[rohrpost] Medientheorie - Das Wikiexperiment

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Don Nov 25 14:41:44 CET 2004


Lieber Claus:

> Entschuldige, Florian, daß ich ungerechterweise einen Satz aus Deinem 
> posting aufgreife, weil mir dazu sofort ein Beispiel einfällt.

Touché, Warnke ist natürlich ein schlagendes Gegenbeispiel. Aber auch
jemand, der (ungerechterweise) in den deutschen Geistes-/Kulturwissenschaften
außerhalb eines spezialisierteren Mediendiskurses völlig unbekannt ist
und mit dem gleichnamigen Kunsthistoriker verwechselt wird.

Meine Frustration mit dem status quo des deutschen universitären
Mediendiskurses speiste sich vor allem aus dem geisteswissenschaftlichen
Neuheitenverzeichnis des Fink-Verlags. Den Klappentexten entnimmt man,
daß praktisch alle Literatur- bzw. Kulturwissenschaft irgendwie
"Medien"-Forschung zu betreiben scheint. Der Medien-Begriff, der dabei
zugrundegelegt wird, ist entweder völlig unklar, oder Medien werden mit
Bildmedien gleichgesetzt.

> Dieses kleine Beispiel finde ich einigermaßen bezeichnend für den 
> latenten oder offenen Antiakademismus, der die ganze Debatte begleitet. 

In Antiakademismus im Wortsinne kann ich insofern nichts falsches
erkennen, als "Akademismus" ja nichts wünschenswertes ist.

> Ich sehe ja ein, daß solcher Antiakademismus eine seit 200 Jahren 
> erprobte Chance zur Provokation und eine Option zur Sezession aus dem 
> blinden, abseitigen oder etablierten "Betrieb" ins hellsichtige, 
> gegenwärtige oder irgendwie frische "Leben" ist. 

Ja, diese Formulierung, wie sie derzeit im Wiki steht, ist grauenhaft,
da rollen sich mir die Nägel auf, mit Bergson, Dilthey und der gesamten
Lebensphilosophie ante portas. Das ist das Problem eines
Wiki-Schreibexperiments, man hat keine Kontrolle über den Text, wird
aber mit ihm identifiziert. Autorisiert wird er erst dann sein, wenn er
für fertig erklärt und mit Namen gezeichnet ist.

Auf der anderen Seite, und so wird vielleicht ein Schuh daraus,
legitimieren sich Geisteswissenschaften, sofern sie Kunstwissenschaften
sind, nur dadurch, daß sie (a) ihr Wissen in der Lehre vermitteln, also
einen Bildungsauftrag wahrnehmen (b) eine (kritisch) dienende und
vermittelnde Funktion gegenüber den Künsten einnehmen.  Alles andere ist
Anmaßung.

-F 

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