[rohrpost] "the scene"

Tilman Baumgärtel mail at tilmanbaumgaertel.net
Die Aug 23 06:26:01 CEST 2005


Ich bin erst relativ spät auf "The Scene" aufmerksam geworden, aber jetzt 
interessiert es mich um so mehr. Darum hier ein Text über diese Serie, der 
letzte Woche leicht gekürzt in der taz erschienen ist, und ein Link zu 
einem Interview, dass ich für die Telepolis gemacht habe, als Hinweis für 
alle anderen Späteinsteiger...

Gruesse,
Tilman



"Wir wollten etwas machen, das nur im Netz funktioniert"
Telepolis, 08.08.2005
Interview mit Mitchell Reichgut, dem Drehbuch-Autor von "The Scene", ein 
Videoprogramm für die Filesharer-Szene
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/20/20653/1.html

Als die Bilder fließen lernten
Die Internetfilmserie "The Scene" handelt von den Abenteuern einer Gruppe 
von Hackern. Dabei ist sie nicht nur radikal in der Wahl ihrer 
erzählerischen und visuellen Mittel - auch der Vertrieb passt zur Serie. 
Man bekommt sie über Tauschbörsen im Netz
taz, 19.8.2005
http://www.taz.de/pt/2005/08/19/a0139.nf/textdruck


Als die Bilder fließen lernten

Tilman Baumgärtel


Wir sehen auf den Computermonitor von Brian Sandro. Der New Yorker Student 
sitzt am Rechner, und tut, was die meisten Computerarbeiter an ihrem 
Rechner tun. Er schreibt E-Mails, surft durchs Internet und chattet mit 
seinen Bekannten. Wir sehen, wie er Programme startet und auf Websites 
klickt. Bildschirm-Fenster öffnen und schließen sich auf dem Windows XP 
Desktop, Buchstaben scrollen über den Bildschirm, und Sandro tippt und 
tippt und tippt. In einem Webcam-Fenster sehen wir ihn mit versteinertem 
Gesichtausdruck am Rechner sitzen und gebannt auf den Monitor starren.

Auf den Computermonitor glotzen, auf dem jemand vor sich hin arbeitet? Das 
klingt ungefähr so aufregend wie Wandfarbe beim Trocknen zuzugucken. Doch 
Brian Sandro ist nicht irgendeine Computer-Drohne. Sandro gehört zu einer 
Hacker-Gruppe, die im Internet „w4r3z“ (sprich: wares) verbreiten: illegale 
Versionen von aktuellen Kinofilmen, die über Peer-2-Peer Netzwerke wie 
Kazaa oder Limewire in der ganzen Welt verbreitet werden.

Brian Sandro ist der Held einer neuen Serie namens "The Scene". Ihre bisher 
zehn Teile spielen sämtlich auf dem Computerbildschirm von Sandro und 
seiner Clique. Und sie sind auch nur auf dem Computermonitor zu sehen. Denn 
wie die Filme, die Sandros Gruppe raubkopiert, kursiert die Serie 
ausschließlich in den Tauschbörsen und P2P-Netzwerken des Internets.

Um in der „Scene“ der Raubkopierer und Filmpiraten Ansehen zu gewinnen, 
laden Sandro und seine Gang die neuesten Hollywood-Blockbuster ins Netz  am 
besten noch vor dem Kinostart in den USA. Um immer die aktuellsten Filme zu 
bekommen, pflegt Sandro seine Kontakte zu Angestellten in DVD-Presswerken 
und in der Filmindustrie. Hat er eine DVD mit einem neuen Film bekommen, 
organisiert er das „Rippen“ und die Veröffentlichung im Internet. Nebenher 
koordiniert er noch sein Liebesleben per Internet-Messenger.

Seine Helfershelfer, die die Pseudonyme Teflon, Trooper und c0da tragen, 
sind reine Internet-Bekanntschaften; er hat sie nie persönlich getroffen. 
Sie agieren nicht aus Profitgier. Ihnen geht es nicht ums Geld verdienen, 
sondern um Reputation in der "Scene". Und es ist erstaunlich und spannend, 
wie aus dem Getippe einer Handvoll "Screennames" in dieser Serie plötzlich 
einzelne Charaktere entstehen und wie sich zwischen ihnen dramatische 
Konflikte entwickeln.

Die Filesharing-Börsen, die Sandro und Co in „The Scene“ bestücken, werden 
von der Musik- wie der Filmindustrie gerne als der Hauptgrund für ihre 
Umsatzeinbrüche in den letzten Jahren dargestellt. In Gerichtsverfahren und 
in Pressestatements haben Vertreter der Medienindustrie daher immer wieder 
den Eindruck erweckt, dass schon die reine Existenz von Tauschbörsen ein 
Verbrechen darstellt. Das ist nicht nur rechtlich zweifelhaft. Es hat vor 
allem die Industrie davon abgehalten, die Möglichkeiten dieses unglaublich 
effektiven, neuen Vertriebswegs zu nutzen. Nun ist es eine kleine 
amerikanische Webdesign-Firma namens Jun Group, die als erste versucht, ein 
Medienangebot zu machen, welches das Potential von P2P auslotet, indem sie 
"The Scene" ausschließlich online vertreibt. "Wir wollten das erste 
fortlaufende Videoprogramm machen, das sich speziell an Filesharer 
richtet", sagt Drehbuchautor Mitchell Reichgut. "Und wir wollten das 
offensiv und originell machen."

Finanziert wird die Serie durch Sponsoren, deren Produkte und Websites in 
die Handlung eingeflochten werden - das ist wenigstens die Theorie. 
Tatsächlich hat eine Skateboard-Firma die ersten beiden Folgen finanziert, 
und Brian Sandro surft einmal kurz auf deren Websites vorbei. Angeblich 
soll danach der Server der Firma fast unter dem Ansturm der Surfer 
zusammengebrochen sein. Doch neue Sponsoren konnten seither nicht 
akquiriert werden, und daher produziert die Jun Group die Serie inzwischen 
auf eigene Kosten. Dabei wird sie nicht arm: Wegen der ungewöhnlichen 
Machart von "The Scene" kostet eine Folge lediglich auf 600 Dollar.

Die Macher schätzen, dass bisher mehrere hunderttausend User in der ganzen 
Welt die Low-Budget-Produktion heruntergeladen haben - genaue Zahlen sind 
wegen der dezentralen Struktur von Filesharing-Netzwerken nicht zu 
bekommen. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass ein 20-minütiges Video, das so 
billig war, dass es jeder Filmstudent von seinem Ersparten bezahlen könnte, 
ein erstaunlich großes, internationales Publikum erreicht hat - und das 
ohne irgendwelche Werbung oder Berichterstattung jenseits der Nischenmedien 
der Scene.

"Wir sehen Filesharing als ein neues und sich blitzschnell entwickelndes 
Massenmedium", schreiben die Macher von "The Scene" auf ihrer Website, "und 
wir glauben, dass man mit Sponsoren ein Finanzierungsmodell entwickeln 
kann, von dem alle etwas haben. Die Produzenten werden vorab bezahlt. Die 
Sponsoren erreichen ihre Zielgruppe. Und die Konsumenten können ein 
Programm herunterladen, und weiterverbreiten, ohne sich strafbar zu 
machen." Die Sendung steht unter dem "Creative Commons Copyright 
Agreement", das der amerikanische Jura-Professor Lawrence Lessig für 
digitale Inhalte entwickelt hat. Das besagt, dass jeder ein geschütztes 
Werk kopieren und weiterverbreiten kann, so lange er damit keinen Profit macht.

Obwohl "The Scene" mit klar werblichen Ambitionen gemacht wurde, ist die 
Serie nicht nur sehr unterhaltsam, sondern auch formal radikal. Es hat 
etwas sehr verwirrendes, wenn auf dem eigenen Desktop ein Video läuft, das 
die Vorgänge auf einem anderen Desktop zeigt. Auf der Kinoleinwand könnte 
man diesen Effekt kaum wiederholen, und auf dem Fernsehmonitor kann man 
schlicht nicht die kleinen Buchstaben lesen, mit denen Sandro chattet und 
mailt. Die Serie ist darum im besten Sinne medial selbst-referentiell. "Wir 
wollten dem Zuschauer das Gefühl vermitteln, dass sie die ´Scene´ wirklich 
selbst miterleben", sagt Drehbuchschreiber Reichgut. "Und wir wollten etwas 
machen, das ganz auf den Computer zugeschnitten ist. Uns ist aufgefallen, 
dass der meisten Sachen im Netz ursprünglich für ein anderes Medium gedacht 
war. Wir wollten etwas machen, das ganz für das Internet gemacht ist."

So ist den Machern von "The Scene" nicht nur ein einzigartiges Stück 
Desktop-Experimental-Film gelungen. Nebenbei haben sie auch eins der 
lebendigsten Stücke Entertainment geschaffen, das von den neuen Medien 
handelt, die zur Zeit unser Leben verändern.

"The Scene" wirkt wie eine Antwort auf die "Matrix"-Triologie. Die 
"Matrix"-Filme kleideten die globalisierte Informationsgesellschaft mit 
viel Hollywood-Pomp in allegorische Bilder. Ihre Helden waren Hacker, die 
im Cyberspace kämpften. Das war ein potentiell interessantes Projekt. 
Leider entglitt es den regieführenden Brüdern Wachowski nach dem ersten 
Teil, und degenerierte in den Fortsetzungen zu einer bedeutungsschwangeren, 
überambitionierten Baller- und Prügelorgie.

"The Scene" zeigt dagegen ein unaufgeregtes und verblüffend alltägliches 
Bild von Verbrechen und Fehden in der Matrix. In New York sitzt ein Student 
an seinem Computer, und "rippt" neue Kinofilme. Innerhalb einer einzigen 
Nacht verbreiten sich diese Film im Netz. Wenige Stunden später haben nicht 
nur Filesharer in der ganzen Welt diese Filme auf der Festplatte. 
Film-Piraten in China und Malaysia veröffentlichen sie wieder auf DVDs, die 
in kürzester Zeit in halb Asien für weniger als einen Dollar auf dem 
Schwarzmarkt verkauft werden.

Studenten und südostasiatische Kleinkriminelle an ihren Rechnern mit 
DSL-Anschluss: Das sind die Figuren, die die amerikanischen 
Hollywood-Studios und die Software-Konzerne zur Zeit um ihre Renditen 
bangen lassen. So zeichnet "The Scene" ein eindrückliches Bild von einer 
neuen Weltordnung, in der der ungehemmte Fluss der Daten den ökonomischen 
Status Quo unterminiert.

Filesharing wird zwar das Wohlstandsgefälle zwischen erster und dritter 
Welt vorerst nicht wirklich erschüttern - so sehr die Justiziare und 
Lobbyisten von Microsoft oder der Motion Picture Association of America 
(MPAA) auch über die Datenpiraten in China die Hände ringen mögen. Aber es 
hat auf jeden Fall eine Prozess in Gang gesetzt, den viele Intellektuelle 
in der Dritten Welt als "redistribution of wealth" interpretieren.

Dieser Prozess wird in "The Scene" vorgeführt, kommentiert wird er nicht. 
An keiner Stelle reflektieren die Protagonisten ihr Tun. Würde man sie 
fragen, würden sie wahrscheinlich das viel zitierte 
Hacker-Glaubensbekenntnis bemühen: "Information wants to be free." Doch 
eigentlich geht es ihnen vor allem darum, in der Scene durch Zugang zu den 
neuesten Filmen Ansehen zu erringen. Dass sie so eine Dynamik in Gang 
setzen, die in den Chefetagen der Medienindustrie für Existenzängste sorgt, 
ist für sie allenfalls ein Nebenprodukt ihrer Aktivitäten.

Die Produzenten der Serie bemühen sich um Neutralität: "Die Show soll 
Piraterie nicht verdammen", sagt Reichgut. "Das heißt aber nicht, dass wir 
sie unterstützen. Die Serie ist reine Fiktion, und sie soll einen Teil 
unserer Gesellschaft auf authentische Art und Weise darstellen. Es geht 
nicht darum, ein Urteil zu fällen, ob das, was die Figuren machen, richtig 
oder falsch ist."

In der "Scene" wird die Serie kritisch beurteilt. Viele halten sie für eine 
Propaganda-Maßnahme, die heimlich von Unterhaltungskonzernen wie Sony 
finanziert wird. Eine Hackergruppe hat sogar schon eine eigene Parodie 
gemacht, die ebenfalls umsonst im Internet verbreitet wird: "Teh scene", 
ganz offensichtlich eine Videoamateur-Produktion voller unglaublich 
schlichtem und unglaublich komischem Pennälerhumor. Auch hier versucht eine 
Hackergruppe, Spielfilme im Netz zu verbreiten, stellt sich dabei aber so 
dumm wie möglich an.

Zusammen demonstrieren "The Scene" und "Teh Scene", was mit den Mitteln, 
die Heimcomputer und Internet ihren Usern zur Verfügung stellen, inzwischen 
möglich ist. Es ist aufregender und unterhaltsamer als vieles, was von der 
internationalen Unterhaltungsindustrie produziert wird. Und es handelt von 
der Umorganisation einer Wirtschafts- und Wissensordnung unter den 
Bedingungen einer digitalen Ökonomie. Das traditionelle Erzählkino hat für 
diese Dynamik der Informationsgesellschaft noch keine Bilder gefunden.

Ende des 19. Jahrhundert sendeten die Gebrüder Lumière, die Erfinder der 
ersten Filmkamera, ihre Kameramänner um die ganze Welt. Sie filmten in 
Ländern, die damals von Europa noch unerreichbar weit weg schienen: Indien, 
China, die USA, Brasilien. DieseKamermänner führten ihre Filme aus der 
ganzen Welt auf ihren Reisen auch vor. Sobald die Bilder laufen gelernt 
hatten, begannen sie auch, rund um den Globus zu kursieren.

Durch das Internet und durch Filesharing haben die Bilder jetzt das Fließen 
gelernt - das Fließen durch unkontrollierbare Datennetze rund um die 
vernetzte Welt. Und davor fürchtet sich die Unterhaltungsindustrie 
wahrscheinlich zu recht.

-------------------------------------
The scene
www.welcometothescene.com
Teh scene
www.welcometotehscene.com