[rohrpost] Nachgedanken zur Medientheorie-Debatte

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Mit Jan 19 16:59:24 CET 2005


Am Montag, 17. Januar 2005 um 10:26:21 Uhr (+0800) schrieb Tilman Baumgärtel:
 
> Wieso kann man solche begrifflichen Unklarheiten nicht einfach mal als 
> reizvolle Chance betrachten? Und warum muss man diesen etwas diffusen 
> Begriff "Medien" unbedingt in ein definitorisches Raster pressen?

Man muß ihn nicht in ein definitorisches Raster pressen. Aber es könnte
ja sein, daß sich dieser Begriff überlebt hat.

> Hat Dich bei 
> Deiner Arbeit schon mal die Tatsache behindert, dass Du keine 
> hundertprozentig wasserdichte Definition von "Medien" hast?

Ich habe bei meiner Arbeit, sprich beim Schreiben, festgestellt, daß man
den Begriff "Medien" fast immer durch etwas sinnvolleres ersetzen kann,
und ihn oft nur aus Denkfaulheit hinschreibt.

> Ich finde es besser, erstmal ohne all zu festgefügte Begriffe an die
> Phänomene heranzugehen. Also nicht mit dem Ziel einer Phänomenologie
> der "Medien", wie Du sie als "vierte Schule" der Medienwissenschaft
> beschreibst, sondern als eine Phänomenologie der vielen tausend Dinge,
> die mit diesem "Medien" gemacht werden. 

Also zum Beispiel Kunst, bzw. "Medienkunst". D'accord. Aber genau dort
zeigt sich doch die Problematik des Begriffs: Zum Beispiel war Mail Art,
die es seit den späten 1950er Jahren gibt, bis vor wenigen Jahren nicht
auf dem Radar der "Medienkunst" und wurde erst interessant, als es mit
der Netzkunst ein korrespondierendes "Medienkunst"-Phänomen gab. Daß
Mail Art nicht als Medienkunst firmierte, Netzkunst jedoch schon, hing
allein damit zusammen, daß Netzkunst elektronisch war und "Medien" bzw.
"Medienkunst" umgangssprachlich synonym mit elektronischer Technologie
sind. Oder die "Clapping Music" von Steve Reich, instrumentaltechnisch
das simpelste Musikstück der Welt, das nur durch Händeklatschen erzeugt
wird, wäre in den 1960er oder 1970er Jahren auf keinem Medien-Festival
aufgeführt worden, heute vielleicht schon, weil es die Loops und
Breakbeats heutiger DJ-Musik vorwegnimmt.

Doch nicht einmal das Kriterium des Elektronischen ist klar genug. Vor
1990 interessierte sich kaum ein Medientheoretiker für Computer,
"Medien" waren synonym mit Video, Funk und Fernsehen.

> Ich halte es mit den Medien wie andere mit der Pornografie: ich kann sie 
> nicht definieren, aber ich erkenne sie, wenn ich sie sehe. 

Das eben wage ich zu bezweifeln, siehe die obigen Beispiele.

> Das mag zwar etwas hemdsärmelig sein, ist mir aber lieber als immer
> spezialistenhafter werdende und den Horizont einengende Definitionen. 

Ich rekonstruiere diese Definitionen ja nur, um etwas über die blinden
Flecken des Medien-Begriffs herauszufinden. Wenn man keine explizite
Definition hat, hat man eine implizite Definition. Die ist dann aber
tendenziell reaktionärer und horizontverengender als eine explizite
Definition, die man kritisieren kann, um als Konsequenz daraus in
anderer - vielleicht radikal anderer - Weise zu denken. Gerade Dein
Beispiel der Pornographie  zeigt das doch schlagend, wenn man überlegt,
wie sie in verschiedenen Epochen und Kulturen gedacht wurde und gedacht
wird. [Und weshalb z.B. Filme des "Medien"-spekulativen Regisseurs David
Cronenberg in Deutschland von der Bundeszentrale für jugendgefährende
Schriften beschlagnahmt und aus dem Verkehr gezogen wurden.]

-F

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