AW: [rohrpost] betrifft: deutsche medientheorie

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Sam Okt 16 23:46:16 CEST 2004


Am Samstag, 16. Oktober 2004 um 21:09:14 Uhr (+0000) schrieb Harald Hillgärtner:

> Funktionalitäten verfügen. In jedem Fall aber gibt es keinen Automatismus, 
> dass technische Unkenntnis zu Gelehrtensatiren führen müssen. 

Danke, ich muß meine Aussage präzisieren: Praktische Unkenntnis von
Medien und Techniken halte dann für problematisch, wenn man über eben 
jene Medien und Techniken theoretisiert; z.B. Theorien über das
Internet von Leuten mit Computer- und Netzkompetenz auf DAU ["Dümmster
anzunehmender User"]-Level.

Das ist genauso, als wenn man Literaturwissenschaftler ist und
Analphabet, Fremdsprachenphilologe ohne Fremdsprachenkenntnisse oder
ein Musikwissenschaftler, der weder ein Instrument spielen, noch Noten
lesen kann. Schimpf mich konservativ, aber dies sind in
geisteswissenschaftlichen Fächern sonst völlig selbstverständliche, oft
schon von Studienanfängern verlangte Mindestkompetenzen. 

Ich räume gerne ein, daß praktischer Dilettantismus kreative
pataphysische Ergebnisse zeitigen kann, so wie etwa in Don DeLillos
Roman "White Noise", dessen Protagonist ein amerikanischer Professor für
Hitler-Studien ist und der die Tatsache verschleiert, daß er Deutsch
weder spricht, noch versteht. Doch habe ich einen gewissen Überdruß an
gestandenen Geisteswissenschaftlern und nebenberuflichen
Medientheoretikern, die in akademischen Vorträgen Unsinn erzählen, weil
sie Computer-DAUs sind.

Also ist von einem Medienwissenschaftler, der über Computer
theoretisiert, zu erwarten, daß er mindestens eine simple
Programmiersprache wie BASIC beherrscht, oder von einem
Medienwissenschaftler, der über das Internet schreibt, daß er z.B. weiß,
was TCP/IP, Routing und DNS sind. [Wie sonst könnte man sonst z.B.
kompetent über ein netzaktivistisches Kunstprojekt wie voteauction.com
schreiben, dessen DNS-Einträge zentral gelöscht wurden?] Dies sind so
banale Mindeststandards, daß sie vorauszusetzen noch lange nicht
heißt, ein Technik-Materialist wie Kittler zu sein.  

Es ist ja gerade die Stärke von einem unsystematischen und
nicht-medienmaterialistischen Theoretiker wie Manovich, daß seine Thesen
unmittelbar aus dem praktischen Umgang mit Computern gewonnen sind. Ich
sähe gerne mehr solche Theoriebildung, und zwar gerade von Leuten wie
jenen, die hier mitdiskutieren und ihre Kompetenz durch jahrelangen
Netz-Umgang erworben haben statt bloß durch Jahre in Graduiertenkollegs
und Sonderforschungsbereichen.

-F

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