[rohrpost] Entwurf einer Weltverfassung
Till Nikolaus von Heiseler
Till_N_v_Heiseler at web.de
Mon Nov 8 12:16:05 CET 2004
Weltverfassung
wir sind von Prof. Dr. D’Souza aus Panjim (Goa) gebeten worden, einen Artikel zu schreiben. D’Souza arbeitet an einer Weltverfassung bzw. den Voraussetzungen zu einer Weltverfassung. Ich habe gestern die erste Skizze gemacht, in der es in zentraler Weise darum geht, dass eine etwaige Weltverfassung nur gemeinsam geschrieben werden kann. Ich lege den Text hier bei, er wird am Ende auf englisch sein. Ich kann in dieser Sprache allerdings nicht denken und es ist somit eben auch ein deutschsprachiger Beitrag. Insgesamt sollen es nicht mehr als 1000 Wörter werden.
Liebe Sophia, ich nehme deine Ideen mit dem WiKi auf (vgl.
1. Mail http://coredump.buug.de/pipermail/rohrpost/2004-October/007336.html
2. Mail http://coredump.buug.de/pipermail/rohrpost/2004-October/007341.html
) und lege den ersten Vorschlag ab unter: http://www.kein.org/keinwiki/WeltVerfassung
Wir greifen auch die Idee mit NachnameVorname auf (vgl. deine 2. Mail).
Wenn du/ihr weitere Vorschläge zur Vorgehensweise hast/habt, gibt es im WiKi einen Artikel „VorschlägeundKritik“ (http://www.kein.org/keinwiki/VorschlägeundKritik), wo wir gemeinsam über den Gebrauch der Tools vermittels Spielregeln diskutieren. Auf diese Weise könnte man in Medien, über ihren Einsatz sprechen und diesen ggf. optimieren. Könnten auf diese Weise Praxis und Theorie in ein neues womöglich „(meta)kybernetisches“ Verhältnis zueinander treten?
Hier der erste Entwurf (auf den man natürlich auch in der mailinglist antworten kann; falls ihr nicht wollt, dass der Text bzw. ein Teil daraus von einem anderen ins WiKi gestellt wird, kennzeichnet dies bitte).
Glück zu allen!
tnvh
Kritik einer Weltverfassung
Sehr geehrter Herr Prof. Dr. D’Souza,
vielen Dank für Ihr Interesse an einem Beitrag von uns. Die Frage nach einer Weltverfassung ist gleichsam zweischneidig, denn eine Verfassung will ja ein tatsächliches Instrument positiven Rechts darstellen. Von daher müsste man zunächst folgende Fragen stellen: 1) Wer könnte eine solche Verfassung einführen? 2) Wäre ein derartig zentralistisches juristisches Instrument tatsächlich wünschenswert?
Die langjährigen Bemühungen der attac-Bewegung haben deutlich gemacht, dass selbst die weltweite Einführung einer Steuer auf Kapitalspekulationen (die so genannte Tobin-Steuer) illusorisch ist. Die Einführung einer derartigen Steuer ist aber im Vergleich mit der Einführung einer Weltverfassung und deren tatsächlicher Anwendung (die ja eine Weltregierung voraussetzte) eine Kleinigkeit.
Nachdem sich auf internationaler Ebene nicht-hierarchische Netzwerke von Denkern und Aktivisten gebildet haben und auch die Hirnforscher zu ihrem Schrecken feststellen, dass das menschliche Hirn nicht hierarchisch, sondern dezentral und vernetzt funktioniert, müssen wir vielleicht über vollkommen neue Formen der Regulierung nachdenken: über eine intelligente Autopoiesis.
Dass der Staat bisher soziale Standards und Rechte garantierte, bedeutet nicht, dass dieses Modell auf die Welt übertragen werden könnte, noch dass, wenn diese Möglichkeit bestände, dies anzustreben wäre. Denn tatsächlich würde mit einem Weltstaat eine zentralistische Machtkonzentration entstehen, zu der es dann kein Gegengewicht und folglich auch keine Kontrolle mehr gäbe. Das Gegenmodell zum Weltstaat wäre ein heterogenes Netzwerk, das mit Hilfe von Kampagnen und Einzelprojekten einen gewissen Einfluss nimmt, das aber nicht mehr über dem stände, was es zu beeinflussen sucht und sein eigenes Irren-Können mit einrechnet. Dies würde dann auf ein dezentrales Netzwerk, das aus unterschiedlichen Einzelninitiativen, die unter Umständen in Dachverbänden organisiert sind, hinauslaufen, auf Organisationsstrukturen, die nicht mehr auf eine gemeinsame Ideologie, einen gemeinsamen sozialen Status oder eine Gemeinsamkeit der Herkunft basieren. Es würde auf ein Modell der Interventionen, des damit verbundenen heterogenen theoretischen Diskurses und der Forschung und nicht mehr auf eine Regierungsform hinauslaufen.
Die Einigung auf eine etwaige Verfassung und ihr Wirksamwerden sind zwei Probleme, die zusammengenommen nicht schwerer, sondern leichter wiegen, d.h. beide müssen von vornherein zusammengedacht werden. Zwar meinen wir nicht, dass eine Weltverfassung durchsetzbar wäre (und wir zweifeln auch daran, ob dies wünschenswert wäre), meinen aber, dass der öffentliche Diskurs über eine Weltverfassung, in den dann allerdings möglichst viele Personen einbezogen werden müssten, eine Bewegung in die richtige Richtung darstellen würde. Der Diskurs müsst quer zu allen Gruppierungen und Schichten verlaufen und insbesondere die (deleuzianischen) Minoritäten, also die vielen und Besonderen (die Unsichtbaren, die über keine Repräsentationsform verfügen) mit einschließen. Es kann nicht darum gehen, dass linke Intellektuelle - zu denen wir uns doch wahrscheinlich rechnen müssen - „Grundrechte für alle“ festlegen und damit bestimmen, wo wer welche Rechte bekommt und wann sie ihm wieder entzogen werden; vielmehr müsste es darum gehen, den Diskurs über eine Weltverfassung, also über die Frage, wie - pathetisch formuliert - die Menschheit sich selbst organisieren könnte, in alle Bereiche zu tragen. Jeder einzelne „Paragraf“ (wenn es denn so etwas geben muss) müsst also in einem offenen kommunikativen Prozess entstehen und in diesen wieder zurückgeschrieben werden. Dies wäre ein ständiges Wechselspiel zwischen eher intellektuellen Zirkeln (die für die internationale Vernetzung sorgen müssten) und der nicht repräsentierten Lebenswelt: dem Besonderen und Lokalen.
Die Wirksamkeit einer derartigen „Verfassung“ liegt also nicht mehr in ihrer tatsächlichen juristischen Durchsetzung, sondern sie bestände in einem lebendigen Diskurs. Wie könnte das konkret aussehen? Die Globalität einer sozialen Bewegung müsste auf das Lokale rekurrieren, auf die Diskurse, Konflikte und Emanzipationskämpfe, die täglich in den unterschiedlichsten Orten und Gruppen ablaufen. Diese tatsächlich ablaufenden Diskurse müssten unzensiert zu Wort kommen. Unzensiertes Zu-Wort-kommen-Lassen des Nicht-Repräsentierten heißt aber eben nicht, darüber zu schreiben und die Situationen und Äußerungen zusammenzufassen, sondern zu Wort kommen muss buchstäblich verstanden werden und kann folglich nur die Aufnahme der mündlichen Rede bedeuten. Unserer Erfahrung nach ist Audio hier dem Video vorzuziehen, weil ohne Bild das Image und die soziale Einordnung weniger stark greifen und insbesondere die Freund-Feind-Unterscheidung mit Audio besser unterlaufen werden kann. Das Zusammentragen von Selbstdarstellungen von sozialen Bewegungen, von Produktions- und Lebensbedingungen stände also ganz am Anfang dieses diskursiven Prozesses. Denn schließlich müssten ja zunächst jene Lebenswelten - und zwar unvermittelt - erfasst werden, deren Probleme mit dem Instrument einer Weltverfassung gelöst werden sollen. Die ersten Paragrafen, die sich auf diese Weise ergeben, müssten wieder in den Diskurs zurückgeschrieben werden. Tatsächlich müsste man mit operativen Regeln arbeiten, um das Übersehene und die eigenen Vorurteile funktional zu überwinden. Was wäre, wenn wir uns (Sie und wir) mit einem Aufnahmegerät an einen zufällig gewählten Ort begeben würden und mit den ersten 5 Personen den ersten Paragrafen der Weltverfassung entwerfen und diskutieren würden? Die so entstandenen Audiotracks müssten dann über das Netz, über freie Radios oder Audioinstallationen der lokalen Öffentlichkeit bzw. global zugänglich gemacht werden. Diese Audiotracks könnten dann Ausgangpunkte von Diskussionen bilden; diese könnten wieder in Form von Audioaufnahmen (die dann vor Ort vorgespielt werden) oder Interviewfragen in die einzelne Lebenswelt zurückgetragen werden etc. etc.
Auf diese Weise könnte ein „Polylog“ entstehen, der nicht mehr hierarchisch geordnet ist, also in dem nicht allein von Intellektuellen „Aufnahmen aus der Lebenswelt“ kommentiert werden, sondern in dem eine Struktur der Wechselseitigkeit entsteht, in der umgekehrt auch von der „Straße“ aus der intellektuelle Diskurs kommentiert und kritisiert wird.
Eine der ersten Forderungen, auf die wir uns hier in Europa in gewissen Kreisen einigen können, liegt in der globalen Freizügigkeit und der Freiheit der Kommunikation. Denkbar wäre es, die oben vorgeschlagene Technik anzuwenden und zufällig ausgewählten Personen die Frage zu stellen, ob es ein menschliches Grundrecht geben sollte, sich auf unserem Planeten frei bewegen zu können.
Von großen Worten, Feierlichkeit und Programmatik, die eine Verfassung mit sich bringen könnte, würden wir allerdings von vornherein abraten. Wer ein Oben - die Respektperson, die bedeutsame Schrift - schafft, schafft damit immer auch ein Unten. Dies hat gleichfalls eine ästhetische Dimension und diese kann auf die benutzten Formen zurückgebogen werden: Dokumente wie e-mail, Bruchstücke und Gedankensplitter wären für ein derartiges Unternehmen besser geeignete Formen, da mit ihrer Hilfe auch auf formaler Ebene für das Lebendige und Nicht-Repräsentative Partei genommen würde.
Dies nur als erste Notiz...
Schreiben Sie uns doch bitte Genaueres über Ihr Projekt, dann könnten wir diese erste Skizze u.U. in den vorhandenen Netzwerken diskutieren und Ihnen die Ergebnisse des Diskurses zusenden.
Glück zu allen!
tnvh / dasch
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