[rohrpost] fc und Fehl lektüren

Florian Cramer cantsin@zedat.fu-berlin.de
Mon, 16 Sep 2002 18:54:09 +0200


Hallo,

am Freitag, 13. September 2002 um 02:10:53 Uhr (+0200) schrieb
frichter00@gmx.de:
 
> kann man denn eine theorie aus der vergangenheit (rsp. die
> philosophie, die dahinter steht) für spätere interpretationen (oder
> Fehllektüren) verantwortlich machen ?? 

Aus meiner Sicht: natürlich. Eine Kritik, die die Rezeption einer
Theorie außer acht ließe, wäre ja nicht nur weltfremd, sondern auch
werkimmanent. Ich sehe übrigens hinsichtlich solcher Kriterien keinen
wesentlichen Unterschied zwischen einer Theoriekritik einerseits und
einer Kunst- oder Literaturkritik andererseits.

 
> [Das erinnert mich im ton an bisschen an adornos "Jargon der
> Eigentlichkeit".]
> 
> eine theorie oder ein denksystem ohne schwachpunkte sind für mich nicht
> vorstellbar (ausser es handelt sich um theologie oder den absoluten weltgeist).

Nein, es ging mir ja nicht darum, eine Theorie ohne Schwachpunkte - an
die wohl nur Ajatollahs der analytischen Philosophie glauben - zu
fordern, sondern Theorien (oder überhaupt: Texte, Kunstwerke) auch von
ihren Fehllektüren her zu deuten. Die Frage ist nicht, ob eine Theorie
keine, sondern welche Fehllektüren sie hervorbringt. Fehllektüren können
ja auch gut, interessant und produktiv sein und gerade dadurch die
Qualität ihres Bezugstexts beweisen. (Man denke z.B. an die geradezu
grotesken, aber fantastischen Fehllektüren des Literaturtheoretikers
Michael Bachtin, den man dreißig Jahre lang fälschlich für einen
Strukturalisten hielt - so z.B. Julia Kristeva in ihrer
Intertextualitätstheorie.)


> bleibt denn nicht immer von einem historischen diskurs auszugehen ?
> auch und vor allem bei dem "einzigen brillanten
> globalisierungskritiker" marx, dessen werke in sich ja auch
> widersprüchlich sind und auf andere philosophen, denksysteme
> verweisen. als "vorgeblich materialistische Umschreibung
> idealistischer politischer Theologie" würde ich sie keinesfalls
> reduzieren wollen. 

Nein, aber das ist - aus meiner Sicht - sein Schwachpunkt, aus einer
materialistischen Kritik eine immaterialistische Utopie abzuleiten, die
alter chiliastischer Plunder in atheistischer Verkleidung ist.

> sehe ich nicht, dass "marxistisch-leninistische und stalinistische
> Fehlaneignungen" sie "dekonstruiert" hätten. da ist wohl eher von dem
> gegenteil einer dekonstruktion auszugehen. 

Wenn man Dekonstruktion (mit Derrida) als Selbstdurchkreuzung einer
geschlossenen oder vordergründigen Textbedeutung definiert und die
Tätigkeit einer dekonstruktiven Kritik als ein Aufzeigen dieser internen
Brüche, so zeigen die leninistischen und stalinistischen Lektüren und
Aneignungen von Marx tatsächlich die Brüche seiner Theorie
auf. 

-F
 

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