[rohrpost] Offener Brief an Dirk Baecker (Microsoft Studie betreffend)

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Die Jul 20 15:32:31 CEST 2004


Am Dienstag, 20. Juli 2004 um 09:50:35 Uhr (+0200) schrieb Till von Heiseler:

> zunächst einmal ist dein Vorschlag, was Software angeht, für mich
> nachvollziehbar. Aber ich bin in dieser Hinsicht wirklich kein
> Fachmann. Allerdings ging es mir in meinem Brief nicht allein um die
> Zukunft der Kontribution von Software 

Darum ging es mir auch nicht, sondern nur darum, inwiefern die
an Dirk Baeckers Lehrstuhl verfaßte Studie inhaltlich angreifbar ist
bzw. Widerspruch herausfordert. Nur auf dieser Grundlage wäre (IMHO)
ein "offener Brief" gerechtfertigt. Die Tatsache, daß Baecker und seine
Mitarbeiter im Auftrag von Microsoft eine Studie verfaßt haben, finde
ich per se unproblematisch. Die Frage ist nur, ob dem Auftraggeber nach
dem Mund geredet wird, bzw. - um genauer zu differenzieren - ob selbst
dann, wenn Microsofts und Baeckers Positionen zu Software-Kopien und
-Lizenzen grundsätzlich übereinstimmen, die Studie dies in den Thesen
stringent, in der Methode kritisch und in ihrem ethischen Fazit ohne
blinde Flecken darlegt. Und da habe ich in der Tat Zweifel, die ich zu
begründen versucht hatte.

> Dirk Baecker halte ich für einen recht guten Wissenschaftler (obwohl
> ihm vielleicht ein wenig die „Kühnheit des Denkens“ fehlt) Das
> traurige aber ist, dass alle seine Theorien, da, wo sie nicht auf
> Tiefsinnigkeit und „Paradoxie der Form“ hinauslaufen, als
> betriebswirtschaftliche Adaptionen von Luhmann’scher Systemtheorie
> gelesen werden können. Das halte ich gesellschaftlich für äußerst
> ungünstig, weil auf diese Weise der betriebwirtschaftliche Blick auf
> eine neue Ebene gehoben wird. 

Wenn dies Deine Kritik an Baecker ist, so wäre sie Material für eine
kritische Diskussion, sei es im persönlichen Diskurs auf einer Tagung,
oder in der klassischen Schriftform einer Rezension. Sie eignet sich
aber nicht als Grundlage eines offenen Briefs, der ja ein Skandalon
öffentlich benennen soll. 

> Vielleicht überschätze ich die Systemtheorie, aber immerhin wäre es
> möglich, dass aus ihr eine Praxis von großer Kraft entstehen könnte.
> Deshalb wäre es u.U. sinnvoll, die Systemtheorie für
> medienaktivistische Projekte nutzbar zu machen. 

Dies kannst Du ja tun und auch auf dieser Liste voranbringen, doch
scheint dies, s.o., ein anderes Anliegen zu sein als ein offener Brief an
Dirk Baecker. Wenn es Dir darum geht, ein medienaktivistische Potential
der (Luhmannschen, wohlgemerkt) Systemtheorie aufzuzeigen und zu nutzen,
dessen Schlußfolgerungen denen der Microsoft-Studie entgegengesetzt wären,
dann erbringst Du den Beweis wahrscheinlich am besten über Deine eigene
künstlerisch-aktivistische Arbeit.


> Aus diesem Grund versuche ich seit einiger Zeit einen kommunikativen
> Zusammenhang von akademischen Medien- und
> Gesellschaftswissenschaftlern und politischen Denkern und
> Medienaktivisten herzustellen. 

Das versucht u.a. diese Liste seit vier Jahren, und andere wie "Nettime" 
versuchen es seit Mitte der 90er Jahre.

> In diesem kommunikativen Zusammenhang könnte multiauktorial und
> intermedial eine Medien- und Gesellschaftstheorie entstehen, die eben
> auch behandeln könnte, wie Medien in einer demokratischen und freien
> Gesellschaft genutzt werden könnten. Hinter dieser Konzeption steht,
> dass die Komplexität heutiger Weltgesellschaft, kindlich gesprochen,
> ein Viel-Hirn-Problem (Heinz von Foerster) darstellt und das auf
> nationale, regionale und betriebswirtschaftliche Perspektiven
> zugunsten einer globalen Perspektive verzichtet werden sollte. 

Auch daran arbeiten die o.g. Netzkulturen seit langer Zeit, und
Veranstaltungen wie z.B. die Wizards of OS versuchen, genau diese
Perspektiven zu finden und in Formen wie  Freie Software und Creative
Commons-Lizenzen praktische Handlungsmodelle aufzuzeigen.

> Diese Frage der Mediennutzung schließt nun die Frage der Software und
> ihrer Kontribution mit ein. Umgekehrt kann aber die Frage der Software
> und ihrer Kontribution nur in einem weltgesellschaftlichen Rahmen
> gesehen werden und müsste womöglich im Zusammenhang mit Veränderungen
> der Produktion und den sozialen Auswirkungen dieser
> Produktionsveränderung gesehen werden. 

Wie gesagt, dieser Diskurs läuft bereits seit einigen Jahren, auch wenn
dies nicht heißt, daß er auch nur ansatzweise am Ende seiner Weisheit
angelagt wäre. Dazu gehoren u.a.: die Positionen der Freien
Software-Bewegung (in Gesalt der Free Software Foundation, Richard M.
Stallman, Eben Moglen und Lawrence Lessig), die Open Source-Essays von
Eric S. Raymond, die Publikationen des indischen Sarai-Projekts, die
Essays und künstlerischen Arbeiten von Matthew Fuller und Graham
Harwood, die Mailingliste "softwareandculture", die WOS-Konferenzen und
auch das Oekonux-Projekt.

> Mein Ansatz betrifft also nicht vor allem die Sachebene, sondern die
> Struktur. Das heißt natürlich nicht, dass die Sachebene unwichtig sei.
> In diesem Zusammenhang würde ich mich fragen, ob nicht die Studie
> Anlass eines gemeinsamen offenen Briefes werden könnte, dessen Aufgabe
> darin bestünde, gewisse Forderungen oder Gedanken der Freien Software
> Bewegung in die Öffentlichkeit zu tragen. 

Diese Öffentlichkeitsarbeit wird doch schon längst gemacht, z.B. in der
europaweiten Kampagne gegen Softwarepatente, die ihren letzten Höhepunkt
in der Demonstration während des LinuxTags hatte. Die Forderungen der
Freien Software-Bewegung kennt z.B. jeder "Spiegel Online"- und
Heise-Ticker-Leser, in Gestalt der FSF Europe und der FFII gibt es sogar
entsprechende Lobbyorganisationen.

> 2) Meine zweite Idee war - und es kann sein, dass diese schwachsinnig
> ist - unter Umständen in einen Dialog mit Microsoft zu treten. 

Auch das ist schon längst geschehen. U.a. wurde Eric S. Raymond zu
einem Vortrag auf dem Microsoft-Firmencampus eingeladen, Microsoft war
mit einem Stand auf der LinuxExpo vertreten.

> Wie gesagt, kann das auch die vollkommen falsche Idee sein: Gedacht
> hatte ich daran, Microsoft ein Wochenende vorzuschlagen, an dem
> Vertreter der Freien Software Bewegung und Vertreter vom Microsoft
> Germany zusammenkommen. 

Welchen Sinn hat das? Wozu sollte Microsoft Deiner Meinung nach bewegt
werden?

Das hat wenig Sinn, da Microsoft Deutschland nur eine
Statthalter-Filiale von Redmond ist, wo dieser Diskurs geführt werden
müßte. Im übrigen ist es falsch, den Gegensatz von Freier und
proprietärer Software auf einen Gegensatz Microsoft-Linux zu reduzieren.

> Es könnte nämlich sein, dass weitgehend
> gewinnneutrale Überlegungen gesellschaftlich einen großen Unterschied
> machen. 

[Diesen Satz verstehe ich nicht.]

> Eine Alternative wäre dann natürlich zu sagen: „Nein, das hat keinen
> Sinn. Es geht allein um Freie Software und ihre Verbreitung und
> Durchsetzung.“ – nur dann müsste man sich auf den Alex stellen und
> für 1 Euro Open Office incl. einem entsprechenden Flugblatt verteilen
> und beginnen über Marketing für Open-Sourcesoftware nachzudenken. 

Solche Aktionen (z.B. Verteilung von Knoppix-CDs,
Linux-Installationsparties) gab es schon längst, und sie wurde als
unproduktiv verworfen, weil daß an AOL-Marketing erinnert.

> Wie etwa würde eine Open-Source-Marketingstrategie für
> Open-Sourcesoftware aussehen?

Zunächst einmal braucht freie Software, im Gegensatz zu proprietärer,
kein Marketing, weil bei ihr nicht um Marktanteile geht.  Sie wird von
Leuten gemacht, die Software so gestalten wollen, wie sie (und nicht
Marketing-Abteilungen) sie gerne hätten, und von Leuten benutzt, die sie
gerne benutzen. 
 
Um die Marketing-Seite kümmern sich ansonsten Firmen wie RedHat, IBM und
Novell/SuSE, die mit Distribution und Support freier Software Geld
verdienen. Ein "grassroots marketing" findet außerdem durch Linux User
Groups, Internet-Foren und Veranstaltungen wie LinuxTag und WOS statt.

> ...Dirk Baecker interessiert mich also in diesem Zusammenhang als
> Phänomen: Ein an sich hochintelligenter Wissenschaftler wählt aufgrund
> mir uneinsichtiger Faktoren (sicherlich wird das Selbstbewusstsein
> hier eine Rolle spielen) eine vollkommen kontraproduktive Arbeit. Wie
> kann das passieren? Wie geht das im Einzelnen vor? 

Die Wahl seiner Arbeit ist, aus meiner Sicht, alleine Dirk Baeckers
Problem.

> Wie wäre dies zu verhindern gewesen? Welche Auswirkungen hat seine
> Haltung auf seine Studenten? 

Die Studenten müssen ja nicht alles gut finden, was ihr Professor tut,
und können ihm das auch sagen. Baecker macht mir aus seinen
Publikationen den Eindruck, daß er dies eher begrüßen als übelnehmen
würde.

 
> P.S. Es wäre natürlich auch möglich, gemeinsam einen offenen Brief an
> Dirk Baecker für eine Zeitung zu schreiben, in der die
> augenblickliche, sicherlich heterogene Position der
> Freien-Software-Bewegung einfach und klar dargestellt werden könnte.

Nein, das wäre kontraproduktiv. Wenn die Freie Software-Bewegung sich
herausgefordert fühlen würde, einer Studie über warez zu antworten,
würde sie in die Suggestionsfalle tappen, die Microsoft und die Studie
legen.


Interessant finde ich, wen die Studie auf der letzten Seite als
Interviewpartner nennt, nämlich u.a.:


Bundestag, MdB Jerzy Montag (Bündnis90/Die
Grünen) und sein wiss. MA Niklas Schulze Icking
[Montag hat sich öffentlich gegen Softwarepatente und für freie Software
ausgesprochen]

ifross, Till Kreutzer, Institut für Rechtsfragen der
Freien und Open Source Software

Universität Konstanz, Prof. Rainer Kuhlen
[Ebenfalls als Unterstützer Freier Software bekannt]

Verbraucherzentrale Bundesverband, Patrick von
Braunmühl
[Datenschutz-Lobbyist]

Claus Kalle und Werner Koch (Open Source)
[Programmierer des GNU Privacy Guard]


Mich würde interessieren, was die o.g. zu der Studie sagen und ob sie
sich von ihren Autoren über den Tisch gezogen fühlen.

-F

-- 
http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/