[rohrpost] Den Differenzen nachspueren (auf nach Kassel, selber gucken!)

Andreas Broeckmann ab at tesla-berlin.de
Fre Jun 15 11:28:03 CEST 2007


Den Differenzen nachspueren
(nach einem ersten schnellen Rundgang durch die d12 in Kassel)

Andreas Broeckmann

Es sind die Tage der Noergler und Besserwisser. Buergel und Noack 
haben mit der weitgehenden Abwesenheit von 'safe bets' und 'big 
names'; mit dem gestalterisch und kuratorisch ziemlich ungluecklichen 
Aue-Pavillion; mit wenig pressemaessig verwustbarer, fotogener Kunst 
(kein Wunder, dass man so viel von Friedls Giraffe und Hazoumes 
Fluechtlingsboot hoert und sieht); u.ae., einige Flanken aufgemacht, 
in die sich die feindlichen Truppen der KritikerInnen und 
KuratorenkollegInnen nun mit Lust hineinstuerzen. Und so kann man 
sich denn jetzt auf die Treppe vor dem Friedericianum hocken, auf 
Sanja Ivekovics Unkrautfeld blicken und Schwachstellen sammeln. 
Persoenlich neige ich dazu, diese miesepetrige Art des Muessiggangs 
zu vermeiden. Dies nur zur Warnung vorweg.

Man mag als selbstbewusster Mensch nicht gern gesagt bekommen, wie 
man gucken muss. Roger Buergel hat das in seinen Interviews leider 
ein bisschen oft gemacht. Aber recht hat er doch, wenn er sagt, man 
muesse sich bei dieser documenta 12 auf die Unwaegbarkeiten 
einlassen, muesse sich Zeit nehmen fuer die Erkundung ungesicherten 
Terrains. So wie sich die Ausstellung der journalistischen Suche nach 
'Leit-Werken' widersetzt, so stiftet sie auch Verwirrung durch die 
Integration von historischen Arbeiten, vor allem aus den 1960er und 
70er Jahren, und durch die Praesentation von zentralasiatischen und 
afrikanischen Textilien an unterschiedlichen Stellen der 
weitlaeufigen Ausstellungsorte. Die Kuratoren sprachen zur 
Begruendung von der 'Migration der Form', und waehrend einige 
Kritiker das Nebeneinanderstellen des nur formal Verwandten fuer 
kurzschluessig halten, wuerde ich dafuer plaedieren, den Kontrast zu 
nutzen, um ueber die Werke jeweils neu nachzudenken. Es ist ja nicht 
gesagt, dass die Dinge, die da aufeinandertreffen, durch diese Naehe 
auch Analogien entwickeln muessen - so als sei die Bedeutung des 
einen irgendwie ansteckend fuer das andere. Im Gegenteil: bisweilen 
ist der Kontrast des aehnlich nur Erscheinenden sehr lehrreich. 
Kurz-Schluessig erscheint dagegen vielmehr das schnelle Verwerfen der 
offenen, oeffnenden kuratorischen Geste.

Waehrend einige KuenstlerInnen penetrant oft auftauchen und die 
Ausstellung (wie jede andere, und zum Glueck) ihre redundanten 
Strecken hat, in denen man sich flanierend erholen kann, gibt es doch 
auch reichlich Anlass fuer einige spannende Entdeckungen und 
Neuentdeckungen. Unter den historischen Positionen waren das fuer 
mich die Werke der tschechischen Kuenstlerin Bela Kolarova, die in 
den 1960er Jahren interessante abstrakt-formale Assemblagen und 
Photogramme aus technisch raffinierten Alltagsgegenstaenden 
herstellte. (Neben den Druckknopf-Arbeiten im Aue-Pavillion sollte 
man die kleine Rasierklingen-Assemblage in der Neuen Galerie nicht 
verpassen!) Ueberzeugend auch die material-sensiblen Arbeiten der 
indischen Kuenstlerin Sheela Gowda, u.a. in der Neuen Galerie eine 
Rauminstallation mit verbrannten Ascheresten, die eine grosse 
zeitliche Tiefe mit sinnlicher Fragilitaet und (olfaktorischer) 
Intensitaet verbindet.

Das Interessante an der Mischung historischer und aktueller 
Positionen (ich schaetze, dass gut drei Viertel aller gezeigten 
Arbeiten aus den letzten fuenf Jahren stammen) ist meines Erachtens 
neben dem immer nuetzlichen Effekt des 'manche auch heute relevanten 
kuenstlerischen Positionen sind schon 40 Jahre alt' (und wurden 
oftmals von Frauen gesetzt), dass auch die neueren Werke in diesem 
Nebeneinander gestaerkt werden; denn es wird deutlich, dass sie sich 
auch im Vergleich mit reiferen, historischen Positionen durchaus 
behaupten koennen. Natuerlich nicht durchweg, aber wie der 
geografisch mutige Querschnitt durch die aktuelle Kunstproduktion, so 
regen auch diese historischen Schnitte und Assemblagen dazu an, den 
Differenzen nachzuspüren.

Mein spektakulaerstes Erlebnis hatte ich in der documenta-Halle in 
der von orange-farbenem Licht durchfluteten Installation des Spaniers 
Inigo Manglano-Ovalle, in der man sich einige Minuten aufhalten muss, 
bis man wirklich sehen kann, was es zu sehen gibt. Ein Blick zurueck 
in die Haupthalle vermittelt dann nicht nur eine Begegnung der 
anderen Art mit der eigenen Retina, sondern bietet auch eine 
ueberzeugende Metapher fuer die Art und Weise, wie stark unsere Sicht 
auf die Welt durch die ideologische 'Einfaerbung' der eigenen 
Umgebung gepraegt ist. Ein paar Schritte weiter gibt es dann die 
politisch-virtuelle Konkretisierung dieser Erfahrung, wo das 
bedrohliche Modell eines Chemielabors, dessen angebliche Existenz den 
Irakkrieg mit rechtfertigte, zwar greifbar, aber doch voellig irreal 
im Schwarzweissdunkel der 3D-Animation Wirklichkeit daemmert.

Die documenta 12 bietet die Chance auf eine vielfaeltige 
Horizonterweiterung. Dieses Angebot muss man nicht annehmen, aber man 
kann. Bescheiden anmutendes Master-Dokument der Veranstaltung sind 
wahrscheinlich die zahlreichen Zeitschriften und Magazine aus der 
ganzen Welt, die im Eingang der documenta-Halle einen beeindruckenden 
Einblick geben in die intellektuelle Produktion und Reflexion, in 
deren Kontext die Ausstellung sich mit ihrer Werkauswahl stellt. Der 
damit verbundene Anspruch ist immens, bringt diese Sammlung doch eine 
einschuechternde Anzahl von Perspektiven auf die weltweite 
zeitgenoessische Kunstproduktion und Kulturkritik ins Spiel, die sich 
auf der Achse Wien-Kassel-Berlin noch kaum in den Blick nehmen, 
geschweige denn beurteilen lassen. Fuer den Mut, sich selbst und die 
BesucherInnen der documenta 12 in dieses globale intellektuelle und 
kuenstlerische Spannungsfeld hineinzustellen, gebuehrt dem Team um 
Buergel und Noack Dank. Es ist ein Floss, das sie uns zur Ueberfahrt 
anbieten, keine sichere Faehre, und schon gar keine Jacht. Aber ich 
bin zuversichtlich, dass die, die mitfahren, bereichert ans andere 
Ufer gelangen werden.


(abroeck, Berlin, 15. Juni 2007)