[rohrpost] Medientheater & Netzperformance.

Till Nikolaus von Heiseler till.n.v.heiseler at googlemail.com
Don Jan 10 20:38:29 CET 2008


Formal lässt sich die Unterscheidung von literarischen und
nicht-fiktionalen Texte auf der Ebene ihrer jeweiligen Verweisstruktur
begründen. Während nicht fiktionale Texte eine offene Verweisstruktur
besitzen (denn sie können auf alles verweisen, von dem angenommen
wird, dass es real sei, erschafft die schöne Literatur ihren eigenen
Kosmos als geschlossene Gegenwelt. Die Struktur des Netzes, in dem
sich technisch jeder Punkt mit jedem anderen verbinden lässt,
entspricht deshalb eher einem nicht fiktionalen Inhalt, da
Beschreibungen, die sich selbst als Beschreibung von Realität
beschreiben, sich mit allen anderen Beschreibungen des gleichen
Realitätsverständnisses verbinden lassen. Fiktionalität dagegen ist
immer geschlossen. Die Buchdeckel makieren physikalisch die Grenze des
Buches. Es ist deshalb kein Wunder, dass Fiktionalität (das heißt
Fiktionalität, die sich als solche beschreibt), eigentlich erst in
Folge des Buchdruckes entsteht. Abgesehen von den sicherlich wichtigen
ökonomischen Implikationen, der nun entstehenden
Unterhaltungsliteratur, besteht eine formale Analogie zwischen der
Geschlossenheit des Buches und der Abgeschlossenheit der Fiktion. Im
Gegensatz zum Buch, zum Film und zum Theaterstück ist eine Narration
im Internet vom Medium her nicht kategorisch abgeschlossen. Deshalb
eben funktionieren im Internet jene Erzählungen gut, die als
Non-fiction daherkommen, als Nachricht oder Dokumentation (Blair Witch
Project, lonely girl 15 etc.). Die Ästhetik des Netzes verlangt
literarisch und theatralisch gleichsam eine Vermischung von Realität
und Fiktion. Die Entwicklung vom web zum web 2.0 verspricht eine
Entwicklung von der Netzliteratur, die nur gelesen wird zur
Netzperformance*[1]*. Der Ästhetik des Netzes theatralisch zu folgen
könnte deshalb eine Literarisierung von Wirklichkeit und eine
„Realisierung" von Literatur bedeuten. Hier wäre beispielsweise
anzuschließen an Rimbaud, Artaud, Lasker-Schüler und Dada. Die Figuren
krabbeln aus den Büchern heraus, steigen von der Bühne oder der
Leinwand herab, woran man sie als Autor kaum wird hindern können, denn
die Figuren haben ihr eigenes Leben, dass sich maßgeblich den Medien
und Formaten verdankt, in denen sie geboren wurden und ihr Leben
haben. Überträgt man die Struktur des Netzes in den dreidimensionalen
Raum, entsteht die Konzeption des fiktiven Künstlers*[2]*.

*[1]* Die unterschiedlichen künstlerischen Bereiche sind unter den
Bedingungen des Netzes neu zu definieren. Das Literarische bezieht
sich auf das Ausdenken und Entwickeln von Narrationen sowie ihrer
Darstellung in der Schrift in Hyperstruktur, das Theatralische
erscheint einerseits als die transitorische Kommunikation von Figuren
und Avataren und andererseits als Prozess der Verkörperung, die dann
wiederum in der Aufnahme zum Datensatz werden. Und das filmische
Element schreibt sich im Kombinat von Bewegtbild und Audiospur fort.
Während nun der Text zum Buch als Distributionsmedium drängt, das
Filmische zum Screening, die Bilder, Spuren und Konzepte zur
Ausstellung, ist das Element der Netztheatralität das ureigentliche
Element des World Wide Webs und eben nicht in ein anderes Medium zu
transferieren und damit ist es Medientheater im ureigenen Sinne.
Genauso wie der Schauspieler im Raum und in Anwesenheit dem
Transitorischen verpflichtet ist d.h. dass die Kunst des Schauspielers
im Augenblick des Erschaffenwerdens vergeht, so ist die
Netzperformance eine transitorische Kunst. Die Möglichkeit des
Web.2.0, dem User die Möglichkeiten zum Ausdruck zu geben, bedeutet
auf der Ebene der Internetnarrration, immer einen Rückkanal zu
realisieren, der von Automatismen (log ins, automatischer E-Mail,
Formularen etc.) über Moderation zum tatsächlichen Dialog,
beispielsweise im Chat, in Foren oder in E-Mails, führen kann, doch
die eigentlich freie und nicht mehr ganz zu kontrollierende
Netzperformance beginnt dort, wo sich die lancierten Narrationen in
unterschiedlichen Medien und Formaten fortschreiben.
=> http://fade-to-black.styx.org/
=> http://www.webchannel-one.com/malaria7/?page_id=71

*[2]* Fiktive Künstler oder Autoren sind von Künstlern oder Autoren
erfundene Künstler oder Autoren. Projekte mit fiktiven Künstlern und
Autoren zeichnen sich dadurch aus, dass zwei Dinge, die im „realen"
Künstler oder Autor zwangsvereint werden, nämlich die Person, die die
Kunst oder den Text produziert, und die Person, die den Künstler oder
Autor spielt, sich glücklich scheiden. Jeder, der jemals als Künstler
oder Autor in der Öffentlichkeit stand, wird diese innere
Gespaltenheit zwischen dem, der tatsächlich etwas erschafft, und
demjenigen, der nun diesen Schöpfer spielen soll, empfunden haben.
=> http://www.mail-archive.com/rohrpost@mikrolisten.de/msg01287.html
=> http://www.formatlabor.net/lara/

Medientheater das Buch:
(in dem dieser Text wiederum eine Fussnote sein wird)
http://ssl.einsnull.com/paymate/search.php?vid=5&aid=1888


--
http://www.formatlabor.net/blog/
http://del.icio.us/formatlabor.net


-- 
http://www.formatlabor.net/blog
http://www.formatlabor.net
http://www.tnvh.de