[rohrpost] septemberausgabe dichtung-digital

Roberto Roberto.Simanowski@dichtung-digital.de
Wed, 09 Oct 2002 03:11:50 -0400


Willkommen zur September-Ausgabe (5/2002, 4.Jg/Nr. 25) des Newsletters
von http://www.dichtung-digital.com
Dieser Newsletter wurde unterstützt durch: http://www.kulturprozent.ch
Vielen Dank dem Sponsor und viel Vergnuegen den Lesern.

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BUCHTIP DES MONATS
INHALTSUEBERSICHT
EDITORIAL
INHALT
KOMMENDE AUSGABEN
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Die Zukunft von dichtung-digital hängt an den Spenden seiner Leser:
http://www.dichtung-digital.de/newsletter/aktuell/spende2.htm

BUCHTIP DES MONATS
Ein Resümee von dichtung-digital: Roberto Simanowski, Interfictions. Vom
Schreiben im Netz, Edition Suhrkamp 2002 (200S, 10E)
Inhalt/Vorwort/Einleitung/Bibliographie:
http://www.dichtung-digital.de/buch/index.htm

INHALTSUEBERSICHT
Schwatzhafter Schriftverkehr / Von der Liebe zum Medium /
Lei/iebesübungen / Leiden Werthers / liebe@netzliteratur / 160 Zeichen
Liebe / Beziehungskisten in Online-Spielen / kahuna MUD / Schneller
Baggern / Knistern zwischen den Zeilen / surf>sample>love /
Schwimmmeisterin / Scroll-Back 

EDITORIAL
Liebe Leser von dichtung-digital
herzlich Willkommen zur September-Ausgabe.

Der Cyberspace liegt zusammen mit dem Arbeitsplatz an der Spitze der
Orte, an denen romantische Beziehungen geknüpft werden, traditionelle
Paarungstempel wie die Disco oder die Universität sind weit
abgeschlagen. So konstatiert Raphael Rogenmoser unter dem Titel
"Schneller Baggern" den Zusammenhang Modemfieber und Liebesdiskurs, der
als Symposiumsthema die in dieser Ausgabe versammelten Beiträge
zusammenhält. Dass in diesen Zusammenhang auch die Wirtschaft drängt,
belegt das Beispiel von den Kleidungsstücken, die mit einer
individuellen Nummer versehen wurden, hinter der sich eine Email-Adresse
für die digitale Kontaktanbahnung verbarg: Das Baggern flieht den
kürzeren Weg. Dafür knistert es dann zwischen den Zeilen, wenn im
Cyberspace virtuelle Beziehungen angebahnt werden, die bisweilen sehr
realen Folgen annehmen, wie Michael Beißwengers Bericht über die
Inszenierungspotenziale und Stegreiftheatergesten der Chat-Kommunikation
deutlich macht. Dass Leser ganz gezielt in Beziehungskisten und Spieler
in Hochzeiten involviert werden, zeigt Fotis Jannidis an einer
interaktiven Bildgeschichte und einem Multiuser Online Rollenspiel. An
die Stelle der kontemplativen Rezeptionssituation bei Buch und Film
tritt die soziale Erfahrung des selbst erzälten Spiels - vielleicht die
Ästhetik der Zukunft.

Die theoretischen Vorüberlegungen zum analytischen Material liefert Uwe
Wirths Beitrag "Schwatzhafter Schriftverkehr", der mit Adornos
Feststellung einer "Erkrankung des Kontakts" beginnt und fragt, ob der
Online-Chat Symptom dieser Entfremdung ist, deren Heilung oder etwa eben
jene Krankheit, die er vorgibt zu heilen? Auch andere Beiträge
diskutieren die Umschrift der sozialen Bedingungen der
face-to-face-Kommunikation durch die medialen Rahmenbedingungen der
Interface-to-Interface-Kommunikation. Während Alexander Roesler an der
Grenze zur Zukunftstechnik EMS die Kommunikation der Liebe im SMS-Format
untersucht - das ähnlich wie der Chat Schriftlichkeit mit
Augenblicklichkeit verbindet -, unternimmt Ulrike Landfester einen
Rückblick auf die historischen Liebesbriefe, die bereits von der
Spannung zwischen authentischem und strategischem Ausdruck geprägt waren
mit raffinierten Unsagbarkeitsformeln wie: "Mein Herz ist voll, ach, ich
kann nicht schreiben". Peter Gendolla hält fest, dass Literatur ihr
Publikum immer auch vor der pathogenen Wirkung der Einbildungskraft
warnte, und erinnert daran, dass Werthern und Lotte noch das Stichwort
"Klopstock" reichte, um in einem "Strome von Empfindungen" zu versinken.
Mit Blick auf moderne Liebesgeschichten wie Peter Glasers "SEI ONLINE,
SEI MEIN" stellt sich dann die Frage, wie real der Partner im Cyberspace
sind, für den man den im realen Raum verlässt. Dass man da leicht an
eine Frau geraten kann, die nicht mehr als Software ist, hat Adi Blum in
seinem kleinen Turing-Test der Liebe herausgefunden.

Andere berichten aus der Praxis: Gisela Müller vom Internet-Projekt
schlampe.de, das unter einem täuschenden URL zu einer unerwarteten Optik
auf Körperteile verführt. Nika Bertram stellt das "kahunaMUD" vor, das
auf ihrem Roman basiert und jedem erlaubt, mit den Romanfiguren, der
Autorin oder anderen LeserInnen abzuhängen oder zu kuscheln. Susanne
Berkenheger erklärt die Zumutungen ihrer Hyperfiction "Die
Schwimmmeisterin" und vor allem die Parallelen zwischen einem Freibad
und einem Netz-Chat.

Beat Suter sucht nach der Thematisierung der Liebe in der digitalen
Literatur, ohne sehr fündig zu werden - es scheint, das Begehren weicht
auf die Technologie aus, Faszination auf den technischen Effekt. Roberto
Simanowski pointiert abschließend die behandelten Fragen der vergangenen
zwei Tage und fügt ein paar weitere hinzu.

Roberto Simanowski
Berlin, 07. September 2002

INHALT
Modemfieber. Der Liebesdiskurs in Mail-, SMS, Chat- und
MUD-Kommunikation
Im Anschluss an das Symposium Internet und Literatur (21.-24.1.1999) und
InterSzene (14.-16. 7. 2000) trafen sich zum dritten Mal Beobachter und
Praktiker der Netzkultur aus der Schweiz und Deutschland in L
Romainmôtier. Das Symposium Modemfieber stand im Zeichen der Beziehung
zwischen Liebesdiskurs und digitalen Medien. Die Teilnehmer stellten
Projekte mit, im und aus dem Internet vor, diskutierten Fragen der
Authentizität, Körperlichkeit und Funktionalität des Liebesdiskurses in
Buch, Internet und Handy. Der Septmeber-Newsletter präsentiert die
Beiträge und Diskussionen der vom Migros Kulturprozent getragenen
Veranstaltung.

***Schwatzhafter Schriftverkehr. Chatten in den Zeiten des Modemfiebers
[Deutsch]
Uwe Wirth untersucht die kommunikativen Konsequenzen, die aus dem
Umstand folgen, dass elektronische Medien über soziale und räumliche
Distanzen hinweg fremde Menschen "in Kontakt" bringen. Das "written to
the moment", durch den etwa die Briefromanpoetik des 18. Jahrhunderts
ausgezeichnet war, wird dabei zur kommunikativen Erwartung des
"transmitting to the moment". Die Erwartung des Eintreffens neuer
Nachrichten löst ein "Modemfieber" aus.
http://www.dichtung-digital.com/2002/modemfieber/wirth.htm
***Von der Liebe zum Medium [Deutsch]
Ulrike Landfester dokumentiert im Rückblick auf Briefroman und
historischen Liebesbrief die Konsens-Halluzination und die Spannung
zwischen authentischem und strategischem Ausdruck. Der Cyberspace
verändert die Parameter der medial vermittelten Liebeskommunikation,
indem er ihm neue Inszenierungstechniken - wie das gender-switching -
erschließt.
http://www.dichtung-digital.com/2002/modemfieber/landfester.htm
***LEi/iEBESÜBUNGEN - ein SMS/Internet-Projekt [Deutsch]
Für das Internet-Projekt www.schlampe.de sollte man per SMS
Beschreibungen von Körperteilen einsenden, aus denen literarische
Body-Tracks entstanden, Geschichten als Leibes- und Liebesübungen für
den kollektiven Körper. Am Ende des dreistufigen transmedialen Projekts
wurden die Texte in einer Live-Performance wieder dem öffentlichen
Stadtraum zugeführt. Gisela Müller liefert das Gespräch zum Projekt.
http://www.dichtung-digital.com/2002/modemfieber/mueller.htm
***Neueste älteste Leiden Werthers [Deutsch]
Spätestens mit Cervantes' Don Quijote konstituiert Literatur eine
interne Selbstnegation, mit der sie ihr Publikum erst eigentlich an sich
fesselt: Immer wieder warnt sie vor der pathogenen Wirkung der Lektüre,
fordert dazu auf, aus den Texten heraus und ins wahre Leben zu treten.
Das Wertherfieber mit seinen Selbstmorden sind Belege für das
Missverstehen des Textes und das Überhören solcher Warnung. Ob neuere
rechnergestützte und vernetzte Literatur diese Paradoxie erhält,
diskutiert Peter Gendolla im Vergleich einiger ihrer Liebesgespräche mit
jenen des älteren Mediums.
http://www.dichtung-digital.com/2002/modemfieber/gendolla.htm
***liebe@netzliteratur? [Deutsch]
Die Ausgangsthese in Beat Suters "kleiner Werküberschau zum Thema 'Liebe
in der Netzliteratur'" lautet: Digitale Literatur, die sich mit der
Liebe auseinandersetzt ist so selten wie gute digitale Literatur an
sich. Keiner der sechs Preisträger des Wettbewerbs literatur.digital
(2001) beschäftigt sich mit der Liebe. Unter den 20 nominierten
Beiträgen finden sich gerade einmal fünf, die Leibesbeziehungen zum
dominierenden Thema machen. Erübrigt die Venetzung der Literatur, über
die Vernetzung der Menschen zu schreiben?
http://www.dichtung-digital.com/2002/modemfieber/suter.htm
***160 Zeichen Liebe [Deutsch]
Wie kommuniziert man ein Gefühls im SMS-Format? Fünf Kennzeichen sind
festzuhalten: Knappheit, Schriftlichkeit, Augenblicklichkeit,
Privatheit, (fehlende) Objekthaftigkeit. In Praxis wie Theorie ergeben
sich daraus Einschränkungen und Erweiterungen in der Ausdrucks- und
Darstellungsmöglichkeit von Liebe, denen Alexander Roesler in seinem
Beitrag nachgeht. 
http://www.dichtung-digital.com/2002/modemfieber/roesler.htm
***Beziehungskisten und Hochzeiten in Online-Spielen [Deutsch]
Die interaktive, aber überraschend konventionell erzählte Bildgeschichte
Caroline online involviert den Leser in eine klassische
Emanzipationsgeschichte, im Massive Multiuser Online Roleplaying Game
Everquest zeigt die Hochzeit zweier Avatare fragile und ironische
Entwürfe von Liebesgeschichten und -identitäten selbst dort, wo sie
eigentlich nicht vorgesehen sind. Fotis Jannidis diskutiert anhand
zweier Beispiele die Formen des Liebesdiskurses im Internet.
http://www.dichtung-digital.com/2002/modemfieber/jannidis1.htm
***@create "magic glitter" - Liebesspiele im kahunaMUD  [Deutsch]
Nika Bertram stellt das kahunaMUD vor, eine codierte Bühne, basierend
auf ihrem Roman "Der Kahuna Modus", in dem man mit den Romanfiguren, der
Autorin oder anderen LeserInnen abhängen kann oder flirten oder sich
betrinken. Hier lässt sich das Turingsche "Imitationsspiel", das "Making
Up" eines Gegenübers direkt erleben, immer unter dem Motto: "wenn man
wirklich liebt, ist es egal, ob der andere ein Mann oder eine Frau oder
ein Dreieck ist" (Karen Duve).
http://www.dichtung-digital.com/2002/modemfieber/bertram.htm
***Schneller Baggern [Deutsch]
Das WWW ist nebst seinem Zweck als Informationsmedium vor allem Medium
des Baggerns: "Man baggert vor allem um meine Aufmerksamkeit, mein Geld,
mich als Kunden, meine politische Partizipation sowie Mobilisierung,
mein Mitgefühl und um mein Tanzbein. Doch wenn es dann wirklich konkret
wird, bin ich trotzdem nur einer von tausend anderen Undisclosed
Recipients! ..." Raphael Rogenmoser zur digitalen Partnersuche.
http://www.dichtung-digital.com/2002/modemfieber/rogenmoser.htm
***Das Knistern zwischen den Zeilen [Deutsch]
Chat-Plattformen sind reizvolle Anbahnungsmedien nicht nur für
"virtuelle" Bekanntschaften. Michael Beißwengers Beitrag skizziert ihre
Inszenierungspotenziale (Pseudonymisierung, Spiel mit ganz- oder
teilfiktionalen dramatis personae) sowie die sprachliche Aushandlung
fiktionaler Spielwelten, die ans Stegreiftheater gemahnen.
http://www.dichtung-digital.com/2002/modemfieber/beisswenger.htm
***surf > sample > love [Deutsch]
Kennen Sie Alice? Annette? Cara? Möchten Sie Brian, Barry oder
Jabberwacky kennenlernen? Eins haben sie alle gemein - sie sind Bots,
Software, die sich durch Datenhaufen wie das WWW bewegt. Sie können
schreiben, flirten, kommunizieren. Aber können sie lieben?  Adi Blum
geht der Frage in einem kleinen Turing-Test der Liebe nach.
http://www.dichtung-digital.com/2002/modemfieber/blum.htm
***Die Schwimmmeisterin. Hyperperformance [Deutsch]
Die Idee für ihre Hyperfiction Die Schwimmmeisterin kam Susanne
Berkenheger im Dante-Bad: "Ich sah diesen Mann, den Schwimmmeister, in
seinem Glaskasten. Vor sich hatte er blaue Kontroll-Bildschirme, auf
denen Körper unter Wasser vorbeipaddelten. Daraus entstand die Optik:
Aus der Form geratene Kacheln, die unter Wasser vor sich hinwabern.
Letztendlich gibt es viele Parallelen zwischen einem Freibad und einem
Chat im Netz: Viele Menschen versammeln sich an einem Ort, manchmal
kommt man sich etwas zu nah und letztlich geht es immer ums anbaggern."
http://www.dichtung-digital.com/2002/modemfieber/berkenheger.htm
***Scroll-Back  [Deutsch]
Roberto Simanowski versucht die behandelten Aspekte des Symposiums zu
pointieren und weitere hinzuzufügen: Dass im Chat-Room der Text so
unbekleidet dasteht wie seine Sender und Empfänger in der angenommenen
virtuellen Situation, dass das Handy den Melusine-Pakt moderner
Partnerschaften unterhöhlt und auch der Chat letzlich die
zugrundeliegende Figuren-Inszenierung nicht erträgt und dass in der
Bewegung von der ästhetischen Erfahrung der kontemplativen
Rezeptionssituation bei Buch und Film zur sozialen Erfahrung des selbst
erzälten Spiels die "Kulturindustrie" listig überlebt.
http://www.dichtung-digital.com/2002/modemfieber/simanowski.htm

KOMMENDE AUSGABEN
In November-Ausgabe 6/2002 (Nr. 26):
Gastedition von Karin Wenz und Uwe Wirth mit Beiträgen des
Semiotik-Kongresses in Kassel, Juli 2002, Sektion 'Zeichenkörper im
Netz':
Rejani Catone und Maria Teresa Santoro: Künstliches Leben: Frankensteins
Nachkommen
Evelyn Dölling: Netzgeflüster: Rhetorik des Internet
Randi Gunzenhäuser: Schnittstellen/Bruchstellen: Körper und Technologien
bei Rollenspielen im Netz
Bernd Hartmann: Der Kahuna-Modus
Mela Kocher: Autonome Avatare – Hybris virtueller Zeichen-Körper?
Angela Krewani: Virtual Worlds and Material Traces: The Bodies of
Virtual Actors
Erika Linz: Die informationstheoretische Entsinnlichung des Zeichens
Judith Mathez: Von Mensch zu Mensch – Virtuelle Körper realer Personen
im Netz
Sonja Neef: Embodiment, Disembodiment, Dys-embodiment: Leonardo on
Screen
Karin Wenz: Der Avatar als Interface und als Schnittstelle
Uwe Wirth: Der Link als performative Verkörperung

In Januar-Ausgabe 1/2003 (Nr. 27):
Gastedition von Loss Pequeño Glazier zum Thema "Language & Encoding" mit
Beiträgen u.a. von:
Lev Manovich: Culture after Software: a Program for Post-media
Aesthetics
Loss Pequeño Glazier: Poetics of Programming
John Cayley: Reprogramming Performances of Writing
Alex Galloway: Conflicting Organizational Designs
Lisa Jevbratt: Talk Back
Michael Mateas: Doubled System
Jonathan Minton: Word For Word: Encoding, Networking, and Intention
Phoebe Sengers: The 'Embedded World' of AI

Mai-Ausgabe 2/2003 (Nr. 29):
Gastedition von Marku Eskelinen: Scandinavian Special

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contributions on digital aesthetics / ISSN 1617-6901
Herausgeberr :Dr. Roberto Simanowski