[rohrpost] Medientheorie - Das Wikiexperiment

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Don Nov 18 18:00:41 CET 2004


Am Donnerstag, 18. November 2004 um 10:48:47 Uhr (+0100) schrieb ::ritchie:::

> (wie kommuniziert ein ausgewiesener cultural studies mensch mit einem
> luhmann-jünger über eine sitcom?) 

Wobei dies ziemlich genau die Formel dessen ist, was seit den 1990er
Jahren in Deutschland Kulturwissenschaften heißt. Man veranstaltet
Tagungen zu einem (relativ allgemeinen) Sujet. Dieses wird aus den
jeweiligen Blickwinkeln und mit den jeweiligen Methoden der eingeladenen
Vortragenden beleuchtet, also z.B. medientheoretisch,
kulturanthropologisch, bild-/kunstwissenschaftlich, systemtheoretisch,
dekonstruktivistisch, gender-theoretisch, als kulturelles Gedächtnis,
als Performanz, als Intermedialität. Später erscheinen diese in Vorträge
gegossenen Positionen und Perspektiven in einem Sammelband, der dann in
der Summe interdisziplinäre Kulturwissenschaft manifestiert. Auch wenn
dies gewiß ein Fortschritt gegenüber früherer konservativer
Verknöcherung von Einzeldisziplinen ist und zumindest potentielle
Freiräume für nichtkanonische, exzentrische Betrachtungen eröffnet hat,
finde ich diesen status quo unbefriedigend. Als Teilnehmer, Zuhörer oder
Leser weiß man zumeist schon vorab anhand der Namen und Vortragstitel,
was einen erwartet; nämlich die Durchdeklination der
geistes-/kulturwissenschaftlichen Position, für die der Autor/die
Autorin steht, anhand eines kontext- bzw. tagungsspezifischen Materials. 

> die frage wär dann halt, ob man den fokus auf zukünftige
> fragestellungen, die vesprechen, interessant zu sein, richtet, oder
> auf eine kartographie der momentanen medientheorielandschaft.

Ganz Deiner Meinung! Ich glaube, aus deutscher/deutschsprachiger
Perspektive könnte man diese Frage noch fokussieren. Im Kanon der
Kulturwissenschaften der 1990er Jahre hat Medienwissenschaft, wie sie
von Friedrich Kittler und seinen Schülern vertreten wird, eine zentrale
Rolle gespielt. Die Kittler-Schule vertritt dabei die Position, daß
Medienwissenschaft die Grundlage von Kulturwissenschaft bildet [bzw.
kulturwissenschaftliche Grundlagenforschung ist], weil sie die
technisch-materiellen Bedingungen aller Künste und Diskurse untersucht,
als deren Konfigurationen a priori. Dahinter steckt natürlich die
Position, die wir hier schon zu Beginn der Medientheorie-Debatte
diskutiert haben, nämlich die Ersetzung von Geistesgeschichte durch
Technikgeschichte und die (von Nietzsche, Heidegger und Lacan
inspirierte) Idee, daß Philosophien, Künste, Wissenssysteme aus
technischen Bedingungen enstehen und nicht umgekehrt. 

Auch wenn das Medientheorie-Wiki hier als zu wenig pointiert und
unrepräsentativ kritisiert wurde, so lese ich in ihm doch eine
klare Gegentendenz: Diese These vom Primat der Technik in Zweifel zu
ziehen, also nicht Medienwissenschaft als Grundlage von
Kulturwissenschaft zu verstehen, sondern genau umgekehrt
Kulturwissenschaft und -kritik als Grundlage von Medientheorie.
Medienwissenschaft wäre demnach nicht mehr eine Super- und
Meta-Wissenschaft, auch nicht die Grundlagenforschungsabteilung der
Kulturwissenschaften, sondern eine Spezialdisziplin, die sich mit den
Wechselwirkungen von Technik und Kultur befaßt und gleichberechtigt
technische, geisteswissenschaftliche und praktisch-künstlerische Bildung
einschließt.

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