[rohrpost] Tiamat Verlag verbietet link auf einem Internetseminar
Florian Cramer
cantsin at zedat.fu-berlin.de
Mon Aug 15 19:39:11 CEST 2005
Am Montag, 15. August 2005 um 16:26:14 Uhr (+0200) schrieb Till Nikolaus von Heiseler:
> Juristisch stellt sich die Frage, ob ein Link auf eine DEUTSCHE Seite,
> die das Urheberrecht verletzt, strafbar ist
Ja, ist es, nach der derzeitigen Rechtssprechung. Wo der Server steht,
ist irrelevant, da die Gerichte in einer Verlinkung eine
"Bereitstellung" eines Werks sehen.
> oder ob die betreffende
> Person sich nicht direkt an den Seitenbetreiber hätte wenden müssen.
Das kann sie unabhängig davon auch tun.
> Darüber hinaus hat mich Herr Bittermann auch nie gebeten,
> den Link von der Seite zu nehmen.
Es wäre interessant, den vollständigen Wortlaut der Korrespondenz zu
lesen, zumindest Eurer Briefe, da die ungenehmigte Veröffentlichung von
Bittermanns Briefen ein Verstoß gegen Urheberrechts- und
Datenschutzgesetze sein könnte.
> Was mich immer ein wenig enttäuscht ist, dass Diskurse - wie
> eigentlich auch in den Massenmedien - hier auf der Liste immer
> einer Spannung und Dramaturgie bedürfen. Braucht es tatsächlich
> das reality-Schmierentheater mit Darstellern wie Bittermann,
> damit man über wichtige Fragen diskutiert?
Das finde ich einen etwas seltsamen Einwand, denn Du hättest die
Diskussion hier ja schon jederzeit starten könne.
> Natürlich ist es absurd, 50.000 Euro als Streitwert anzusetzen.
> Denn wenn der Verlag das Buch für 20 Euro verkauft, 7 die
> Buchhandlung bekommt, 5 die Herstellung und 3 der Vertrieb
> kostet, dann bleiben 5 Euro Gewinn. Das würde heißen, dass
> die Umsatzeinbuße von 50.000 Euro 10.000 verkauften
> Exemplaren WENIGER entspräche und das in drei Monaten,
> d.h. dass der Umsatz im monatlichen Durchschnitt um 3.000 Exemplare,
> wegen der Verbreitung im Internet ZURÜCKGEGANGEN sein müsste.
> Das müsste also in der Bilanz zu sehen sein.
Wahrscheinlich sind wir in dieser Mailingliste bei solchen Details
überfragt. Falls hier Profi-Juristen mitlesen, dürfen sie meines Wissens
keine Rechtsauskunft erteilen. Der common sense muß sich nicht
unbedingt mit der juristischen Auffassung von entstandenem Schaden
decken, und solche Spekulationen helfen nicht weiter.
Hier hilft Euch nur eines weiter, ein guter Anwalt. (Vielleicht Thomas
Stadler, der Alvar Freude vor Gericht vertreten und in zweiter Instanz
zum Freispruch verholfen hat? Oder Till Kreuzer vom Institut für
Rechtsfragen von Freier und Open Source-Software?) Ich würde mich mit
solchen Äußerungen und Spekulationen zurückhalten, weil man Euch dafür
vor Gericht eventuell einen Strick draus drehen kann. Mit Eurer
Argumentation, es habe sich nur um eine Bereitstellung eines Texts für
ein akademisches Seminar gehandelt, habt Ihr Euch ja schon juristisch
ins Knie geschossen, da in dem Anwaltsschreiben steht:
| Trotz dieser Abmahnung, die letztendlich die Beendigung der Störung
| beinhaltete, widersetzte sich der Antragsgegner dem Anliegen des
| Antragstellers mit dem Hinweis, dass es sich um ein "akademisches
| Seminar" handele und dass es üblich sei, auf diesem Weg Texte
| Studenten zugänglich zu machen. Damit räumte der Antragsgegner ein,
| dass es ihm um die Verbreitung des streitgegenständlichen Buchtextes
| geht.
Bitte vergesst über Eurem politischen und philosophischen
Grundsatzanliegen Eure praktische Intelligenz nicht! Und beherzigt die
alte Demonstranten-Weisheit, daß man auf der Strasse zwar alles mögliche
veranstalten kann, aber dumm ist, wenn man sich sehenden Auges
festnehmen und einfahren läßt, zumal man zu Fuß immer schneller ist als
der Polizist in Kampfmontur! Also: Paßt auf, daß Ihr Bittermanns Anwalt
nicht noch mehr Munition gegen Euch frei Haus liefert. Holt Euch bitte
unbedingt anwaltlichen Rat.
> Die Konsequenz für Microsoft und Co. ist, dass sie dort, wo kein Geld
> vorhanden ist, gar nicht erst versuchen, auf Copyright zu setzen,
Das mag ja alles stimmen, hilft Euch aber keinen Jota weiter. Die
Rechtslage gibt es nun einmal nicht her. Es gibt ja auch Verleger
der "Socièté du spectacle" wie z.B. Zone Books in den USA, die gegen
freie Online-Versionen nichts unternehmen, weil sie es aus Goodwill
zu tolerieren scheinen. Wenn Bittermann diesen Goodwill nicht aufbietet,
so ist dies nun einmal - formal gesehen - sein gutes, einklagbares
Recht.
> sondern im Gegenteil versuchen, hier eine Markpräsens auf anderen
> Wegen zu erlangen. Dabei geht es dann eher darum, diese
> Nicht-Markt-Marktpräsenz vom Markt abzugrenzen.
Du argumentierst ökonomisch, nicht juristisch. Das alles ist
für einen Richter irrelevant, und Bittermann braucht es deshalb auch
nicht zu kümmern.
> Von daher sind die Schadensrechnungen der Unterhaltungs- und
> Softwareindustrie Milchmädchenrechnungen. Die digitale Ökonomie
> ist etwas vollkommen anderes, weil das Teilen hier nicht dazu führt,
> dass weniger vorhanden ist und damit das Kopieren nicht mit
> Gelddrucken zu vergleichen ist.
Das wissen wir ja alle und bestreitet auch niemand. Doch die Chancen,
daß Du vor einem netzkulturell und medientheoretisch versierten Richter
stehen wirst, sind nahe Null.
> Geld als Äquivalent des Schuldscheins ist ein sinnvolles Medium
> zur Verrechung von „geronnener Arbeit“ und „knappen Gütern“.
> Geld kann digitale Ökonomie nicht 1 zu 1 repräsentieren,
> deshalb dot.com Hype & Crash.
Ja, auch das ist keine neue Erkenntnis, sondern von Rishab Ghosh in
seinem Aufsatz über "cooking pot markets" von 1999 gut beschrieben.
> Dies hatte ich auch als Thema für die nächste WOS vorgeschlagen,
> denn es kann nicht mehr darum gehen, sich Pinguine wie
> Coca-Cola-Werbung aufs T-Shirt zu heften und sich von
> aalglatten Typen wie Lessig (Creative Commons) vorführen
> zu lassen, wie man aus scheußlichen massenmedialen Produkten
> andere genauso scheußliche massenmedialkompatible Produkte
> machen kann,
Völlig einverstanden. Man muß sich ja vergegenwärtigen, daß auch in der
Freien Software-Szene das Copyleft nur als Behelfswerkzeug angesehen
wird, um eigene Ideen und Ideale unter widrigen rechtlich-politischen
Grundbedingungen so gut zu verwirklichen, wie es eben geht. Man müßte
sich endlich darüber unterhalten, wie man an diesen Bedingungen nicht
nur defensiv (z.B. im Aktivismus gegen Softwarepatente), sondern auch
offensiv arbeiten kann.
> Wie könnte eine derartige „Ökonomie nicht-knapper Güter“ aussehen?
Eine reine Geschenkökonomie, in der es alle nicht-knappen Güter
automatisch in der public domain landen, kann es meiner (heutigen)
Auffassung nach nicht sein. Hätten wir ein solches System, könnte zum
Beispiel freie, im Quellcode vorliegende Software nach Belieben in
proprietäre Binärsoftware eingebaut werden. Software-Monopolisten und
Medienkonzerne könnten sich überall bedienen, hätten aber immer noch
ausreichend technische Möglichkeiten [z.B. durch Binärkompilate und
DRM-/kopiergeschützte Medien], die Kontrolle über ihre aus freien Werken
abgeleiteten Produkte zu behalten. Das beste heutige Beispiel einer
solchen Umwandlung freier Arbeit in ein proprietäres Designerprodukt ist
ja Apples MacOS X in seiner Umwidmung von freiem BSD-Code. Einer reinen
"public domain" fehlt die Verpflichtung zur Rückgabe von freier Arbeit
und das Element der gesellschaftlichen Verpflichtung von Eigentum. Es
wäre naiv zu glauben, daß sich dies durch eine "unsichtbare Hand" des
Tauschmarktes selbst regeln würde.
> Könnte es künstlerische Produktionsweisen geben, die Modellcharakter
> haben könnten?
Das ist ja die Enttäuschung der Netzkunst. In den 90er Jahren ist sie,
im Verbund mit dem Schlagwort "Netzkultur", genau mit diesem
Modell-Anspruch angetreten und weitgehend gescheitert. Letztlich kamen
die wichtigen netzkulturellen Impulse, von der Urheberrechtsdebatte bis
zu Techniken wie Weblogs und Wikis, aus der Freien Software-Szene und
nicht von Künstlern und Medienkritikern.
> Könnten neue (experimentelle?) Formate in der Wissenschaft,
> in der Kunst, vielleicht sogar in den Massenmedien (oder einem Bereich
> einer neuen medialen Öffentlichkeit, die zwischen Massenmedien und
> Individual-Diskurs anzusiedeln ist) und neue Formate der PRODUKTION
> entstehen, die in praktischer Weise die „Ökonomie nicht-knapper Güter“
> erproben?
An den staatlichen Universitäten wird das immer schwerer, weil dort vor
lauter Druck, Forschung DFG-antragskompatibel zu betreiben und das
Studium in eine Berufsausbildung umzustrukturieren, jeder nur noch
versucht, bestehende Freiräume zu retten.
-F
--
http://cramer.netzliteratur.net