[rohrpost] TELEPOLIS: Browse mich, Baby

Krystian Woznicki krystian@snafu.de
Thu, 06 Dec 2001 11:50:22 +0100


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  Browse mich, Baby

  Stefan Krempl   06.12.2001

  Der 5. Internationale Browserday suchte in Berlin nach alternativen
Navigationsmedien f=FCr die mobilgesinnte Generation

  Die neue Browsergeneration hat mit ihrem von Marc Andreessen 1993
entwickelten Vorfahren Mosaic nicht mehr viel zu tun. Sie bildet
Schnittstellen zwischen Cyber- und Cellspace mit der realen Welt und
verkuppelt Menschen und Maschinen mit-, unter- und =FCbereinander.

  Die Bilder verschlingen sich gegenseitig auf der gro=DFen Leinwand.
Gerade noch blendet sich [1]Jaanis Garancs, Student an der
[2]Kunsthochschule f=FCr Medien K=F6ln auf dem Video in eine Disco ein,
dann sind die Zuschauer mit ihm schon wieder mitten auf dem Highway.
Der "Big Brotherhood Browser" machts m=F6glich, den Jaanis durch die
Verschmelzung der Kamera-durchleuchteten realen und der virtuellen Welt
der Datennetze schafft. Mit "Tausenden von Kameras" will der Designer
jeden einzelnen Menschen bewaffnen, die alle in einem Supersystem
zusammenlaufen. Jeder k=F6nnte dann ans Netz angekoppelt das Leben der
anderen durchbrowsen, w=E4hrend der Gro=DFe Bruder Datenbank alles
gleichzeitig beobachtet und allwissend wird. Noch ist Jaanis'
Orwellianischer Navigator eine Vision. Doch Designskizzen aller Art
waren am Dienstag auf dem [3]5. Internationalen Browserday - die
Website wurde von dem Erstpreistr=E4ger und Fensterliebhaber [4]Joes
Koppers gestaltet - in der dem Berliner Nebel und Regen trotzenden
[5]Volksb=FChne genauso gefragt wie fertige Projekte.

  "Wir versuchen hier etwas anderes zu pr=E4sentieren als den normalen
kommerziellen Kram", erkl=E4rte Mieke Gerritzen. Die Holl=E4nderin von der
[6]Agentur NL.Design hat den Wettbewerb 1998 zusammen mit ihrem
Landsmann Geert Lovink ins Leben gerufen. Es ging ihr darum, dem damals
"so kranken Neuen-Medien-Betrieb" eine nicht nur auf B=F6rsenkurse und
Gr=FCnder-Spirit schielende Bewegung entgegenzusetzen.

  Mobile on my Mind

  Die hippe und im Outfit wie in ihren Werken alle Standards
unterlaufende Szene von Webdesignern, Netzk=FCnstlern und Surfern gab
sich dieses Jahr absolut "Mobile Minded". Der sich aus Handys, PDAs und
anderen tragbaren Computer-Gadgets bildende "Cellspace" sollte
k=FCnstlerisch als neue Kommunikationsumwelt erforscht werden.

  Auch politische Ziele sahen die Veranstalter, zu denen die
Bundeszentrale f=FCr Politische Bildung ( [7]BPB) geh=F6rte, mit diesem
Motto verbunden. "Wir fordern die Demokratisierung des gesamten
drahtlosen Raums", verk=FCndete Mieke Geeritzen. Denn noch sei das mobile
Netz ein "h=F6chst kommerzielles und kontrolliertes" Gebilde, das einer
=D6ffnung bed=FCrfe. Gleichzeitig wohne der "Mobilisierung" aber durchaus
das befreiende Element inne, sich nach Lust und Laune zu bewegen und
festgefahrene Strukturen zu hinterfragen.

  Monopole sind dumm

  Thomas Kr=FCger, Pr=E4sident der BPB, schlug in seiner Er=F6ffnungsrede=
 noch
eine weitere Br=FCcke, n=E4mlich die zwischen "Informationsfreiheit und
gestalterischer Freiheit". Die Designer rief er auf, mit Hilfe ihres
Ideenreichtums notwendige Freir=E4ume bei der Gestaltung unserer
Informationsarchitektur zur Geltung zu bringen.

  Mit Hinblick auf den beherrschenden Marktanteil des Internet Explorers
von Microsoft im Bereich der Standard-Browser wies Kr=FCger darauf hin,
dass "Monopole nicht nur bequem, sondern auch dumm und uns alle =E4rmer
machen." Entwicklungen wie Freie Software und Peer-to-Peer-Netzwerke
begr=FC=DFte der SPD-Politiker in diesem Zusammenhang ausdr=FCcklich, das
sich mit ihnen eine "grundlegende soziale und politische Dimension der
neuen Informations- und Kommunikationstechnologien zu Wort meldet."

  Den aus 60 Bewerbern ausgew=E4hlten 30 Wettstreitern blieb in der
Volksb=FChne dann jeweils knapp bemessene drei Minuten Zeit, um ihre
Browservisionen und Schnittstellen dem Publikum und der Jury
schmackhaft zu machen. Unerbittlich wachte eine die Sekunden z=E4hlende
Computeruhr =FCber die Einhaltung des Reglements.

  Eine halbe Minute vor Schluss raunte der Moderator, Willem Velthoven
von der gleichzeitig die meisten Studenten ins Rennen um den tollsten
Browser schickenden Hochschule der K=FCnste Berlin ( [8]HdK), zudem
jeweils ein sonores "30 seconds" ins Mikrofon. Professionelle
Pr=E4sentatoren hatten allerdings eh genau getimte Videos f=FCr den Final
Countdown erstellt, sodass ihnen die tickende, den H=F6hepunkte mancher
Vorstellung darstellende Uhr nichts anhaben konnte.

  Um die Datenwelt in 180 Sekunden

  Was die jungen Designer aus den Niederlanden, Kanada, Italien und
Deutschland in den 180 Sekunden vorstellten, drehte sich weit gehend um
das verbindungsstiftende Element der Mobilkommunikation. Geradezu
obsessiv lotete ein Gro=DFteil der Wettbewerber neue M=F6glichkeiten aus,
wie sich die den Menschen st=E4ndig begleitende Kleinger=E4tewelt zum
Kontaktkn=FCpfen oder schlicht und einfach zum Maschinen-unterst=FCtzten -
und dadurch weniger peinlichen - Anmachen nutzen l=E4sst.

  Die [9]C-Watch zum Beispiel, die sich Anne Katrin Konertz und Camilla
Hager von der HdK ausgedacht haben, ist eine Art Walkman, mit der sich
allerdings nicht nur die eigene Musik, sondern auch die der anderen
Passanten h=F6ren l=E4sst. Das "C" steht dabei nat=FCrlich f=FCr=
 "Connecting",
denn Ziel der ganzen Geschichte ist es, in gleichen musikalischen
Sph=E4ren schwebende Menschen zusammenzuf=FChren. Im Pr=E4sentationsvideo
fanden denn auch die Joggerin und der Jogger am Grundwaldsee
zueinander.

  Auf einem =E4hnlichen Gedanken fu=DFt die [10]mDISCO des HdK-Studenten
Jakob Lehr. Auf dem tragbaren Mini-Rechner stellt der Benutzer zun=E4chst
seine eigenen Vorlieben ein. Betritt er ein Caf=E9 oder kommt er sonst
anderen Menschen r=E4umlich nahe, checkt sein automatischer Kuppler die
Ger=E4te der anderen Personen. "Wenn sich zwei mit =E4hnlichen Interessen
gefunden haben, piept es", erkl=E4rt Jakob. "Und dann sind die Leute
freundlich zueinander."

  Vom Hundehalter-Syndrom zur perfekten Anmache

  Und dann war da noch Dennis Paul (HdK), dessen [11]Me2-Projekt
denselben Zweck mit etwas mehr Komplexit=E4t erf=FCllen soll und daher auch
glatt in die Endrunde kam. Dennis ist sch=FCchtern, wie er in der
Volksb=FChne offen legte. Mit dem Me2-Ger=E4t l=E4sst sich daher ein
virtuelles Alter Ego im Handheld erstellen, das der Student zun=E4chst
gr=F6=DFtenteils autonom mit den Statthaltern anderer Menschen verhandeln,
spielen oder streiten l=E4sst. Bleiben gemeinsame Interessen =FCbrig, macht
die Technik ihre Besitzer auf die Ankn=FCpfungspunkte aufmerksam. Als
Vorbild stand Dennis das "Hundehalter-Syndrom" vor Augen - denn die
kommen =E4hnlich wie die Raucher schlie=DFlich immer leicht miteinander ins
Gespr=E4ch.

  Ganz zum "Friend" wird das GPS-gest=FCtzte mobile Gadget im
gleichnamigen Projekt Dirk van Oosterboschs von der Amsterdamer
[12]Gerrit Tietveld Academy. Auch hier werden Daten anderer Anwender
gesammelt und "diskret untereinander ausgetauscht", bis das Ger=E4t zum
ultimativen Stadtf=FChrer und zum Schutzengel in allen Lebenslagen wird.
Doch die Verlagerung des gesamten sozialen Netzwerks und der
Orientierungskompetenz in die Maschine hat auch ihre Nachteile, wei=DF
Dirk: "Wenn das Ding kaputt geht, bist du total verloren."

  Jeder browst jeden

  Deutlich wurde angesichts der Designskizzen der Mobile Generation
jedenfalls, dass die Privatsph=E4re hinter den Konnektierungsw=FCnschen
zur=FCcksteht. Denn ohne pers=F6nliche Informationen funktioniert die
Freundsuche nicht. In zahlreiche Projekte wie etwa den Big Brotherhood
Browser mischt sich zudem etwas Teleorg(i)astisches, wie auch der sich
st=E4ndig auf der Suche nach dem Sinn der Pr=E4sentationen machende
Moderator feststellte. Die gekoppelte Kamerawelt des K=F6lner Studenten
erinnerte ihn jedenfalls an den "Gruppensex der 70er". Das Motto f=FCr
die Zukunft ist f=FCr Velthoven damit klar: "Jeder browst jeden."

  Unsere kleinen Begleiter werden damit verst=E4rkt zu cyborgschen
Fetischen f=FCr die Massen. Sie =FCbernehmen die Navigation durch den
Cyberspace und die "reale" Welt, werden zum Interface zu signifikanten
und sofort wieder aus dem Speicher gestrichenen Anderen. Wohin die
Reise geht, zeigten denn auch zahlreiche weitere, mit virtuellen
Charakteren, 3D-Welten, "Kontakt"-Linsen und kollaborativen
Fortbewegungsarten spielende Projekte wie [13]Second Skin,
[14]Stadtwirklichkeit oder [15]Next Generation Internet Browser.

  Mobil am Schluss

  Nach siebenst=FCndigem Schwelgen in mobilen Ger=E4tewelten hatten die
Zuschauer allerdings anscheinend genug von der ausgebreiteten
High-Tech-Welt: Der Publikumspreis ging am Abend an die Gruppe SP-OL
der Stuttgarter Merz-Akademie, die mit ihrem Low-Tech-Ansatz "unsere
st=E4ndig wachsende Begierde zum Schaffen vernetzter Welten"
persiflierten. Ihren "Instant Mobile Offline Networking Frame" (
[16]IMON) kann sich jeder Nutzer ausdrucken, vor die Augen halten und
dann die ganze Welt durch sein Browserfenster betrachten. Free Pics
downloaden? Einfach mit der Hand durch IMON greifen und die Poster von
der Wand abnehmen.

  Die hohe Jury, der unter anderem Oilia Lialina von der Merz-Akademie,
Claudius Lazzeroni von der Gesamthochschule Essen sowie Joachim Sauter
von der Hdk Berlin angeh=F6rten, entschied sich dagegen f=FCr die sehr
k=FCnstlerisch angehauchte, stark auf Architekturprinzipien setzende
Webprojektion [17]Datenamort.de. Die frohe Botschaft =FCbermittelte
Velthoven dem Preistr=E4ger themengerecht - =FCbers Handy. Der
Architekturstudent musste n=E4mlich gleichzeitig sein Diplom an der HdK
verteidigen und konnte daher nicht pers=F6nlich anwesend sein. Er reist
im n=E4chsten Jahr nach Amsterdam, wohin der Browserday wieder heimkehren
wird.

  Links

  [1] http://jg.x-i.net/
  [2] http://www.khm.de/
  [3] http://www.browserday.com/
  [4] http://www.usemedia.com/
  [5] http://www.volksbuehne-berlin.de/
  [6] http://www.nl-design.net/
  [7] http://www.bpb.de/
  [8] http://www.hdk-berlin.de/
  [9]
http://dingbats.digital.hdk-berlin.de/anne/projektEM05-00WS/projekt/
  [10] http://dingbats.digital.hdk-berlin.de/jakob/
  [11] http://www.d3-is.de/me2/
  [12] http://www.gerritrietveldacademie.nl/
  [13] http://www.secondskin.com/
  [14] http://wolf.formlos.com/stadt_wirklichkeit/
  [15] http://www.human-interface.de/lehre.html
  [16] http://www.imon.de/
  [17] http://www.datenamort.de/

  Artikel-URL: http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/sa/11286/1.html

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