[rohrpost] Notizen zu Blogs

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Don Okt 13 19:57:24 CEST 2005


- Scheinbar haben Blogs (in dieser historischen Reihenfolge) das Usenet,
Mailinglisten, Homepages als das Mainstream-Format unabhängiger
Netzpublizistik abgelöst. Das gilt offenbar auch für Netzkunst und
-literatur, wie z.B. ein Blick auf die Einreichungen zum
"Junggesellenpreis für Netzliteratur" verrät:
http://www.junggesellenpreis.de/beitraege.html

- Wie die meisten publizistischen Formate des Internets haben auch
Blogs ihren Ursprung in Systemfunktionen und Nomenklaturen von
Netzwerk-Serverbetriebssystemen. E-Mail z.B. geht auf das Mainframe-
und Unix-Kommando "mail" zurück, Dokumente in Markupsprachen auf
Unix-manpages und den Textformatierer "troff". Das Wort "Weblog" stammt
von Jorn Barger, einem Joyce- und KI-Nerd, der Mitte
der 90er Jahre auf seiner Homepage Websites, die er besucht hatte,
genau wie in einer System-Logdatei chronologisch in jeweils einer
Zeile verzeichnete. Unter Unix liegen diese Dateien unter /var/log
und werden von Serverprozessen ("Daemonen") angelegt, die über keine
interaktive Nutzersteuerung verfügen und nur über ihre in Dateien
umgelenkte Standardausgabe ("stdout") Zugriffe protokollieren oder
Fehler melden. Bargers Weblog wurde später zu "we blog" und dann zu 
"blog" verballhornt. 

(Ein anderer Vorläufer der Blogs war das Nutzer-Informationsprotokoll
"finger" mit seinen schreibbaren ".plan"-Dateien, das jedoch im Laufe
der 90er Jahre auf den meisten Servern aus Sicherheits- und
Datenschutzgründen deaktiviert wurde.)

- Mailinglisten wie Nettime werden Blogs immer ähnlicher und büßen
dabei Bedeutung ein, weil über sie zumeist fertige Aufsätze oder Texte
aus anderen Nachrichtenquellen verschickt werden, auf die dann
bestenfalls sporadische Kommentare folgen. Oder, an der rohrpost zu
beobachten: Mailinglisten werden zu Verteilern von Ankündigungen, die
dann Blogs kommentieren.

- Das ungeschriebene Gebot aller Blogs: Subjektiv, individuell, privat
zu sein, auch in der Sprache. Wer hätte 1998 gedacht, daß Rainald
Goetz' Netztagebuch "Abfall für Alle" einmal, als Form-Avantgarde
sozusagen, die Zukunft der Netzliteratur vorzeichnen würde, und nicht
Hypertext, Multimedia, Programmierung, etc.? ("Abfall für Alle" wurde
damals für den Internet-Literaturpreis der ZEIT eingereicht und ging
leer aus.)

- Wegen des Subjektivitätsgebots funktionieren Blogs und funktionieren
die (auf Slashcode, PHP Nuke etc. basierenden) Slashdot-Clones nicht,
obwohl sie fast das gleiche sind und tun. Doch Blogs bauen auf
Individualität, Slashdot-Clones mit ihren Moderationssystemen auf die
Masse der Partizipation - weshalb ambitionierte Projekte wie
technocrat.net und discordia.us mangels kritischer Masse gescheitert
sind.

- Kein Gebot ohne seine Parodie und Unterlaufung:
http://freshmeat.net/projects/blogdrone/
http://lcamtuf.coredump.cx/blog.shtml (Danke, Björn!)

- Was bedeutet es, wenn Diskurse von Mailinglisten in Blogs
abwandern? Ein monadischer Rückzug von Gruppendiskussionen, inklusive
ihrer trollings, flamewars, des Ankündigungsspam etc.. Die Vernetzung
findet nunmehr auf formalisiert technischer Ebene - durch RSS und
"Backtrack"-Links - statt, nicht im direkten diskursiven Austausch.
Antworten und Kommentare von Dritten sind nicht mehr gleichberechtigt,
sondern liegen kleingedruckt auf separat anzuklickenden Seiten; auch
dies ein Symptom der auktorialen Orientierung von Blogs. [Dies ist
nicht wertend gemeint.]

- Mailinglisten sind oft international, fehlerhaftes Englisch wird
toleriert. Dasselbe gilt für Newsgroups sowie Slashdot und seine
Clones. Blogs sind, wohl wegen des Subjektivitäts-Gebots, fast immer
muttersprachlich und im deutsch- und französischsprachigen Raum Spiegel
und Ausdruck eines mittlerweile muttersprachlich gewordenen Internets.

- Schon dreimal passiert: Jemand liest die rohrpost, antwortet mir aber
nicht auf der Liste, sondern zieht in seinem/ihrem Blog anonym oder
pseudonym vom Leder, inklusive persönlicher Schmähungen. Das machen
sogar Leute, denen ich noch nie begegnet bin.

- Monadisierung und Einpuppung (bzw. "cocooning") sind auch der
Blogger-eigenen Sprache ablesbar: "Blogging", "Blogosphäre", "Blogroll",
"Watchblog" etc.. "Blogging" ist dabei vor allem selbstgewählte
sozioterminologische Distinktion - weniger technisches Format, das ja
früher einfach "Web-Tagebuch" hieß.

- Seltsamer linguistischer Kreuzzug in der deutschsprachigen
"Blogosphäre": die Kampagne, es müsse "das Blog" und nicht "der Blog"
heißen. "Log" als Substantiv im Neutrum ist laut Fremdwörterduden der
"Geschwindigkeitsmesser eines Schiffes", als Abkürzung für "Logbuch" -
so die Pseudo-Etymologie der Kampagne - ist es nicht gebräuchlich. Mit
der Herkunft des Blogs aus der Logdatei könnte man sich auch auf "die
Log" einigen. Doch wenn man schon etymologisiert, dann wenigstens
richtig: gr. "logos" ist Maskulinum, also "der Blog".

- Gegenüber traditionellen Websites und Homepages zeichnen sich
Blogs, dank der Programme, auf der sie basieren, überwiegend durch
standardkonformes, Browser-unabhängiges XHTML sowie Trennung von
logischem und visuellem Markup durch CSS-Stylesheets aus. Es scheint,
als hätten Blogs diesen Standards endlich zum Durchbruch verholfen.

- Nutzerstatistik meines Blogs "Netzweltspiegel" (eines "Watchblog" für
die Computerberichterstattung von SPIEGEL ONLINE): 75% Windows, 15%
Linux, 10% MacOS, aber, interessanterweise: 65% Mozilla und nur 15%
Internet Explorer.

- Blogs sind auch ein Ausdruck billiger und schneller gewordener
privater Internetzugänge. Noch vor 2-3 Jahren wäre es Luxus gewesen,
während des Schreibens von Texten online sein zu müssen und auch keinen
Offline-Zugriff auf gelesene Texte zu haben. Gibt es einen Zusammenhang
zwischen dem Rückzug aus Kulturzentren, Instituten, Festivals, Büro- und
Arbeitsgemeinschaften, die man früher für einen breitbandigen Netzzugang
brauchte, in die Privatwohnung mit 7-Euro-Flatrate, und dem Privatstil
des Bloggings? Ist es Zufall, dass Blogger, die ich kenne, ehemalige New
Economy-Arbeiter sind, die mittlerweile zwischen Freiberuflertum und
Hartz IV zuhause sitzen?

- Ein Nachteil von Blogs, neben den höheren Anforderungen an die
Netzanbindung: Ihre Zentralisierung auf jeweils einem Server, somit
auch ihr absehbares Verschwinden und Verschollengehen, im Gegensatz zu
offline gespeicherter E-Mail. Projekt: Individuelle Archive/Sammlungen
(möglichst nicht komplette, sondern subjektiv gefilterte) von
Mailinglisten sammeln und vergleichend nebeneinanderstellen. Wie sieht
das Nettime- oder rohrpost-Archiv von XY aus? Wie könnte man ähnliches
für Blogs implementieren? D.h.: Wie können Blogs auch die Subjektivität
ihrer Leser ausdrücken?

-F

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