[rohrpost] Medientheorie - Das Wikiexperiment
Tilman Baumgärtel
mail at tilmanbaumgaertel.net
Fre Nov 26 03:00:49 CET 2004
At 17:07 25.11.2004, you wrote:
Martin Warnke, der als Leiter des Studiengangs "Kulturinformatik" und des
Rechenzentrums der Uni Lüneburg zugleich höchste kulturwissenschaftliche
wie medienpraktische Kompetenz besitzt, war im letzen Sommer als
Alcatel/SEL-Fellow an der Humboldt-Uni und hat über genau solche Fragen
(das Scheitern 'klassischer' Beschreibungsmodelle für gegenwärtige
Phänomene) eine Reihe von Vorträgen gemacht. Resonanz in Form vom
Anwesenheit und Gespräch war so gut wie nicht vorhanden: Weder von den
Diskutanten dieses threads, noch von den einschlägigen Instituten der HU
hat sich jemand blicken lassen.
>Dieses kleine Beispiel finde ich einigermaßen bezeichnend für den latenten
>oder offenen Antiakademismus, der die ganze Debatte begleitet. Ich sehe ja
>ein, daß solcher Antiakademismus eine seit 200 Jahren erprobte Chance zur
>Provokation und eine Option zur Sezession aus dem blinden, abseitigen oder
>etablierten "Betrieb" ins hellsichtige, gegenwärtige oder irgendwie
>frische "Leben" ist. (Boris Groys hat das ja mehrfach anhand des Museums
>durchbuchstabiert.) Aber selbst das ist eine intellektuell unterhaltsamere
>Herausforderung, wenn man sich den 'Feind' nicht ausschließlich aufbaut,
>sondern gelegentlich auch mal anschaut.
Schlecht besuchte Veranstaltungen gibt es häufiger. Ich weiss nicht, was
das beweisen soll. Den "latenten" Anti-Akademismus von Rohrpost? Du
schriebst ja selbst, dass auch keine Uni-Leute hingegangen sind. Vielleicht
hätte M. Warnke seine Thesen mal hier posten sollen, da hätte er ein
Publikum gehabt und es hätte sich auch bestimmt jemand geäußert. Dieses
Argument kann man also relativ leicht undrehen.
Ansonsten darf man anderen nicht simplifizierende Argumentation oder
billiges Schielen nach Provokation vorwerfen, wenn man dann selbst mit
derart Schlichtem kommt. Natürlich gehört das Rüpelspiel zu den Konstanten
einer Mailingliste. Aber man kann darum nicht jede Art von Kritik an den
real existierenden akademischen Medienwissenschaften als wohlfeiles
Genörgel an den Institutionen abtun. Hier ist z.T. viel differenzierter
argumentiert worden.
Florian schrieb:
Ja, diese Formulierung, wie sie derzeit im Wiki steht, ist grauenhaft,
da rollen sich mir die Nägel auf, mit Bergson, Dilthey und der gesamten
Lebensphilosophie ante portas.
Welche Stelle meint Ihr denn da?
Das ist das Problem eines
Wiki-Schreibexperiments, man hat keine Kontrolle über den Text, wird
aber mit ihm identifiziert. Autorisiert wird er erst dann sein, wenn er
für fertig erklärt und mit Namen gezeichnet ist.
Mir hat diese Sache auch die Grenzen dieser Art von Online-Kollaboration
gezeigt. Irgendwann bekommt diese Zusammenarbeit etwas Nivellierendes, bei
dem der kleinste, gemeinsame Nenner bedient wird. Für Sachen wie Wikipedia
funktioniert das ja offenbar wunderbar, aber wenn man eine gemeinsame
Meinung formulieren will, muss man sich wahrscheinlich doch irgendwann
physisch zusammen setzten, um den Text zu finalisieren. Nicht umsonst
werden Zeitungskommentar auch nicht im Kollektiv geschrieben. Mir kommt
diese Wiki-Technologie auch nicht hundertprozentig geeignet vor, um neben
dem Schreiben auch noch zu diskutieren.
Andererseits finde ich das, was dabei herausgekommen ist, doch erstaunlich
gut. Ich hätte das von so einem Wiki nie erwartet. Ich kenne die meisten
Leute, die daran mitschreiben, überhaupt nicht, weder persönlich noch dem
Namen nach. Mit vollkommen Fremden gemeinsam einen Text zu schreiben, der
einigermassen kohärent ist, finde ich schon einen relativ grossen Erfolg -
auch wenn ich den Wiki-Text in seiner gegenwärtigen Form nicht
unterschreiben würde.
Darum bin ich froh, dass Florian dieses Experiment gestartet hat. Sowas
bezeichnet für mich genau den Unterschied dazwischen, über Medienpraktiken
bloss zu reden, oder sich auf sie einzulassen und dann aus so einer
Perspektive über sie zu reflektieren.
Gruesse,
Tilman