[rohrpost] CODeDOC
Florian Cramer
cantsin@zedat.fu-berlin.de
Thu, 3 Oct 2002 13:06:38 +0200
Am Mittwoch, 02. Oktober 2002 um 11:43:55 Uhr (+0200) schrieb Tilman
Baumgaertel:
> Computercode wird gerne mit Musik-Partituren verglichen und das zu
> recht: so wie der Musiker beim Spielen eigentlich Befehle ausführt
> (Noten sind im Grunde nichts anderes), so gehorcht auch der Computer
> Befehlen, die der Programmierer ihm - in Form eines Programms -
> eingegeben hat.
...und diese Parallele (die ja vor allem für europäische Musik gilt),
ist ja nicht zufällig, weil nach Pythagoras und kanonischen
pythagoräischen Musiklehren wie denen von Boethius und Gaffori Musik
angewandte Mathematik ist und im mittelalterlich-frühneuzeitlichen
System der sieben freien Künste Nachbardisziplin von Arithmetik,
Geometrie und Astronomie. Und Computerprogrammierung wiederum ist
unstrittigerweise nichts als angewandte Mathematik. Musik und
Automatenprogrammierung haben sich schon sehr früh, z.B. im 17.
Jahrhundert bei Athanasius Kircher und Marin Mersenne berührt, und so
verwundert es nicht, daß von allen Künsten die Musikkomposition die
computerhandwerklich bzw. programmiertechnisch nach wie vor
avancierteste ist.
Allerdings sehe ich den wesentlichen Unterschied zwischen
Computerprogrammierung und musikalischer Aufführung darin, daß ein
Instrumentalmusiker natürlich kein Automat ist, sondern die Partitur
auch nicht-formal (durch individuelle Phrasierungen, Tempi, Wahl des
Instruments etc.) interpretiert. Es macht ja den großen Reiz selbst
einer hochformalisierten und komplexen Komposition wie Bachs
Goldberg-Variationen aus, daß sie völlig anders klingt, je nachdem, ob
man z.B. zu einer der beiden Glenn Gould-Aufnahmen oder der
Interpretation von Gustav Leonhardt greift. Eine strenge Parallele
zwischen Computerprogrammierung von Musik gibt es daher wirklich nur in
Computer- bzw. Automatenkompositionen.
> Und so wie es für den Nicht-Musiker meist wenig erhellend ist, Noten
> zu lesen, so nützt es demjenigen, der nicht programmieren kann,
> nichts, wenn er den Code eines Programms zu lesen bekommt.
Einspruch! Selbstverständlich liest ein Musikkritiker, -wissenschaftler
oder auch ein interessierter Laie auch die Partitur eines Musikstücks
(i.d.R. parallel zum Hören). Das lernt man doch selbst, ohne
Instrumentalausbildung, im gymnasialen Musikunterricht.
Ich stimme Dir natürlich zu, daß zum ästhetischen (und auch kompetenten)
Genuß der Goldberg-Variationen es nicht nötig ist, die Partitur zu
lesen. Es gibt aber gerade in der Musik-Avantgarde des 20. Jahrhunderts
Stücke, die ohne Kenntnis der Partitur bzw. der zugrundeliegenden
Spielanweisung nicht verständlich sind, z.B. John Cages 4'33", Saties
"Vexations" oder Earle Brownes Klaviermusik, die auf
abstrakt-kalligraphischen Partituren aufsetzt.
Man stelle sich vor, es gäbe - analog zu proprietärer Binärsoftware ohne
öffentlichen Quellcode - nur Schallplattenaufnahmen der Musik von Cage,
Browne oder selbst der Goldberg-Variationen ohne den Quellcode der
Partituren. Dies würde nicht Studium und Analyse der Werke unglaublich
erschweren, sondern auch es fast unmöglich machen, sie später
aufzuführen.
Genau dies aber droht mit digitaler Kunst zu passieren, die entweder auf
Software basiert oder selbst (algorithmische) Software ist. Insofern
finde ich den Ansatz des Whitney-Museums kuratorisch sinnvoll; würde ich
in einem Museum arbeiten, das digitale Kunst sammelt, so würde ich
darauf bestehen, das angekaufte Werke auch im Quellcode erworben werden.
Es ist z.B. unwahrscheinlich, daß I/O/Ds Webstalker in zehn oder zwanzig
Jahren noch auf aktuellen Computerbetriebssystemen laufen wird (zumal er
in Macromedia Director und nicht in einer offen standardisierten
Programmiersprache wie C++ geschrieben ist). Besäße man jedoch den
Lingo-Quellcode, könnte man für einige zehntausend Euro einen
Berufsprogrammierer anheuern, der den Webstalker-Code in eine andere
Programmiersprache und auf ein anderes Betriebssystem portiert; was
prinzipiell nichts anderes wäre, als z.B. die Transcodierung eines
gregorianischen Chorals in das moderne westliche Notensystem.
> werden. Das macht die Ausstellung vor allem für diejenigen unter uns
> zu einem Vergnügen, die es verstehen, Codebrocken wie die folgenden zu
> lesen: "difH = abs(startH - averageH) difV = abs(startV - averageV)
> pDiameter = sqrt((difH*difH) + (difV*difV))" Für Nicht-Geeks bietet
> die Enthüllung des Quellcode wenig erhellendes.
Ich stimme Dir völlig zu, daß das Konzept nach hinten losgeht, und auf
absurde Weise handwerkliches Geschick als Kunst ausgestellt und
hochgejazzt wird (zumal ich auch die meisten ausgestellten Arbeiten
schwach finde).
> Doch trotz einiger gelungener Arbeiten wie dieser hinterlässt CODeDOC
> einen faden Nachgeschmack: Denn die Ausstellung zeigt auch, wie aus
> dem Hype um "Software-Kunst", der seit zwei oder drei Jahren durch die
> Medienkunst-Szene geistert, schnell ein ödes Abfeiern technischer
> Virtuosität geworden ist, bei der Ideen und Inhalte zweitrangig sind.
> Was
Einspruch! Du würdest dasselbe doch niemals schreiben, wenn wir von
Netzkunst und amerikanischen Netzkunst-Ausstellungen sprechen würden,
obwohl es da dieselben oberflächlichen Symptome (Professionalisierung
bei inhaltlicher Verflachung) gibt. Tatsache ist doch, daß Netz- und
Softwarekunst in Europa immer noch spannender sind, weil sie nicht so
schnell institutionalisiert wurden, und zwar dank eines akademischen
Medienkunst-Mainstreams, der nach wie vor in den Kategorien "interaktive
3D-Installation", "Video" und "Hightech" denkt und Bill Viola für den da
Vinci der elektronischen Künste hält.
In den USA hat es meiner Meinung nach durch Rhizome und die größere
Akzeptanz seitens professioneller Kuratoren, die sich in
Netzkunst-Schauen im Whitney und SF-MOMA niedergeschlagen hat, leider
auch ein sehr schnelles Mainstreaming von Netz- und Softwarekünstlern
gegeben. Keiner von denen pinkelt anderen mehr öffentlich ans Bein, weil
es da mittlerweile um Hochschul-Laufbahnen geht.
> ihrer Kollegen hinterlassen, und da schreibt zum Beispiel Scott Scribe
> über die Arbeit von Golan Levin: "Dein Code ist sehr elegant." Und
> auch sonst wird von den Mitkünstlern "gutes Handwerk" und "sehr
> kompetentes Programmierung" hervorgehoben; außerdem sei die Arbeit
> "very content-driven".
Ja, es ist traurig, aber wahr.
> "Material" auseinander zu setzten. Aber die meisten Arbeiten, die bei
> "CODeDOC" zu sehen sind, haben wenig Interesse an den Auswirkungen von
> Code auf die wirkliche Welt jenseits des Computers, sondern freuen
> sich lieber still an den Bildern, die ihre kleinen Programme auf dem
> Monitor produzieren.
Man hätte ja auch ganz andere Arbeiten zeigen können: Politaktivistische
Software wie die Website-Umcodierungstools der Yesmen oder die
Antimafia-peer to peer software von EpidemiC, walser.php von textz.com,
die Arbeiten von mongrel/Graham Harwood, Untitled Game von jodi, um nur
ein paar Dinge zu nennen!
-F
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