[rohrpost] Krieg der Texter Interview

Matze Schmidt matze.schmidt at n0name.de
Mon Jul 5 14:19:59 CEST 2004


Interview

Krieg der Texter

jW befragte Matze Schmidt, TextJockey aus Berlin, dessen Lexikonartikel
zum Begriff "Différance" auf der deutschen Wikipedia, der
Online-Enzyklopädie unter Copyrightausschluss, einen so genannten
Edit-War auslöste.

F: Was ist ein Edit-War und wie kam zu dem Streit um die korrekte
Version des Artikels?

Ich könnte jetzt zwei Stories erzählen, je nach meiner Strategie für
eine Selbststilisierung. Die eine lautet: Ich geriet beim Suchen nach
irgendeiner Webseite zufällig auf die Seiten von de.wikipedia.org, der
deutschen Sektion der freien Enzyklopädie im World Wide Web, und gab
dort mehr aus Spaß als aus Berechnung den Suchbegriff "différance" ein.
Darauf wurde kaum etwas angezeigt außer ein Hyperlink zu Jacques
Derrida. Da das zu wenig und auch noch verfälschend war, beschloß ich,
selbst einen Artikel zu schreiben. Das ist die genialische Version. Die
heroische Version lautet: Ich habe den Kampf von langer Hand
vorbereitet, habe die gesellschaftliche Funktion und den inneren Diskurs
von Wikipedia recherchiert. Das alles, um diesen Edit-War zu
provozieren, also eine Art Krieg zwischen Autoren um die Bearbeitung des
Inhalts eben dieses speziellen Lexikoneintrags.

F: Um was geht es Dir dabei, ist das nur ein Privatkrieg auf
halböffentlichem Terrain?

Ich lasse mich darauf ein, weil nur eine Auseinandersetzung zu
Veränderung führt. Zwar gibt es sehr volle Seiten auf Wikipedia, die das
Programm eines Lexikonprojekts dieser Größenordnung bestimmen, und es
gibt offenbar auch viel Kontakt unter den Beteiligten, aber es gibt
wenig selbstreflexive und selbstkritische Artikel. Der Einwand, der
während der Diskussion um meine Version kam, war dann auch genau der
bürgerliche: Selbstreflexion ist nicht die Aufgabe einer Enzyklopädie
als Enzyklopädie, das müsse im Hintergrund laufen. Das kann man nun
leicht als anti-modernes Diktum entlarven. Dagegen zuhalten wäre aber
die reelle Prozesshaftigkeit von Text auf der Oberfläche, dem Frontend
selbst, die aber weggeblendet werden soll. Ein Wechselbezug Redaktion
und Diskurs, mit dem man arbeiten kann.
Damit zusammen hängt, daß Wikipedias Anspruch, eine freie Enzyklopädie
zu sein, nicht eingelöst werden kann mit der Vorstellung des berühmten
aufklärerischen Phantasmas eines "neutralen Standpunkts", von dem aus
die Lexikonbeiträge zu schreiben seien, so wie es sich Wikipedia selbst
vorschreibt. Gerade die Technik des Wiki bietet umfassende
Möglichkeiten, dieses Doppel, diese Fixierung auf Fixierung zu
vermeiden, indem nämlich buchstäblich jede und jeder die Artikel ändern
kann.

F: Hegt das Projekt der angeblich für alle offenen internationalen
Enzyklopädie also Einschluß- und Ausschluß-Strukturen?

Ja, ganz bestimmt. Aber quasi auf materialsitischer Ebene! Ich werfe dem
Projekt frontal eine bestimmte dialektische Form der Ästhetik und der
Ökonomie vor. Zum einen sage ich: Ihr schreibt nicht, ihr fixiert! Damit
ist gemeint, daß Wikipedia das Konzept der kapitalistischen
Lexikonprojekte auf unterster Ebene kopiert. Nicht geklaute
urheberrechtlich geschützte Werke sind eine Gefahr, sondern die
unhinterfragte Ideologie des photografischen Konzepts von abschließender
Klärung, etwa um dem Chaos zu entgehen. Und zum anderen sage ich: Ihr
haltet die GPL, die General Public Licence mit der Idee des Copyleft,
und die Public Domain für Inseln im Netz, für Robinsonaden, die
eroberbar und claimbar seien. Und dann wollt ihr sie verteidigen. Dabei
verwechselt ihr die Public Domain als Gemeineigentum mit dem Eigentum,
das kein Eigen sein kann, weil es als Text ein ständiger Prozess ist -
wenn man so will eine permanente Revolution. Das ist keine modische oder
sophistische Diskussion mehr. Der Komplex aus Eigentum und
Privateigentum und Umwälzung steht hier zur Debatte.

* Mehr dazu unter: http://www.n0name.de und http://de.wikipedia.org