[rohrpost] Nachtgedanken zur Medientheorie-Debatte

Till Nikolaus von Heiseler Till_N_v_Heiseler at web.de
Die Jan 25 23:56:03 CET 2005


Cramer: „Saussure definiert Zeichen als Doppeleinheit von Signifikant
und Signifikat (...) (und unterscheidet) exakt seine technische Komponente (= den Signifikanten) von seiner kulturellen Komponente (= dem Signifikat).“ 

- Das Kulturelle ist das „Arbiträre“, also die Verknüpfung von Signifikant und Signifikat vermittels Konvention. Das Signifikat kann nur für scholastische Realisten, Platoniker und „Idealisten“ im Ideenhimmel AN UND FÜR SICH existieren. Technisch im weitesten Sinne sind die Produktionsbedingungen des Signifikanten, also der Mechanismus des In-Formierens des Mediums. 

Cramer: „Und schließlich ist die Debatte um Funktion und Eigensinn von Medien
eine Neuauflage jener Debatte um die von Saussure eingeführte
Begriffsdichotomie von ‚Signifikat’ - als immaterieller Botschaft - und
’Signifikant’ - als materiellem Träger der Botschaft - in der Linguistik
und Semiotik.“

- Das Signifikat hat überhaupt nichts mit Botschaft zu tun, sondern ist das Vorstellungslautbild, das, was eben nicht transportiert werden kann, sondern der Konvention bedarf, um IM BEWUSSTSEIN mit dem Signifikanten oder genauer mit dessen Erscheinung (Phänomen) verknüpft zu werden/sein. Das Signifikat wird also nicht von einem Bewusstsein in das andere transportiert, sondern es besteht das Problem der doppelten Kontingenz (Luhmann), das Problem der Intransparenz, welches durch Rekursion gelöst wird: Zwar wissen wir nicht, was der andere denkt oder was er für Vorstellungen hat, aber Rede und Gegenrede greifen in der Regel zur allgemeinen Zufriedenheit ineinander. „Verstehen“ meint damit nicht mehr die Gleichheit der Vorstellung, sondern bezeichnet einen rekursiven Prozess.
Nur der Signifikant kann als Signal, als materielle Formation im Medium (das in diesem Fall die physikalische Grundlage, das Formbare meint {das in-formiert werden kann durch Signale bzw. durch dasjenige, was diese Signale produziert}) transportiert werden. Man muss deutlich unterscheiden zwischen den medialen Prozessen, die mit Signalen zu tun haben, und semiotischen Prozessen, die mit der Verknüpfung von Signifikant und Signifikat im Bewusstsein zu tun haben und die auf gesellschaftlicher Generalisierung (Arbitrarität, Konvention) basieren. 
Die große Errungenschaft Saussures - und hier unterscheidet er sich eben von Aristoteles - ist, dass er die Dinge raushält und vom „Bezeichneten“ spricht und nicht mehr von den Sachen (prágmata). Das Problem der Erkenntnis, also das Verhältnis zwischen Begriff und Ding, wird bei Saussure ausgeklammert. Wir haben also drei voneinander getrennte Forschungsgebiete:
- Verhältnis zwischen Ding und Begriff (Erkenntnistheorie, verknüpft mit der Frage, wie kann das in den Blick geraten, was unsere Grammatik, Logik, Begriffe etc. nicht fassen, wo sind die Grenzen der Erkenntnis? Inwieweit ist unsere Grammatik ontologisch? Gibt es außerindogermanische Gegenbeispiele {Whorf}? Wie bilden wir Begriffe? Was ist Beobachtung?  etc. etc.) 
- Verhältnis zwischen Signifikat und Signifikant, Syntax von Signifikanten und Kontextualisierung, Problem der Komplexität, Unterschied zwischen natürlichen und formalen Sprachen etc. (Semiotik)
- Verhältnis zwischen Signal und Medium („Medienwissenschaft“)

Wenn man in der eng gefassten Medienwissenschaft nun tatsächlich Medium vom Kanal her definiert, wird „Medienwissenschaft“ zu einer Disziplin, die nur historisch sinnvoll angewandt werden kann (Hagen, Kittler, Zielinsky) und damit zur Medienarchäologie. Kittler, mit dem wir gerade in der Akademie der Künste sprachen (stell ich bald online, ist nur ganz kurz), sagt: Medienwissenschaft ist nur historisch möglich, alles andere ist Bla-bla.  

- Warum aber sollte man sich mit der Vergangenheit der Medien derartig intensiv beschäftigen?
- Wenn wir mit Innis/McLuhan davon ausgehen, dass das neue Medium zunächst das alte kopiert, dann ist aller unser Umgang mit dem Computer immer noch an den Simulationen der klassischen Medien der Neuzeit ausgerichtet, bzw. trägt Spuren des historischen Mediengebrauchs. Wenn wir also die Logik der analogen Kanäle studieren, dann müssen wir umgekehrt fragen, was diese Kanäle nicht fassen konnten und können, und können dann über eine Negation unter Umständen zu einem experimentellen Gebrauch des Computers kommen. Mediengeschichte ist in diesem Sinne tatsächlich der Blick auf die „Realitätsbedingungen der Aussagen“ - aber eben nur historisch möglich. Die analogen Medien bestehen zwar nicht mehr, bzw. werden nicht mehr bestehen, werden aber als Konventionen, Sondersemantiken, Formate oder auch als Genres weitergeschleppt. 

Fasst man diese „Realitätsbedingungen“ (das, was Foucault das „historische A priori“ nennt) allgemeiner, könnte man vielleicht sagen, dass die Realitätsbedingungen unserer Kommunikation/Kultur/Gesellschaft drei vollkommen unterschiedliche Gesichter besitzen: 

1) Die historische Dimension, also die Einschränkung der Benutzung des Computers durch die Geschichte der Medien. Hier könnten Theorien entstehen, „die uns darauf aufmerksam machen, wo uns das Wissen unserer eigenen kulturellen Vergangenheit daran hindert, die Optionen der Gegenwart zu erkennen“ (Ernst, Wozu Medientheorie?)

2) Wie wird Medienbenutzung durch Selbstermöglichung des Erfolgs diktiert und welche Rolle spielen hierbei ökonomische Prozesse? Wie schreibt sich die Ökonomie in den Gebrauch der Medien bzw. in  alle Kommunikation ein? Gibt es andere Möglichkeiten des Mediengebrauchs? (Hier würde man eher vom „Funktionieren“ ausgehen, nicht von der Geschichte). Diese Dimension wird zunehmend wichtiger, je mehr wir in eine Kultur der Übertragung geraten und je mehr die Tradition an Kraft verliert. 

3) Welche Bedeutung haben technische Standards, die Verteilung von Lese- und Schreibrechten etc.? Das wäre dann tatsächlich ein historisches A priori auf technischer Ebene! In diesem Zusammenhang hat es wenig Sinn, vom Computer als Ganzem zu sprechen, sondern man müsste die einzelnen Bauteile betrachten.

Sehr wichtig fand ich, worauf du, Florian Cramer, hingewiesen hast: Wollte man (was du ja nicht willst) den Computer als Medium verstehen, erscheint hier plötzlich etwas Neues, nämlich der Algorithmus, die „Verrechnung“, d.h. war es bei den analogen Medien so, dass sie eine bestimmte Codierung erzwangen und damit die „Botschaften“ formten (Beispiel: SOS) bzw. einen harten Einschluss/Ausschluss zwischen transportierbaren Signalen und allem anderem machten, kann der Computer nicht nur alle diese analogen Medien simulieren, sondern auch Daten umrechnen; das hat dann mit Schalten zu tun und nicht mehr allein mit einem Kanal. So lange allerdings die Daten mit dem Programm gelesen werden, mit dem sie geschrieben wurden, beschränkt sich das Rechnen (also das Schalten) auf die Simulation eines (virtuellen) Kanals, (eines Kanals, der analog nicht mehr unbedingt möglich wäre). Das Mehr des Computers, sein Überschuss über die technischen Medien der Neuzeit, da wo er nicht mehr tatsächliche oder virtuelle Analogmedien simuliert, besteht m.E. einerseits in der Möglichkeit unter experimentellen Bedingungen die Medien der Neuzeit noch einmal zu erfinden, sie gegen den Strich zu bürsten, nicht damit aufzuhören, sie immer wieder zu erfinden, abzuwandeln, weiterzuentwickeln (und zwar insbesondere in geschützten Bereichen, im Bereich der Kunst, der Wissenschaft, der Subkultur und zu warten, ob sich von hier aus gesamtgesellschaftliche Impulse geben lassen) und andererseits in seiner Fähigkeit der Vernetzung; denn selbst wenn jeder kommunikative Akt im Netz mit dem Modell Sender-Codierung-Kanal-Decodierung-Empfänger (Shannon) begriffen werden kann, ist Vernetzung deshalb trotzdem mit diesem Modell nicht fassbar, weil sich empfangene Daten umrechnen lassen. 
Wenn ich also eine e-mail bekomme und diese in ein Wiki tue oder den Code als Deko für meine HTML-Seite benutze oder die e-mail von einer Computerstimme sprechen lasse und über ein Netzradio schicke, ist dies jenseits dessen, was analoge Medien konnten. Die bisher weitgehend ungenutzte Möglichkeit besteht darin, diese Umrechnung zu automatisieren. 

Unsere These ist, dass nicht nur alle technischen Medien im Computer „implodieren“ (Kittler), sondern etwas „Soziales“ sich in den Bereich der Technik verlagert. Wie aber lässt sich diese Sozialdimension erfassen oder beschreiben? Wäre es dafür nicht zunächst nötig, Sinn- und Signalprozesse zu unterscheiden, um dann in einem zweiten Schritt ihr Ineinanderwirken zu untersuchen?  


Glück zu allen!
till

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