[rohrpost] Bitte keinen "Nomadologie-Kongress"!!!
sebastian at rolux.org
sebastian at rolux.org
Don Sep 18 18:23:30 CEST 2003
> Sind wir alle dabei Nomaden zu werden ?
Nein!!!
> Nomadologie: Hier werden Reflexionen des Begriffs des Nomadischen bei Vilem
> Flusser, Gilles Deleuze und Felix Guattari in Bezug zur aktuellen Diskussion
> um Migration, Globalisierung(-skritik), Reisen und Räume gesetzt.
Wenn Leute, statt Begriffe zu benutzen, Reflexionen von Begriffen in Bezug
zu Diskussionen setzen, wird mir immer schon mulmig. Mal abgesehen davon, dass
ihr nach dem Begriff "des Nomadischen" bei Deleuze/Guattari genauso lange suchen
könnt wie nach dem "des Rhizomatischen" oder jeder anderen Wesensmässigkeit,
nämlich bis ihr schwarz werdet.
> Transnationale (T)Räume: Politische Geographien. Was passiert mit Grenzen,
> wenn man sich ihnen nähert? Von der Freiheit des Migranten, die auf der
> Strecke bleibt. Vertreibung als Chance ? Wer marginalisiert hier wen und
> warum? Some positive aspects of negative thinking.
Wer, wen und warum? Keine Ahnung. Was passiert mit Gebirgen, wenn man sich
ihnen nähert? Probiert es doch einfach mal aus. Das Herankarren von Migranten
als Staffage für irgendwelche selbstgezimmerten "(T)Räume" als Politische
Geographie auszugeben, ist ja schon dreist genug, aber: "Negatives Denken"? Seid
ihr euch sicher?
> Nomadisches Leben: Wer war eigentlich Dschingis Khan und was hat er mit der
> Reichautobahn zu tun? Was machen die Nomaden der Sahara, wenn sie nicht mit
> Joschka Fischer verhandeln ? Und was treibt britische Soundsystems, globale
> PolitaktivistInnen und andere sesshafte Bürgerkinder “on the road” ?
1) Nichts, 2) deren Sache, und 3) die völlig irrsinnige Annahme, mit "Unter dem
Pflaster liegt der Strand" (was eine der wichtigsten Erkenntnisse des Neueren
Historischen Materialismus der 60er war und seitdem zum kleinsten gemeinsamen
Boden ruraler Spiesserbewegungen zusammengeschnurrt ist) seien ausgerechnet
Landstrassen gemeint gewesen.
> Nomadische Urbanität: Menschen, die in Wagenburgen leben, ArchitektInnen, die
> das super finden, reclaim the street und die Nutzung des Zwischenraums im
> Lattenzaun, eben poetische Geographie und meine kleine wireless local area
> network Welt.
Eure kleine wireless local area network Wagenburg mit Zwischenraum im Lattenzaun
ist eine Schrebergartenhölle, ein Dorfidyll, ein Linuxbauernhof. Was ihr da
super findet, das ist die pure Regression: Anti-Urbanität, Anti-Moderne,
Anti-Aufklärung. Linke, falls ihr das meint, wären Menschen, die, wenn irgend
möglich, in NEUBAUTEN wohnen.
> Praxis Nomadologie: Strassenkunst und Feuersbrunst, eine Karawane nach
> Senegal, Dieselmotoren, die an Frittenbuden tanken. Hier lernt und lehrt der
> neue Nomade die Bekämpfung von Geldmangel und Langeweile.
Was ihr eigentlich schreiben wolltet, war: Strassentheater und Kunstgewerbe,
eine Karawane nach Mitte, Wunschmaschinen, die Ökodiesel tanken. Hier lehrt und
labert der Nomade alte Frittenmarmelade. Ob das für die Bekämpfung von
Geldmangel von Vorteil sein wird, kann ich nicht sagen, aber... euer Institut,
mit Verlaub, ist eine Langeweilebude.
> Aspekte der Bewegungslehre
Und lasst doch bitte wenigstens die Bilwets da raus...
Danke, Sebastian
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Hartnäckiger als im akademischen Milieu hat sich die Rede vom deleuzianischen
Internet an seinen Rändern gehalten, in den sogenannten illegalen
Wissenschaften, insbesondere der autonomen Medien- und "Pop"-Theorie, von wo aus
die entsprechenden Lesarten und Begrifflichkeiten mittlerweile überall dort
wieder massiv in die Institutionen zurückströmen, wo nur noch die spekulative
Verzinsung vermeintlich subkulturellen Kapitals betrieben wird. Die zentrale
Figur, auf die die ausserakademischen Netzforscher seit jeher ihre Hoffnungen
projizieren, ist die des digitalen Nomaden, der ihrer Vorstellung nach ziel-,
richtungs- und widerstandslos durch die elektronischen Netze wandert und von
jeder physischen Territorialiät befreit per Telefon, Kabel und Satellit von
Kontinent zu Kontinent driftet. Doch während der Hypertext-Hype immerhin noch
Grundkenntnisse von HTML zu popularisieren half und die Immanenz-Euphorie
zumindest indirekt die Bilwetsche Figur des Datendandys hervorgebracht hat (der
wenigstens noch so sehr Punk - also Materialist - war, um zu wissen, dass es
allem anti-identitären Eigentlichkeitsgeschwätz zum Trotz die Techniken sind,
die die Delirien bestimmen), bearbeitete die rhizomatisch-romantische Rede vom
Netz-Nomaden als neuem Subjekt der Geschichte ihr Feld so gründlich, dass dort
auf absehbare Zeit kein Gras mehr wachsen wird.
Die theoretischen Verheerungen, die die Verschiebung des Deleuzeschen
Nomadismus-Konzepts ins Digitale hinterlassen hat, kommen insbesondere in der
landläufigen Überzeugung zum Ausdruck, der Nomade sei von einem wie auch immer
gearteten Wunsch nach Bewegung getrieben, obwohl doch selbst die Tausend
Plateaus mehrfach explizit darauf hinweisen, dass es sich beim Nomaden gerade um
jene Gestalt handelt, die bis zuletzt versuchen wird, ihren Ort zu halten, die
sich nur im äussersten Notfall von der Stelle bewegt, der angesichts der
drohenden Segmentierungen ihres lokalen Territoriums jeder Gedanke an das
Gleiten auf globalen Oberflächen fremd ist und deren Konzept von Raum das genaue
Gegenteil dessen darstellt, was wir gemeinhin als "Mobilität" bezeichnen. Und
doch beharren seine Fans auf dem obszönen Irrglauben, ausgerechnet in den
Surfern der digitalen Netze und elektronischen Wellen fände der Nomade seine
aktuelle Entsprechung - obwohl letzterer doch gerade deshalb Wüsten und Steppen
bewohnt, weil man dort, wenn überhaupt, am langsamsten vorankommt, und die
Eigenheiten des Geländes ihn zudem davor bewahren, von den Protagonisten der
neuen (vom späten Deleuze zurecht als genuin kontrollgesellschaftlich gedissten)
Sportarten - Springern, Gleitern und eben Surfern - heimgesucht zu werden. Ein
Blick in die Geschichte zeigt, dass der Nomade zwar immer wieder auf
unvorhergesehene Weise von mächtigen, zum Teil weit überlegenen Feinden in die
Flucht geschlagen, nie zuvor jedoch so schlamlos durch die Gegend gezerrt wurde
wie in den Deleuzianischen Neunzigern des Internets, deren Ende noch immer nicht
in Sicht ist, so dass man den Nomaden weiterhin vor allem vor seinen Freunden in
Schutz nehmen muss.
aus: "Deleuze.net not found"
http://textz.com/index.php3?text=not+found
siehe auch: "Die Nomaden des Kapitals"
http://amsterdam.nettime.org/Lists-Archives/rohrpost-0201/msg00107.html