[rohrpost] betrifft: deutsche medientheorie

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Fre Okt 15 13:09:52 CEST 2004


Am Freitag, 15. Oktober 2004 um 08:34:56 Uhr (+0200) schrieb
miss.gunst at gmx.net:

> warum zum beispiel sieht es ganz danach aus, als sei fuer menschen auf
> einer in einer mailingliste zur netzkultur, die auf eine frage
> antworten, die ihnen auf dieser mailingliste gestellt wurde und die
> beim antworten vielleicht doch auch jene medientheorie(n) mit
> einbezogen wissen wollen, die sich auf netzkulturen beziehen, 

Mir fällt, ehrlich gesagt, keine solche Medientheorie ein. Vielleicht
habe ich einen zu eingeschränkten (zu deutschen?) Begriff von
"Medientheorie" als etwas, das zumindest in seinem Ansatz oder Anspruch
systematisch ist und sich darin von einer kursorischen und
unsystematischen Medienkritik unterscheidet.  Von solchen Medientheorien
sind mir keine bekannt, die Netzkulturen reflektieren, höchstens solche,
etwa aus der Kittler-Schule, die eine Diskursgeschichte der technischen
Konfiguration des Internets skizzieren.

> folgendes naheliegend: medientheorie tendenziell mit personen zu
> assoziieren, die ihrerseits nicht nur in einem traditionellen medium
> der theorievermittlung, also gedrucktes und nachlesbares publiziert
> haben, sondern die auch in einer traditionellen institution wie der
> hochschulwissenschaft (in diesem fall: deutschen hochschulen) zu
> verorten sind und ueber den status traditioneller akademische
> anerkennung (in diesem fall: idealerweise professuren) verfuegen? 

Es wäre ja schön, wenn es dazu Alternativen gäbe. Ich sehe sie nur
nicht. Was Foren wie Nettime und diese Liste in ihren besten Momenten
zustandebringen, ist ein kritischer Diskurs über Medien bzw.
Computernetze, der wiederum nur in seinen besten Momenten
Theorie-Ansätze oder -Denkanstöße liefert. Wo immer diese Ansätze
zumindest zu Halb-Theorien gerinnen, etwa in McKenzie Warks "Hacker
Manifesto" [das, wie er selbst schreibt, aus Nettime heraus entstanden
ist] oder Matthew Fullers "Behind the Blip", ist dies bisher in
klassischer Buchform und mit herkömmlicher Autorensignatur geschehen.

Die größte Annäherung an eine netzkulturelle Medientheorie, die
ihrerseits als Netzkultur-Projekt fungiert, ist
vermutlich die kollaborative Theorie-Schreibplattform
<http://www.opentheory.org> aus dem marxistischen Umfeld der
Oekonux-Mailingliste. Daß sie obskur geblieben ist, hat, wie sich bei
der Lektüre der Website schnell herausstellt, gute Gründe.
Interessanter ist das seit 1975 kollektiv und anonym verfaßte
hackerkulturelle "jargon file" <http://www.catb.org/~esr/jargon/>, das
man mit viel gutem Willen eine Para-Medientheorie der
Programmiererkultur des Internets nennen könnte.



- So ist also ein doppeltes Scheitern zu diagnostizieren: Einerseits
gibt es keine nennenswerte Reflexion des Internets und seiner
kulturellen Praxen in traditionell akademischer und buchzentrierter
Medientheorie - wahrscheinlich ein Generationenproblem. Der
Dotcom-Crash in den Jahren 2000-2002 hat konservative Abwehrhaltungen
und Ressentiments, z.B. gegen eine Verlagerung akademischer
Publikationen ins Netz, bestärkt und vielen die Gewißheit gegeben, daß
Internet sei ein toter Hype.

Andererseits haben jene Netzkulturen, die wie Nettime vor fast zehn
Jahren mit dem Anspruch des "kollaborativen Filterns" einer "Netzkritik"
angetreten sind, keine Alternativen zustandegebracht.

> und ueber das traditionell im segment definitionsmacht und
> institutionalisierung relevante geschlecht?

Wie schätzt Du, als langjährige Beteiligte, den Erfolg des
Cyberfeminismus ein?  Reduziert sich seine (Medien-)Theorie im
öffentlichen Bewußtsein nicht auch auf Autorinnennamen wie Donna Haraway
und Sadie Plant, hinter denen ihrerseits gewichtige Buchpublikationen 
und akademische Lehrstühle stehen?

-F

-- 
c/o Media Design Research, Hogeschool Rotterdam
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