AW: [rohrpost] betrifft: deutsche medientheorie
Harald Hillgärtner
hillgaertner at tfm.uni-frankfurt.de
Sam Okt 16 23:09:14 CEST 2004
Hallo Mercedes, liebe Liste,
> dass ein "mediales apriori" mit macht und
> ohnmacht wenig zu tun haben soll, wäre mir neu.
> das merkt man doch genau daran, wenn dieter
> mersch etwa immer noch diskutiert, ob die
> wahrnehmung oder das medium dazu zuerst kommt.
> hier geht es um macht. deshalb ist das doch genau
> die frage.
> wieviel ist durch medien vorstrukturiert, wieviel
> spielraum hat man auf die eigene kappe zu nehmen?
Du hast natürlich vollkommen recht. Mir ging es auch nicht um die Frage nach
Verantwortung, sondern vielmehr darum, dass es in Hinsicht auf ein mediales
Apriori (wenn es denn eins im Sinne eines Ursprungs gibt) schwerlich "die
Verfügenden" und "die Opfer" gibt, auch wenn dies nun auch wieder zu grob
gefasst ist.
> denn dass das mediale apriori immer auch ein
> diskursives konstrukt ist,
Und dies führt wieder geradewegs zum Thread. Denn dass es eine deutsche
Medienwissenschaft geben könnte, wäre auch nur als diskursives Konstrukt
denkbar, ebenso wie überhaupt eine Mediendefiniton. Als ein solches
diskursives Konstrukt würde es dann Ein- und Ausschlusskriterien
festschreiben. Insofern wäre ein Befund, über keine deutsche Medientheorie zu
verfügen kein Scheitern, sondern ein "nochmal Glück gehabt".
So möchte ich gerne Stefan Heidenreich beipflichten, dass es da etwas gibt,
dass sich zu beschreiben lohnen würde, womöglich in der Tat eine Art
"Medienmaterialismus", einen Schwerpunkt auf die Frage nach dem Apriori (und
interessanterweise ist der Name Tholen noch gar nicht gefallen ;-)). Aber
vielleicht ist es Luhmann, wie ja auch vorgeschlagen wurde.
Solange dies nicht als wissenschaftspolitisches Erfordernis begriffen wird,
sympathisiere ich damit. Denn in anderem Fall erst hätte das Label "Medien"
eine entscheidende Relevanz "im akademischen Verteilungskampf" (Heidenreich).
Als Erfordernis verstanden, eine deutsche Medienwissenschaft zu haben, mit
einem Gegenstand, mit einem Vokabular, mit einer Methode, würde sicherlich
effektiv zu verhindern sein, dass so viele, allzu viele sich das Label
"Medien" ans Revers heften. Dann ließe sich auch wunderbar dekretieren, dass
jemand der oder die sich mit Medien beschäftigt, auch bitte schön vernünftig
mit E-Mail umzugehen habe, oder andernfalls sich nicht
MedienwissenschaftlerIn zu nennen habe (SCNR).
Aber noch kurz zur Ausgangsfrage:
> wenn es
>franszosische philosophie gibt, warum dann auch nicht deutsche
>medientheorie? waere deutsche medientheorie ein exportprodukt oder eher
>ein gelungerer fehlschlag? ist der often spekulativen ansatz zeichen
>seiner staerke oder verbirgt sich hinter der begriffslawine eher
>ohnmacht, kulturpessimismus und mangel an praktischen kenntnissen der
>(neue) medien und seinen pragmatischen funktionalitaeten?
Gibt es französische Philosophie? Sicherlich. Gibt es deutsche Medientheorie?
Sicherlich. Erstere war allerdings ein Exportschlager, letzere nicht,
zumindest ließe es sich so interpretieren, wenn man Verenas Vorschlag, auf
Nettime zu fragen, umkehrt: Während französische Philosophen dort eine Rolle
spielen, finden deutsche Medientheoretiker und Medientheoretikerinnen weniger
Erwähnung, wenn ich auch zugeben muss, aus Faulheit zu wenig Nettime zu
lesen. Insofern gibt es keine deutsche Medientheorie, sondern Medientheorie
in Deutschland (klingt salomonisch, nicht wahr?).
Hingegen halte ich den spekulativen Ansatz (wenn man es so nennen will) für
eine Stärke. Es entstehen dabei zwar keine Patente, keine
"sozialtechnologischen Anwendungen", wie ich anderswo als Erfordernis für
eine Medienwissenschaft gelesen habe, kurz: es mangelt an Pragmatik (obwohl
es auch hierzu Ansätze gibt), dafür entstehen Fragestellungen. Mitunter sehr
gute Fragestellungen mit "skurril-verschrobenem" Charme.
Und dies wäre in jedem Fall eine Sache, die ich bei Flusser gelernt habe, ohne
diesen für eine etwaige deutsche Medientheorie zu vereinnamen (obwohl auch
für diesen Florian Cramers philosophische Fluchtlinien deutscher
Medientheorie wichtig sind): Er war ohnmächtig, kulturpessimistisch und hatte
einen Mangel an praktischen Kenntnissen und trotzdem, vielleicht ist Flusser
ja gerade deswegen außerordentlich spannend. Zumal Begriffslawinen sehr wohl
auch bei denjenigen vorkommen, die über eine intime Kenntnis der Technik und
Funktionalitäten verfügen. In jedem Fall aber gibt es keinen Automatismus,
dass technische Unkenntnis zu Gelehrtensatiren führen müssen.
Viele Grüße,
Harald Hillgärtner.