[rohrpost] Medientheorie - Das Wikiexperiment

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Die Nov 23 19:06:24 CET 2004


Am Samstag, 20. November 2004 um 00:52:00 Uhr (+0100) schrieb sascha brossmann:

> Am 18.11.2004 um 11:42 schrieb mercedes bunz:
> >zum anderen sind offensichtlich die bestehenden theorien, wie florian 
> >cramer meint, unzureichend für die betrachtung zeitgenössischer, naja, 
> >vielleicht nicht die ganze kultur, aber den bereich medienkunst.
> 
> vielleicht sollten wir *doch* noch einmal über begriffe sprechen, aber 
> mir scheint der betreffende absatz im wiki eigentlich deutlich genug. 

Vielleicht noch nicht deutlich genug, und vor allem ohne Begründung. Ein
wichtiger Punkt wäre z.B., daß sich das technische Funktionieren und der
kulturelle Gebrauch von Computer-Software (und generativ-algorithmischen
Systemen im allgemeinen) nicht oder nur mit unvertretbaren Verrenkungen
mit klassischen Sender-Empfänger-Modelle aufschlüsseln läßt.  Der
Begriff "Medium", der das Mittlere einer Sender-Empfänger-Strecke
bezeichnet, ist somit Relikt einer Medienwissenschaft, die in ihrem
methodischen und begrifflichen Kern immer noch Rundfunk-, Film- und
Fernsehwissenschaft ist, von McLuhan bis zu Manovich.

> >das ist bestimmt so. nur weiss ich nicht, ob man da weiter kommt, wenn 
> >man der theorie einen insiderjargon vorwirft wie im wiki und 
> >anschlussfähigkeit einklagt.
> 
> der in erster linie distanz schaffende und vor allem unnötige jargon 
> ist nur ein problem unter mehreren, die daraus resultierende 
> kommunikationsunfähigkeit betrachte ich aber durchaus als ein 
> relevantes.

Das Wiki wirft ja allen im sog. Medien-Diskurs Jargon vor, nicht nur der
sogenannten Theorie. Wenn auf (deutschsprachigen) Netzkunst-Tagungen von
"content" und "streaming" geschwafelt wird oder Begriffe wie
"peer-to-peer" und "wireless" als Allgemeinwissen vorausgesetzt werden,
muß man sich nicht wundern, wenn man im Ghetto bleibt.

> >ich mag es kompliziert und würde einem medienkünstler nie erklären, er 
> >soll seine medienkunst gefälligst für alle bedienbar machen. man muss 
> >sich eben einfummeln, das gehört nunmal dazu.
> 
> einspruch, euer ehren! in dieser hinsicht gelten m.e. für künstlerische 
> arbeit doch noch ein paar andere bedingungen als für wissenschaft. 

Ich halte das Wiki in seinem jetzigen Zustand für mißverständlich, so,
als ob man einer Theoriefeindlichkeit das Wort reden würde. Oder man
könnte es als Positionierung in dem auffassen, was mir der neue
geisteswissenschaftliche Methodenkampf zu scheint. Nach der
Auseinanderzusetzung zwischen Konservativen und Marxisten in den
1940er-1970er Jahren sowie Marxisten versus Postmodernisten in den
1980er-1990er Jahren scheint mir die Frontlinie nun zwischen einer
analytischen, d.h. logisch-empirisch-pragmatisch orientierten und
einer spekulativen "kontinentalen" Philosophietradition zu verlaufen. 

Die vielleicht größte Leistung der vage und fragwürdig als
"Medientheorie" und "Medienkunst" bezeichneten Diskurse ist es,
spekulativem, experimentellem Denken Plattformen und Freiräume geboten
zu haben. Dies macht nicht zuletzt die elektronischen Künste der letzten
zehn Jahre interessant, und zwar als Kunst im Allgemeinen und nicht als
sog. "Medienkunst" im Speziellen, während der reguläre Kunstbetrieb in
politisch korrekten Akademismen (bzw. affirmativer Video- und
Installations-Bebilderung von akademischen cultural studies-Credos)
und opulenter Bilderkunst für Sammler erstarrt. - Diese spekulativen 
Freiräume waren nützlich und gut, solange sie nicht zu Schulen, 
Forschungsverbünden und Dogmen destillierten. Befragt man aber die nun
derart kanonisierte Theorie daraufhin, was sie zu heutigen
Phänomenen wie z.B. dem Kulturkampf ums Urheberrecht zu sagen hat,
findet man praktisch nichts hilfreiches. - Während ein
nicht-Medientheoretiker wie Derrida diesen historischen Sprengstoff
bereits 1994 an der bloßen Technik der E-Mail erkennt und als solchen
deklariert, und zwar in einer kleinen Nebenbemerkung seines Aufsatzes
"Mal d'archive". (Wenn man so etwas liest, zweifelt man am Sinn daran,
Geistes- und Sozialwissenschaftler aus den Fächern, in denen sie
ursprünglich ausgebildet wurden, abzuziehen, zu "Medienwissenschaftlern"
zu machen und den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen zu lassen,
anstatt Medientheorie vernetzt innerhalb der alten Disziplinen zu
betreiben.)

Derrida ist ein gutes Beispiel, weshalb Kompliziertheit eines
theoretischen Diskurses sinnvoll und konsequent sein kann, und zwar als
Vermeidung dessen, was er als metaphysische Falle der Zerstörung von
Metaphysik beschreibt, nämlich die bloße Substitution eines alten
Konzepts ("Geist" z.B.) durch ein scheinbar entgegengesetztes ("Medien"
für "Geist"), was letztlich nur dazu führt, daß das Alte
("Geistesgeschichte") unter neuem Vorzeichen ("Mediengeschichte")
fortgeschrieben wird. Eine Kritik, die dieser dialektischen Falle
entgehen will, muß um das attackierte Objekt herumschreiben und sich der
Fallen des eigenen Verfahrens ständig bewußt sein. Dies führt bei
Derrida zu einem reflexiven, ironischen, schwierigen Stil, der aber eben
genau jene Simplifikationen und formelhafte Entkleidungen von Aporien in
Texten vermeidet, wie sie später in den Literatur- und
Kulturwissenschaften unter dem Label "deconstruction" betrieben wurden.

Auf der anderen Seite zeigen Theoretiker wie Umberto Eco (in seinen
semiotischen und kulturwissenschaftlichen Schriften), Hans Blumenberg,
meinetwegen auch McLuhan, welch eine große Kunst es sein kann,
schwierige Sujets klar und einfach darzustellen, ohne dabei
gedankliche Differenzierung zu opfern.

Sascha schreibt dazu: 

> wenn 
> ich als künstler etwas im unklaren, überkomplizierten etc. lasse kann 
> das sehr viele verschiedene gründe haben und dient meistens auch 
> spezifischen und in der arbeit/im arbeitsprozess begründeten zielen und 
> zwecken. i
[...] 
> welchen zweck erfüllt aber obskure und verschraubte rede in der 
> wissenschaft? ausser möglicherweise dem, ziemlich tölpelhaft die eigene 
> mittelmässigkeit (bestenfalls!) und mangel an gehalt zu verschleiern? 

Hier sehe ich einen Widerspruch zu den Thesen des Wikis. Wenn
Medienkritik, -wissenschaft und -theorie in engerem Kontakt zu anderen
kulturellen Praxen gebracht werden soll, ist es nicht wünschenswert, wenn
es fließende Übergänge von sog. künstlerischer Praxis und sog. Theorie
gibt? Also z.B. eine hypothetische Arbeit über Codekunst, deren
Typographie und, in Teilen, Text sich an Codekunst à la jodi oder mez
anlehnt? - Ich stimme zu, daß bisherige Ansätze dazu nicht
zufriedenstellend sind, wie z.B. jene Kunst und Theorieversuche aus dem
Umfeld von "Texte zur Kunst" und "minimal club" der 1990er Jahre, die
kritische Theorie unkritisch-affirmativ lesen und Kunst zu toter
Illustration eben jener Lektüre machen. Als gelungene Beispiele fallen
mir Guy Debords und Asger Jorns gemeinsam produzierten
psychogeographischen Landkarten, Godards und Chris Markers Filme sowie
Derridas "Carte Postale" ein.

Auch sie kann man, wenn man will, jedoch als Insiderdiskurse kritisieren
und einwenden, daß Kritik und Theorie sich dadurch legitimieren, einem
Nicht-Fachpublikum Wissen zu vermitteln. Erfahrungsgemäß ist Theorie und
Wissenschaft auch dann immer lesbarer und lesenswerter, wenn sie direkt
aus der Lehre und öffentlichen Vorträgen entsteht, so denn man als
Wissenschaftler noch das Privileg hat, lehren zu dürfen. [Ein anderer
Wahnwitz des deutschen Universitätssystems und Bildungsföderalismus:
überfüllte geisteswissenschaftliche Fakultäten, weil die Bundesländer
kein Geld für Neubesetzung von Stellen haben, aber zahllose
Nachwuchswissenschaftler, die in Graduiertenkollegs und
Sonderforschungsbereichen ohne oder nur mit minimaler Lehrverpflichtung
arbeiten, weil diese als reine Forschungsprojekte vom Bund finanziert
werden.] 

Hinzu kommt, mit Thomas Kapielski gesprochen, "der kühle Kant oder
der barhäuptige Foucault [...] die Hitze der Leser besonders an den
Stellen [forcieren], wo sie ziemlichen Quatsch schreiben". Das gleiche
gilt für Kristeva, Lacan, Deleuze, Baudrillard, Virilio z.B. an den
Stellen, die Sokal und Bricmont auseinandergenommen haben. 

Vielleicht könnte man konstatieren, daß sich der Diskurs spekulativer
Medientheorie in den letzten Jahren verselbständigt und von den
spekulativen Diskursen der Künste entfremdet hat? 

Mercedes/Sascha:

> >überhaupt: so eine praxis versus theorie debatte, wie sie im wiki 
> >anklingt, die halte ich für unfruchtbar.
> 
> es geht zumindest meiner ansicht nach auch absolut nicht um praxis 
> versus theorie - um himmels willen! -, sondern vielmehr um 
> schnittstellen, übergänge und gegenseitige bereicherung. kurz: augen 
> auf, ohren auf, kopf auf! die bestehenden grenzziehungen schützen 
> höchstens die beschränkten (sic!).

Ich halte nicht viel von einer Theorie, die keine Philosophie im
strengen Sinne betreibt, aber wenig beobachtet außer sich selbst. Zu den
Stärken der besten Kunst- und Kulturtheorien des 20. Jahrhunderst gehört
ja gerade, daß sie aus unmittelbarer Anschauung zeitgenössischer Kunst
geschrieben wurden: Z.B. entstand Jakobsons strukturalistische Poetik
direkt aus dem russischen Futurismus und seiner Wortdichtung (an der
Jakobson selbst mitgewirkt hatte), Foucaults Theorie über Autorschaft
und endlose Textualität aus intensiver Borges-Lektüre, Ecos
Kultursemiotik aus seiner Mitgliedschaft in der "Gruppo 63"
italienischer Avantgarde-Schriftsteller wie Celli, Malerba, Calvino und
Manganelli, Kristevas Texttheorie aus ihrer Auseinandersetzung mit
Avantgarde-Literatur in der "Revolution der poetischen Sprache",
McLuhans Medientheorie, wie er selbst schreibt, aus der
Auseinandersetzung mit Wyndham Lewis und James Joyce, oder auch, auf der
Seite der analytischen Philosophie, Arthur C. Dantos Theorie des
Kunstwerks als "Verklärung des Gewöhnlichen" aus seinem Nebenberuf als
freier Kritiker für "Artforum" und andere Kunstzeitschriften. 

Mit anderen Worten: Gute [Kunst-]Theorie entsteht normalerweise dann,
wenn jemand feststellt, daß Kunst ihrer etablierten Theorie voraus ist
und alte Methoden nicht ausreichen, sie zu beschreiben. Die Lösung kann
nicht sein, den kulturellen Rezeptionshorizont auf das zu beschränken,
was sich mit bestehenden Theorien gut fassen läßt, und zu ignorieren,
was nicht paßt. Würde dies geschehen, stünde die sog. Medienwissenschaft
bald dort, wo der Mainstream der universitären Kunstgeschichte bzw.
-wissenschaft heute bereits steht. Weil dort die ikonographische bzw.
ikonologische Methode dominiert, stellt abstrakte und konzeptualistische
Kunst nach wie vor ein Methodenproblem dar, das sich durch Ignorieren am
einfachsten lösen läßt. Schon Erwin Panofsky hielt deshalb Walt Disney
für den größten Künstler seiner Zeit (und ich kenne tatsächlich
konservative Kunsthistoriker, die das heute noch denken und abstrakte
Kunst für "Bluff" halten). Und daß Bill Viola sich zur Verwunderung der
"Medienkunst"-Szene so großer Beliebtheit bei Kunsthistorikern erfreut,
liegt nicht unwesentlich daran, daß seine Videos und Installationen sich
klassischer Ikonographien bedienen und daher mit tradiertem
kunsthistorischen Handwerkszeug hervorragend lesbar sind. 

Eine "Medienkunst" im Jahre 2090, die sich ihrer Beliebtheit bei der
medienwissenschaftlich geschulten Kritik dem Umstand verdankt, daß sie
die von McLuhan bis Kittler formulierte Kernthese vom Medium als
Botschaft besonders gut illustriert, möge uns erspart bleiben.

-F

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