das „Lebensrad“ oder die „Laterna 
Magica“ popularisierten damals die neuesten naturwissenschaftlichen 
Erkenntnisse in einer leicht nachvollziehbaren Form. Die Installation ist 
ein lupenreines Feedback-System, wie es die damals populäre Kybernetik in 
ihren Weltmodellen beschrieb. Gleichzeitig macht es einige der Ideen über 
die menschliche Wahrnehmung physisch nachvollziehbar, die der in den 60er 
Jahren sehr populäre französische Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty 
beschrieben hatte.

Doch vor allem ist die Installation das Monument der „Now-Generation“ der 
60er Jahre mit ihrer Feier des Hier-und-Jetzt. Der „Time Lag Accumulator“ 
lässt den schönen Augenblick verweilen; er verleiht dem Moment Dauer, wenn 
er ihm schon keine Ewigkeit geben kann. Indem er den Betrachter ganz auf 
sich selbst zurückwirft, ist er zugleich eine Absage an jede Art von 
„Aussage“ oder Intentionalität in der Kunst. Der „Time-Lag Accumulator“ ist 
der Höhepunkt einer Kunst, die  wie Minimal Art oder die frühe 
Konzeptkunst  auf Bedeutung verzichtet, und den Betrachter stattdessen mit 
sich selbst konfrontiert. Das bist Du, mehr ist da nicht.

Die Ausstellung „Microfolies“, in der die Arbeit zu sehen ist, ist mit 
Beiträgen von Christian Partos, Teji Furuhashi und Serge Lutens eine der 
gelungensten Medienkunst-Präsentationen der letzten Jahre. Zusammen mit der 
Ausstellung „Game On“, die die Geschichte des Videospiels rekapituliert, 
und „Les Afriques“ über das Afrika-Bild in der zeitgenössischen Kunst, 
macht sie einen Besuch in der nachlässig vermarkteten Kulturhauptstadt 
Lille auf jeden Fall empfehlenswert.


Die Ausstellungen „Microfolies“, „Les Afriques“ und „Game On“ sind noch bis 
zum 8. August in Lille zu sehen. www.lille2004.com