[rohrpost] Nachgedanken zur Medientheorie-Debatte

Till Nikolaus von Heiseler Till_N_v_Heiseler at web.de
Sam Jan 22 00:19:49 CET 2005


Lieber Florian, lieber Tilmann, lieber Stefan, liebe Liste,
wir haben vor einiger Zeit mit Wolfgang Ernst ein Gespräch geführt, dessen Anfang  erstaunlich gut zur augenblicklichen Diskussion passt. Ich lege den ersten Teil des Gesprächs einfach bei. 

Über Anmerkungen würden wir uns sehr freuen. 

Glück zu allen!
till



Wozu Medientheorie?
[Auszug_01]
  
 
[TNVH:]   Wenn ich drei Sätze hätte, Sie vorzustellen, wie sollten diese drei Sätze lauten?

[W.E.]   Der erste Satz: - Ein Denker, der zur Medientheorie gekommen ist, ohne es je vorausgeahnt zu haben. 
Jemand, der an der Geschichte, an der Antike interessiert war, ist plötzlich in der Medientheorie. 
- Und am Ende ist das eine kein Widerspruch zum anderen.

[TNVH:]   Gut, dann fangen wir an. 
Ich begrüße Prof. Dr. Wolfgang Ernst vom Seminar für Medienwissenschaft an der Humboldt Universität Berlin. Beginnen wir gleich mit einer Frage, die ins Zentrum zielt: Was ist ein Medium?

[W.E.]   Ein Medium ist der physikalische Ort, durch den etwas, was vorher codiert werden muss, um übertragbar zu sein, hindurchläuft - nicht ohne Spuren im Übertragenen zu hinterlassen, nicht ohne für Verrauschung verantwortlich zu sein und am Ende etwas übertragen haben wird, was decodierbar ist. "Medium", so wie ich es verstehe, wird vom Kanal her definiert, ganz massiv von der Existenz eines Kanals. Das reicht aber nicht, sondern der Kanal ist an beiden Enden Codierungsprozessen unterworfen; symbolische Operationen und die Materialität, die Physik von Kanälen sind daran konstitutiv beteiligt. Alle anderen metaphorischen Medienbegriffe sind für diese Realität irrelevant. 

[TNVH:]   Das ist eine sehr gewagte These. - 
Wie könnte man die Medien kategorisieren?     

[W.E.]   Wenn wir sagen "die Medien", dann beginnen ja immer schon die Missverständnisse. Wenn ich mich vorstelle als "Medienwissenschaftler", dann läuft oft ein Strahlen über die Gesichter, weil man glaubt, ich komme von den Massenmedien. Nun ist die Massenmedienforschung in der Soziologie und in anderen Fächern, die es ja auch schon gab und gibt, Kommunikationswissenschaften etwa und Publizistik, gut aufgehoben; sie hat dort ihren verdienten Ort, denn Massenmedien sind eine gesellschaftliche Realität, die der eingehenden Untersuchungen bedarf. Medienwissenschaft aber, so wie wir sie verstehen an der Humboldt Universität als ein dezidiert akademisches Fach - nicht an einer Fachhochschule, nicht an einer berufspraktisch ausbildenden Schule, nicht an einer Kunsthochschule, nein, an einer Universität - ist der Ort, um die epistemologischen Bedingungen und Konsequenzen von Medien als Kulturtechniken zu reflektieren. Das heißt weniger, massenmediale Prozesse zu untersuchen, sondern auf einer anderen, grundlegenderen Ebene die Bedingungen der Medien und dessen, was Medien selbst bedingen, im aktiven Sinne zu erforschen, beispielsweise die ganz einfache, alltägliche Gebrauchsweise des Unterschieds von "analog" und "digital" in historischer und theoretischer Konsequenz zu ergründen. Ab wann reden wir sinnvollerweise von digitalen Prozessen? Beginnen digitale Prozesse in dem Moment, wo etwa Sprache durch Schrift auf kleinste bedeutungslose Einheiten, nämlich Buchstaben des Alphabets, heruntergebrochen werden kann, aus denen sich dann wieder bedeutungsvolle Einheiten zusammensetzen lassen? Hier beginnt Digitalität. Digital ist aber noch nicht binär. Wenn wir "digital" sagen, dann meinen wir eigentlich die binär operierenden Medien, also den Computer, und zwar den Computer in der spezifischen Von-Neumann-Architektur. Was geht verloren in der digitalen Welt im Vergleich zur analogen? Steht das Analoge auf Seiten der Physik? Ist das Digitale überhaupt eine Frage der Materialität oder allein der symbolischen Codierung? Dies sind Fragen, die auf der kulturgebenden Ebene den Medienbegriff hinterfragen, nicht auf der Ebene der medialen Oberfläche von Rundfunk, Fernsehen und User-Interfaces.

[TNVH:]   Es gibt innerhalb der Medientheorie auch noch andere Diskurse als den massenmedialen. Vielleicht können wir diese kurz kennzeichnen. In dem von ihr herausgegebenen Buch „Medien, Computer, Realität“ macht  Sybille Krämer drei unterschiedliche Diskurse aus: erstens den der literarischen Medien - dort scheint sie eine besondere Leidenschaft für den Unterschied zwischen Stimme und Schrift entwickelt zu haben, einen Unterschied den ja schon Platon behandelt -, zweitens den der technischen Medien, einen Diskurs, dem Sie, soweit ich sehe, zuneigen, und drittens den massenmedialen Diskurs. Es gibt natürlich auch andere Möglichkeiten der Kategorisierung. Beispielweise könnte man unterscheiden: die technisch-naturwissenschaftliche Sichtweise, die systemtheoretisch-gesellschaftliche Sichtweise und die semiotische Mediensicht. 
Für die von Ihnen angesprochene Codierung und Decodierung spielen ja Zeichen eine große Rolle, die entweder arbiträr oder indexhaft oder ikonografisch oder wie auch immer sind. 
Sind diese Zeichensysteme noch Teil der wohldefinierten Medienwissenschaft?

[W.E.]   Nur bedingt. Wir ersetzen den Zeichenbegriff lieber durch den Begriff des Signals, weil dies auf die operative Ebene von Medien zielt, nicht auf die performative; wir machen hier einen Unterschied zwischen der Operativität der Medien und der Performativität der Oberflächen. Auf der operativen Ebene laufen Signalprozesse ab, die selbst zunächst keinen Unterschied zwischen Signifikat und Signifikant machen. Es sind Signalprozesse, die dann elektrisch, elektronisch oder in anderen Formen ablaufen, die aber, um die Operativität von Medien zu beschreiben, den Zeichenbegriff erst sekundär als sinnvoll erscheinen lassen.
Mediale Funktionen und Oberflächeneffekte lassen sich mit Hilfe der Semiotik beschreiben, wenn sie an menschliche Sinne adressiert sind, aber die Innenseite der Medien lässt sich plausibler über Signalbegriffe definieren. Deswegen stehen wir auch der Kybernetik näher, die quasi ohne Semiotik auszukommen vermag, aber Semiotiken wie die von Georg Klaus und Charles S. Peirce anschlussfähig macht. Umberto Eco hat sehr schön einmal den Unterschied zwischen Signalprozessen und semiotischen Prozessen beschrieben. In semiotischen Prozessen kommen wir schnell ins Reich der kulturellen Semantik. Die Herausforderung der Medialität besteht nun gerade darin, dass sie gegenüber der Kultur eine Differenz setzt. Sie geht nicht ganz in Kultur auf. Medialität beschreibt Prozesse, die weder natürlich sind noch rein kulturell, sondern sie eröffnet ein drittes Feld, würde ich fast sagen wollen, etwas, das zunehmend nicht mehr hinreichend in Begriffen kultureller Semantik fassbar ist, obwohl sie natürlich untrennbar verstrickt sind in deren Produktion.
[TNVH:]   Aber was sind die Beobachtungsinstrumente, um die Signale überhaupt wahrzunehmen? Wenn man die Interpretation keinem Apparat überlässt, dann wird man die Signale immer vor dem Hintergrund der eigenen Kultur beobachten. Sind die Signale für uns als Zeichen lesbar, können wir sie ja gar nicht ohne Sofort-Interpretation wahrnehmen? Wir sprechen hier über die Schaltstelle zwischen der Kommunikation, die immer auch in irgendeiner Weise eine materielle Spur aufweist und deshalb ja überhaupt wahrgenommen werden kann, und dem Bewusstsein in dem Signifikant und Signifikat verknüft sind. Durch dieser Verknüpfung wird aus einem Signal oder einer Signalfolge, also aus etwas, das tatsächlich eine materielle Basis hat, die ja mit entsprechenden Apparaturen auch ermittelt werden kann, etwas, das Bedeutung trägt und damit Teil werden kann eines Sinnverarbeitungsprozesses. Information ist immer nur Information in Bezug auf ein System, das mit dieser Information etwas anfangen kann. Sie ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht. Information kann  auch als Unsicherheitsasorbtion verstanden werden und die Menge der Information kann dann gleichgesetzt werden mit der Menge der Unsicherheit, die vom empfangenden System durch die Information abgezogen wird. Und Information ist im weiteren Sinne dann eine Information innerhalb sinnverarbeitenden  Systems - im Gegensatz zu einem signalverarbeitende, das muss man denk’ ich deutlich auseinander halten -, wenn es sich um einen Unterschied handelt, der einen Unterschied in Bezug auf den innerhalb des Systems verwendeten Sinn macht. Das hat dann mit Relevanz zu tun und kommt nur bei Systemen vor, die mit Hilfe von Sinn operieren. Und an dieser Stelle wird, wenn ich das nebenbei einflechten darf, Luhmanns Medienbegriff wichtig, weil er die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien als etwas begreift, das eine Differenz markiert, von der aus die Relevanz, der Sinn, gesetzt wird, und zwar als Ergebnis einer symbolischen Generalisierung und somit eines sozialen Prozeses. Das heißt nichts anderes, als dass die Form der Beobachtung in diesem Medienbegriff thematisiert wird. Deshalb denke ich, dass es, um gesellschaftliche Prozesse zu beschreiben, interessant wäre, den naturwissenschaftlichen Medienbegriff zu benutzten, die Kybernetik, ganz wichtig, die Frage nach technischen Standarts und so weiter, als zweites die Semiotik zu bemühen - man muss da ja nicht von Medienwissenschaft sprechen - und dann als drittes den Luhmann’schen Begriff der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, also die gesellschaftliche Sinndimension, hinzuzunehmen, und alle drei Modelle aneinander anzuschließen. Hinzu müsste dann natürlich noch ein medienhistorischer Blick, Mediengeschichte, Geschichte des Mediengebrauchs auch in der ökonomischen Dimension und so weiter und die Sprechakttheorie, also die Linie Wittgenstein, Austin, Searle, Grice Lyotard. Dort spielt dann das Annehmen von Motiven eine Rolle. Und woher kommt dieses Motiv? Das Motiv entsteht, mit der Sinndifferenz, dort jedenfalls, wo es sich nicht um ein blankes biologisches oder sogenanntes „natürliches“ Bedürfnis handelt, aber auch die treten nicht an und für sich in Erscheinung, sondern sind eingebettet funktional in Sinnvorstellungen und Gesellschaft.  
Diese unterschiedlichen Theorien, die technisch-naturwissenschaftliche, die semiotische und die systemtheoretische, um sie noch einmal zu nennen, könnten also tatsächlich aneinander angeschlossen werden. Ich sehe das ja nur sehr von Weitem und wir müssten natürlich die Denker bekommen, die diese Gedanken auf einem ganz anderen Niveau darstellen und weiterdenken könnten, als ich mir das hier und jetzt auf meinem Bett sitzend vorstellen kann. Unser Part wäre es da eher, mit performativen, mit theatralen Mitteln Anschlüsse und fruchtbare Kommunikationen zu provozieren, auch durch den Einsatz von Medien. Auf diese Weise könnte eine Gesellschaftsbeschreibung entstehen, die möglicherweise fruchtbare Problemlösungsmöglichkeiten eröffnen würde und womöglich sogar Grundlage für eine Praxis böte. 

[W.E.]   Ja, ganz bestimmt; wenn es darum geht, Gesellschaft zu beschreiben, reicht es nicht aus, die enge Perspektive der wohldefinierten Medienwissenschaft heranzutragen. Das ist übrigens auch nicht der Anspruch dieser Medienwissenschaft, sondern wenn wir schon über Luhmann reden, dann ist meine Perspektive die, immer darauf hinzuweisen, woher sich denn Luhmanns Theorien speisen. Da ist einerseits...

[TNVH:]   Heider.

[W.E.]   Fritz Heider mit seiner schönen Differenz von Ding und Medium, die dann bei Luhmann Form- und Medium-Differenz heißt.

[TNVH:]   Können wir die kurz abhandeln?

[W.E.]   Gern. Es ist der schöne Gedanke von Fritz Heider, der aber im Grunde auf Aristoteles zurückgeht, dass ein Medium eine Masse von Elementen ist, die aber nicht in einer festen Bindung geordnet sind, sondern erst dann, wenn ihnen etwas aufgeprägt wird, buchstäblich "informiert" werden. Das heißt die Luft, die zwischen uns steht in ihrer Partikelhaftigkeit, ist wirklich ein Medium, so wie es Aristoteles schon sagt, dass Luft nicht Nichts ist, sondern aus quasi kleinsten atomaren Partikeln besteht. Aber erst, wenn ich einen Laut anstoße, durch mein Sprachwerkzeug, werden Schallwellen durch diese Luft gejagt und in diesem Moment wird die Luft konfiguriert, moduliert, und damit aus einem Medium eine Form. Da findet eine Formgebung statt oder eine In-Formation; so darf man mit Fug und Recht hier auch sagen. Medium meint die lose Kopplung, wie es dann Luhmann mit seinen eigenen Worten reformuliert - die lose Kopplung von etwas wie Sand am Meer, der in dem Moment, wo ich einen Fußabdruck in ihm hinterlasse, eine Form gewinnt.
Daran können wir wiederum fassen, dass das Medium selbst eigentlich keine Frage von Semantik ist; da schließt Luhmann an die Informations-Theorie von Claude Shannon an, die besagt, dass es zur Beschreibung der Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit von Information eher eines mathematischen und statistischen Werkzeugs bedarf und eben nicht der Fragen nach Bedeutung; so wie uns ein Computer völlig indifferent Sinn oder Unsinn übermittelt. Er wird beides gleichgültig verarbeiten als reine Symbole in der Signalverarbeitung. Der Computer und überhaupt die Medien machen keinen Unterschied zwischen Sinn und Unsinn.
Wir müssen uns experimentell von unserem Hang, immer wieder nach Sinn und Unsinn zu fragen oder nach Bedeutung und Bedeutungslosigkeit, befreien, um Mediumvorgänge beschreiben zu können. Damit kommt jetzt mein geliebtes Stichwort der Medienarchäologie ins Spiel - so ähnlich wie Claus Pias, ein Kollege aus der Medienwissenschaft, ein Buchprojekt unternimmt, das da heißt „Kulturfreie Bilder“, um einem Phänomen gerecht zu werden, das zunehmend unsere Realität betrifft; nämlich, dass Satelliten ständig Bilder unserer Erde oder unserer Erdoberfläche produzieren oder Überwachungskameras, die aber nicht mehr von Menschen interpretiert werden, sondern von anderen Computern. Und das nach der Vorgabe von Algorithmen, die nicht nach Sinn und Bedeutung oder nach Ikonologie zu unterscheiden vermögen*. Wenn wir auf ein Bild schauen, tappen wir sofort in die ikonologische Falle, geben diesen Bildern Sinn. Figurenhafte Bedeutung, kulturell aufgeladene Muster schlagen bei uns sofort zu, während der Scanner, den ich für den medienarchäologischen Blick gerne als Beispiel nenne, ein Bild in seiner radikalen Medialität abtastet - als eine Ansammlung, Konfiguration von Bildpunkten, die nach bestimmten Mustern konfiguriert sind, die beschreibbar sind, aber eben mit Hilfe statistischer und mathematischer Verfahren und nicht mehr in Hinblick auf kulturelle Semantik. Diese Radikalität, mit der Bilder, elektronische Bilder, durch elektronische Medien selbst interpretiert werden, macht uns darauf aufmerksam, dass wir uns daran gewöhnen müssen, dass neben unserer immer nach Sinn suchenden und interpretierenden Betrachtungsweise und unseren Beobachtungstechniken längst eine andere Realität von Beobachtung existiert, die frei davon ist, die anderen Gesetzen unterliegt - Gesetzen, die wir mit gemacht haben. Wir haben diese Maschinen gebaut, keine Frage; es sind immer noch Menschen, die diese Maschinen programieren, zumeist, auch das ändert sich gerade, aber es gibt eine Realität von Beobachtung, die nicht mehr exklusiv in Begriffen der menschlichen Beobachtung oder der menschlichen Beobachtung zweiter Ordnung zu beschreiben ist. Dies ist eine Realität, auf die Medienwissenschaft verstärkt, manchmal auch einseitig, vielleicht auch überpointiert hinweist, denn es sind nicht mehr allein Menschen, die den Kosmos interpretieren.

[TNVH:]   Ja, aber diese Maschinen werden, wenn man das konkret auf die soziale Wirklichkeit runterbricht, für bestimmte Interessen eingesetzt. Wenn ich beispielsweise bestimmte Worte am Telefon sage, dann schaltet sich unter Umständen ein Gerät ein, d.h. es ist ganz klar, dass eine Selektion zwischen Information und Nicht-Information stattfindet, die eben nicht aus der Maschine selbst kommt, sondern Ausdruck eines bestimmten Interesses ist. In den Maschinen selbst können nur Signale verarbeitet werden, aber kein Sinn. Das technische  Medium oder die mediale Maschine ist trotzdem nicht gott-ähnlich oder so, wie sich das Mittelalter den Lieben Gott vorgestellt hat, sondern es ist ein Werkzeug eines, wertfrei gesagt, gesellschaftlichen Prozesses.

[W.E.]   Was ist denn daran gesellschaftlich?

[TNVH:]   Gesellschaftlich ist daran, dass das Medium immer für bestimmte gesellschaftliche Interessen benutzt wird. Hierbei kann es mehr als ein bloßes Werkzeug sein, es kann als Apparat fungieren und Kontexte erfassen, die Menschen nicht mehr erfassen können. Bestimmte Zeichen, die in einer bestimmten Konstellation auftauchen, können dazu führen, dass auf eine bestimmte Weise observiert wird. Auch ist es möglich, dass die so oder anders aufgenommenen Daten auf Arten verarbeitet werden, wie kein Mensch es vermag; aber trotzdem ordnen sich diese Verarbeitungsprozesse in ihrer gesellschaftlich konkreten Anwendung immer dem Wollen und den Motiven von Menschen oder Interessen von Institutionen unter. Das heißt natürlich nicht, dass Medien ein neutrales Instrument der Übertragung sind, deren Logik semantisch und strukturell ohne Konsequenzen bleibt. 
Bei der Untersuchungsperspektive, die Sie vorschlagen, frage ich mich aber nicht nur nach der Zweckmäßigkeit - die könnte ich mir in bestimmten Kontexten durchaus vorstellen -, sondern auch und vor allem nach den konkreten Möglichkeiten. Das, was im Medium selbst abläuft, ist mir ja nur über Theorie und Wahrnehmung zugänglich. Wie kann ich auf etwas zugreifen, das nicht im Bewusstsein ist? Deshalb habe ich vorhin nach den Instrumenten der Untersuchung gefragt. Wenn ich das Signal nicht interpretieren darf, dann bleibt mir nur noch die Messung und die strukturelle Beschreibung. Aber auch die Ergebnisse von Messungen müssen interpretiert werden, was immer Theorie impliziert. Ich denke, die Konsequenz wäre hier eher, deutlich zu machen, dass das, auf was man zurückgreift, immer mit Beschreibung zu tun hat. Zweierlei muss man kategorisch trennen: die Beschreibungsformen - diese operieren immer im Medium Sinn - und die Dinge. Die Dinge gehören zur Welt und auf sie haben wir keinen Zugriff, da uns dies nicht gegeben ist. 

[W.E.]   Wenn wir nach den Verwendungsweisen der Medien fragen, sind wir schnell bei Begriffen wie Gesellschaft; solange wir darunter auch Militär etc. verstehen. Medienwissenschaft, so zumindest, wie wir sie in der Sophienstraße verstehen - um jetzt diesen Ort an der Humboldt Universität auch zu nennen - fragt aber nach der Prozesshaftigkeit, die in den Medien selbst abläuft; und diese Prozesshaftigkeit zu beschreiben, dass also etwa bestimmte Buchstaben selektiv gefiltert werden, das, würde ich sagen, ist suspendiert von der direkten Einbettung in gesellschaftliche Verwendung. Denn dieser Prozess ist zur Produktion von Poesie einsetzbar, dieser Prozess ist einsetzbar in ökonomisch-statistischen Verfahren, dieser Prozess wird auch eingesetzt in ganz anderen Feldern. Er ist sozusagen erst einmal nicht diskursiv festgelegt, findet aber statt. Und Medienwissenschaft ist - im Unterschied zur Soziologie - der Ort, an dem diese vorschnelle Frage nach der gesellschaftlichen Verwendung für einen Moment aufgehoben wird, um die Operativität medialer Prozesse zunächst einmal überhaupt so präzise als möglich beschreiben zu können. Ich gehe sogar so weit, zu sagen: Bedingung dafür ist, dass wir uns für einen Moment freimachen von Fragen nach Sinn, nach Gesellschaft, nach Performanz, sonst bekommen wir die Prozesshaftigkeit, die tatsächliche Operativität, nicht präzise beschrieben; wobei ich genau weiß, darüber hinaus bedarf es der Soziologen oder anderer, der Kommunikationswissenschaftler, um das dann wieder einzubetten in gesamtgesellschaftliche Diskurse. So weit reicht Medienwissenschaft nicht. Aber um überhaupt zu beschreiben, was dort abläuft, bedarf es hochpräzisen Wissens technischer Art, historischer Art, Ingenieurs-Art, mathematischer Art, kybernetischer Art; und das sind, würde ich immer noch sagen, non-diskursive Prozesse. Die Filterung von Patterns an Bildern verdankt sich hart erarbeiteten Algorithmen, die Gesetzen unterliegen, die nicht mehr diskursiv verhandelt werden, sondern die sich anderen Kulturtechniken verdanken, etwa 2500 Jahren diskreter Mathematik. 

[TNVH:]   Algorithmen können in der Tat zum Mittel künstlerischer Produktion werden. Eine neue Form der Poetik, die auf der Prozesshaftigkeit artifizieller Medien aufbaut, ist im Begriff zu entstehen. Und ich meine damit nicht die etwas angestrengten Versuche, in denen diskrete Prozesse mehr oder weniger willkürlich bebildert werden und dann auf Tiefsinn gepocht wird. Das ist sehr viel grundlegender, denn im artifiziellen Medium wird das Analoge, die Logik der Materialität des Mediums, oder, einfacher gesagt, das künstlerische Material durch Programmierung ersetzt. Die natürlichen Eigenschaften des künstlerischen Ausgangsmaterials waren ja immer schon von großer Bedeutung und ein wirklicher Meister zeichnete sich dadurch aus, dass er sein Material beherrschte, indem er seine Eigengesetze für sich arbeiten ließ. In den mittelalterlichen Künstlerwerkstätten wurden die Techniken als Betriebsgeheimnis gehütet. Das Material sollte damals hinter dem Eindruck verschwinden. Dass das Material sich nicht ganz und gar dem Willen des Künstlers unterwarf, erschien damals als Fehler. Den Impuls der Moderne, die Materialität und die künstlerische Verfahrenstechnik sichtbar werden zu lassen, halte ich für einen epistemologischen Impuls. Der sichtbare Pinselstrich bei Van Gogh macht ja nicht nur darauf aufmerksam,  d a s s  es zwischen Referent und Abbild einen Unterschied gibt, sondern zeigt auch, wie ein Ölbild entsteht. Oder denken Sie an die Siebdrucke von Andy Warhol, dessen Ästhetik sich aus der Verfahrenstechnik speist, aus der Unsauberkeit, die dadurch entsteht, dass die unterschiedlichen Siebe nicht vollkommen deckungsgleich benutzt werden. Hier wird die Verfahrenstechnik - nämlich dass im Siebdruck jede Farbe einzeln und mit einem gesonderten Sieb aufgetragen wird - zum ästhetischen Prinzip, ohne, dass großes Brimborium darum gemacht wird. Geschwindigkeit ist hier vielleicht ein kreativer Grundsatz und die aus ihr sich ergebene Nicht-Kontrolle - oder, besser gesagt, die richtige Mischung aus peinlichster Kontrolle und operativ oder performativ organisierter Nicht-Kontrolle. Von daher ist der Übergang zum digitalen Material problematisch und stellt sich zunächst als Verlust dar, denn die Materialität und die Logik von artistischen Verfahren werden im Bereich der Digitalität durch Algorithmen ersetzt. Kunst verliert damit die zwingende Logik ihrer Materialität. Das könnte heißen, dass ein Künstler, der mit digitaler Technik arbeitet, nicht Meister eines Verfahrens wird, sondern eher zum Experimentator und Entwickler von immer neuen Verfahrensweisen. Ausgangspunkt wird zunächst die Simulation der ursprünglichen Materialität sein. In künstlerischen Experimenten können dann diese Simulationen überwunden und neue ästhetische Strategien erkundet werden. Hierbei kann es sehr erhellend sein, gewisse Verfahrenstechniken oder auch nur Proportionen von einem Medium auf ein anderes zu übertragen. Auf diese Weise wird Kunst gleichsam zum medientheoretischen Experiment. Auch in unserer Videogruppe machen wir derartige Experimente. Wir übertragen bestimmte Formen und Strukturen von einem Medium auf ein anderes. Ich habe einen Freund, Sascha Schmalenberg, der einen Film blind nach einem Musikstück geschnitten hat. Ich hatte ihm das vorgeschlagen, da ich selbst mit dieser Methode im Bereich der Literatur experimentiert hatte. Er hat dann dafür eine Schostakowitsch-Sonate gewählt und sowohl Rhythmik als auch Motivik übertragen. 
Aber lassen Sie uns noch einmal auf Luhmanns Medienbegriff zurückkommen. 
Wir hatten die eine Seite gekennzeichnet: Fritz Heider. Was fehlte, war die andere, die soziologische Seite: der eigentliche Begriff symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien ist ja die Adaption eines Begriffs von Talcott Parsons. Parsons spricht von vier symbolic media of exchange: money, influence, power und value . Er rekurriert, wenn ich das als Nicht-Soziologe richtig sehe, auf Simmels “Philosophie des Geldes“, wo das Geld plötzlich als Medium beschrieben wird. Das wollte ich nur vervollständigen.




______________________________________________________________
Verschicken Sie romantische, coole und witzige Bilder per SMS!
Jetzt bei WEB.DE FreeMail: http://f.web.de/?mc=021193