[rohrpost] betrifft: deutsche medientheorie

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Son Okt 31 21:43:36 CET 2004


Am Sonntag, 31. Oktober 2004 um 20:08:02 Uhr (+0100) schrieb Janus von Abaton:

> Was mir jut jefällt, Florian Cramer, ist, dass du immer „Theorie & Kritik“
> schreibst. Immerzu schreibst du „Theorie & Kritik“. Das gefällt Janus. Hier
> müsste man präzisieren, was das genau heißen soll. 

Doppelt janusköpfige Antwort:

1. Was heute Theorie heißt, hieß früher, z.B. bei Friedrich Schlegel und
Schleiermacher, bescheidener "Kritik". Im 116.  Athenäums-Fragment
schreibt Schlegel über die "romantische Universalpoesie": "Sie will und
soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und
Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und
gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz
poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder
Art anfüllen und sättigen und durch die Schwingungen des Humors
beseelen." Schon hier also geht es um die Verbindung von künstlerischer
Praxis und Theorie, nicht um ihre Trennung.  

2. Konventionell heißt Kritik heute dasjenige, was im Genre der
Rezension, des Kommentars, ggfs. auch der Polemik geschrieben wird,
Theorie, was über einen punktuellen Kommentar zu einem begrenzten
Phänomen hinaus allgemeine Maximen, Axiome und Beobachtungen aufstellt. 

Die Grenze von Theorie und Kritik ist dabei völlig uneindeutig. Ob man
z.B. Benjamins Aufsatz über die Reproduzierbarkeit des Kunstwerks eine
"Theorie" nennt oder eine "Kritik" (als die er ursprünglich in einer
Zeitschrift geschrieben wurde), hängt wiederum von der individuellen
Kritik bzw. Beurteilung dieses Texts ab.

3. Die Frankfurter Schule benutzte im Exil das Wort "kritische Theorie"
als Codewort für Marxismus. Danach gewann der Begriff Eigendynamik. In
den USA steht "critical theory" heute für jede Art von Kulturtheorie,
die sich aus einer kontinentaleuropäischen Tradition speist und damit
aus dem Raster der analytischen Philosophie fällt (und deshalb in den
USA auch nicht als Philosophie, sondern vor allem in
literaturwissenschaftlichen Studiengängen gelehrt wird). 

Im Konzept "kritischer Theorie" und ihrem Anklang an Literaturkritik
läßt sich auch der Gedanke erkennen, daß Theorie aus Kritik entsteht,
also z.B. aus der Analyse eines Einzelwerks wie Sades "Justine" eine
weitergehende Theorie wie die Dialektik der Aufklärung abgeleitet werden
kann. Die Theorie legitimiert sich somit aus der Plausibilität des
kritischen Kommentars, weshalb man z.B. die "kritische Theorie"
Horkheimers/Adornos wegen ihrer oberflächlich-snobistischen Analyse und
Kritik von Jazz und Populärkultur hinterfragen kann.  Qua ihrer Herkunft
aus dem kritischen Kommentar soll die Theorie somit selbst kritisch
sein, nicht affirmativ; ebenso der Gebrauch der Theorie.

Ein abschreckendes Beispiel für affirmativen Theoriegebrauch ist, aus
meiner Sicht, z.B. die Deleuze/Guattari-Mode mit ihrem Höhepunkt der
"Mille Plateaux"-Sektencamps in der Berliner Volksbühne. 

4. In der Begriffsunterscheidung "Kritik" und "Theorie" steckt heute vor
allem eine Systemunterscheidung von Kulturbetrieb und Universität,
Feuilletonisten und Professoren. Diese Unterscheidung ist sehr
spezifisch für Deutschland. In den USA z.B. heißt Literaturwissenschaft-
und -Theorie "criticism", exponierte Autoren wie Harold Bloom firmieren
synonym als Theoretiker und "critics". Dies hat eine lange Tradition
in der angloamerikanischen Kultur, man denke nur an "critics" (vulgo
"Theoretiker") wie Samuel Johnson, Matthew Arnold, Northrop Frye, oder
auch Clement Greenberg und Susan Sontag. Ich sympathisiere mit diesem
Verständnis von "criticism" und verwende daher die Begriffe "Theorie"
und "Kritik" bewußt unscharf.

In England, USA, aber auch in Frankreich und Italien studiert man
übrigens auch nicht "Literatur_wissenschaft_", sondern "Literature"
bzw.  "lettres", es gibt dort kein Fach "Medien_wissenschaft_" im Sinne
einer "media science", sondern schlicht "Media" oder "Media Studies".
Zwar wird auf deutscher Seite immer wieder argumentiert, daß der
hiesigen Terminologie ein weniger rigides Verständnis von Wissenschaft
zugrundeliege sowie eine angenommene Gleichwertigkeit von Natur- und
Geisteswissenschaften [die anderswo gar nicht Wissenschaften heißen].
Dies wird jedoch um den Nachteil einer fragwürdigen Abschottung der
akademischen Kunstkritik z.B. von derjenigen in Feuilletons und
Kunstbetrieb erkauft.

> Immerhin muss man sich von einer Kritiktradition verabschieden, die -
> und das fällt schwer - moralisch argumentiert und gleichzeitig reine
> Affirmation vermeiden. Wie aber soll das gehen?

Ich vermute, Du versteht "Kritik" im Sinne der "Sozialkritik". Ich
dachte jedoch primär an Kunstkritik, die, wie ich finde, nicht erst seit
Schlegel und Schleiermacher keine schlechte Tradition hat.

-F


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