[rohrpost] medientheorie, deutsch
Pit Schultz
pit at midas.in-berlin.de
Sam Okt 30 21:49:30 CEST 2004
>Date: Fri, 29 Oct 2004 19:21:06 +0200
>To: rohrpost at mikrolisten.de
>From: Pit Schultz <pit at bootlab.org>
>Subject: medientheorie, deutsch
nochmal zum thema weil mein letzter beitrag in seiner knappheit
vielleicht bloss als noergelei verstanden werden konnte.
die frage nach einer deutschen medientheorie ist ebenso produktiv wie
hinterlistig, ebenso oberflächlich wie komplex. produktiv ist sie weil zumeist
ein redefluss zu erwarten ist, wenn man einen deutschen nach seiner
identität fragt. produktiv ist sie auch weil die existenzbedingungen einer
theorie und kunst der medien durchaus ambivalent sind, bzw. aus
der negation geboren, baudrillard: "es gibt keine medientheorie".
hinsterlistig waere die frage dann, wenn sie die deutsche indenditaetsdebatte
als "grund" voraussetzte und daher bereits die standardantworten kennen
muesste,
ebenso wie die fatal-zirkuläre logik dieses datenstroms. sie ist falsch,
wenn sie die abarbeitung an einer deutschen frage, zusaetzlich zur linken
theorie,
zwar als differenzgenerator vorraussetzt aber nicht offen thematisiert.
oberflächlich waere die frage nach einer spezifisch deutschen medientheorie,
weil praktisch gesehen eine deutsche (aber auch franzoesische, oder
englische, oder
ungarische oder österreichische) medientheorie ohnehin auf im/export von
mehr oder
weniger benachbarter textproduktionen fusst, eine solche zuschreibung also
eher auf einer
weiterhin populaeren vermittlungspraxis aufbaut, die sich volkstypologien
und rassischen
stereotypen verdankt. tatsaechlich: kittler liest foucault, derrida liest
heidegger, lacan liest
freud, luhmann liest parsons, usf. komplexitaet liegt vor, weil
medienwissenschaft selbst noch
recht jung ist, noch nach seinem zentrum sucht, bzw. seine grenzen
absteckt und weil, wenn
man ernsthaft fragen wuerde, die in dem fall schwierige frage sich vorerst
mit der geschichte
der medien in deutschland befassen muesste, gerade weil medientheorie in
deutschland in der
nachfolge von kittler aber auch der mcluhan-rezeption a la roetzer, weibel,
bolz wie auch in
fachgebieten wie der "medienarchaeologie" sich gewissermassen im
historischen legitimiert.
hier kann man nun urszenen finden, reformation oder volksempfaenger, thurn
und taxis oder
wehrmacht, zuletzt der niedergang der "neuen oekonomie", und in einer
geschichte der irrtuemer
und versäumnisse den grund der medien analysieren, an schnittstellen die
jeweils auf ganz
eigene weise 'gesellschaftlich' produktiv wurden. aktuell reicht es
vielleicht im "close reading"
fleissig den heiseticker samt foren zu studieren.
letztlich koennte man auch noch anmerken, dass die frage nach einer
deutschen medientheorie
auf naive weise touristisch vorgeht. auf der suche nach einem dichter und
denkertum,
einer weinseligen rheinfahrt nach digitalien, einer "deutschen"
tiefgruendigkeit im internet,
einem idealismus des reinen codes, einem wagnerschen pathos der
epistemologischen
mediendaemmerung, einem nostalgischen berlin-der-20er-intellektuellentum,
einem
merkantilen vermittlertum der fakten, fakten, fakten.
gerade auf diese frage waere zu antworten, dass sich laengst seit den 50ern
ein neues dispositiv des deutsch-seins etabliert hat, das auf der organisierten
produktion von mittelmaessigkeit basiert, aber vom prinzip her sicherlich auch
in den niederlanden bekannt ist. nachdem durch zwei kriege, holocaust,
exil und verbrannter erde, die intellektuelle elite deutschlands auf eine
durchaus agrarisch-kleinbuergerlichen mindeststandard reduziert wurde,
einem angestelltenstaat statt untertanenstaat, einer auf ikea-niveau
zivilisierten
arbeiter und bauernkultur, einem sozial befriedeten land, auf kosten der
intelligenz.
aus der autorität der mitte, die gleichzeitig immer gesucht wird, wird das land
regiert von figuren wie adenauer, kohl, schroeder mit volksbarden
wie groenemeier, bohlen und rammstein oder den prinzen, mit kritikern wie
ilyes, safranski oder sloterdijk, und vordenkern wie tim renner und ron sommer.
mit technischen grossprojekten wie in der letzten mail beschrieben und
einer fortschreitenden
bildungsmisere, das heisst eigentlich eher einer wiederum sehr "deutschen"
schleichenden
verfallsgeschichte: ein land das weniger durch seinen latenten faschismus
sondern seine zur schau
getragene braesige mittelmaessigkeit mit sich selbst beschaeftigt ist in
bester biedermeierlicher
und bodenstaendiger tradition, heute wie ehemals wenig (institutionellen)
raum laesst fuer
freies denken, sondern eher hier eher als ein quelle der dissoziation
funktioniert, welcher
auf produktive weise widerstand hervorruft, eine nation die man vielleicht
besser moeglichst schnell
in europa aufloesen sollte, und das dank seiner regionalisierung
bereits laengst entgrenzt ist.
(dabei waere zu verhindern dass die alten ideen dann nicht als
pan-europaeismus
wieder auferstehen) nur: irgendwo in dieser mittelmaessigkeit verbergen
sich wiederum
kleinode an bastlertum, an cleverness, mitunter sogar schoenheit. das
wenige was uns
stolz machen koennte, aber fern davon ist, aus dem "mittelstand" eines
mittleren kennerkreises
herauszuwachsen.
also waere die frage, wenn auch nicht unproblematisch, wenn schon:
"gibt es eine europaeische medientheorie?" in der debatte in bruessel
um softwarepatente und urheberrecht waere eine bessere theoretische
und nicht bloss juridisch-aktivistische unterfuetterung bestimmt hilfreich.
die andere richtung, die durchaus interessantere wuerde sich international
aller
verfuegbaren quellen bedienen und grundfragen stellen: kommen wir mit dem
begriff der "medien" weiter? wie steht es mit den grenzen des kybernetischen
dogmas (information und kommunikation) und was liegt jenseits der doktrin
des codes?