[rohrpost] Flashback: reboot

Till Nikolaus von Heiseler Till_N_v_Heiseler at web.de
Don Feb 10 18:05:58 CET 2005


Keiner kritischer Text: 


Das Überhörte 
oder Die künstlerischen Operationen als Epistemologie


I.
Das Überhörte, so meint man, ist das, was keine Repräsentation hat, 
das deleuzianische Minoritäre, das, was gesellschaftlich abgewertet 
oder gar nicht erst in Betracht gezogen wird. Aus einer kritischen 
Position heraus, so meint man, kann eine Umwertung stattfinden und 
ein Podium für diejenigen geschaffen werden, die sonst nicht vorkommen. 

Dies ist aber nur eine Möglichkeit, dem Überhörten Gehör zu verschaffen 
und nicht alles, was überhört und übersehen wird, kommt auf diese 
Weise in den Blick; denn auf dem „Podium für das Minoritäre“ kann nur 
das erscheinen, was eine Kategorie bildet. Das, wofür man keinen Begriff 
hat, kann man nicht sehen; denn auch das „kritische Denken“ kann nur in 
und mit repräsentierenden Begriffen arbeiten. Zwar bildet kritisches Denken 
seine eigenen Formen der Repräsentation aus, indem es eine Vorstellung 
vom dem entwickelt, was gesellschaftlich nicht präsentiert wird, aber 
repräsentiert werden sollte, dennoch kann es seine eigene Blindheit, die 
in seiner Begrifflichkeit liegt, nicht überwinden. 

Wie aber wäre es möglich, gegen die eigene Kritik kritisch zu sein und 
gegen das eigene Denken anzudenken? Gelangen wir hier nicht in eine 
Paradoxie? Können wir diese Paradoxie in einer Praxis entfalten und damit 
aus der Aporie heraustreten, die auf der Ebene kultureller Semantik besteht? 
Oder anders: Kann diese Paradoxie, (die in der Negativen Dialektik Adornos 
oder in der Dekonstruktion Derridas zum Ausdruck kommt) operativ entfaltet 
und zu einer Praxis werden? Wäre es abgesehen vom Schaffen eines Podiums 
für das gesellschaftlich Überhörte möglich, die Kontingenz herauszufordern 
und die Diskontinuität des Werdens selbst sprechen zu lassen? Würde es dann 
- um das gesellschaftlich Überhörte hörbar zu machen - nicht eher Methoden 
bedürfen, als Parteinahme für diese oder jene Minorität? Träfen sich hier nicht 
möglicherweise epistemologische Überlegungen, archäologisches Vorgehen 
(im Sinne Foucaults) und politische Arbeit? 


II.
Ein freier Radiosender, eine Internetseite oder eine Zeitung beispielsweise, 
die bestehenden politischen Gruppen und emanzipatorischen Bewegungen 
ein Podium bieten, sind von kaum zu überschätzendem Wert. Das aber, was 
noch nicht zu einer sozialen Bewegung geworden ist, das, was noch nicht 
zum Begriff erstarrt ist, das, was mit Kategorien noch nicht fassbar ist und 
niemals fassbar sein wird, bleibt auch hier ohne Anerkennung und kann 
sich in derartigen Zusammenhängen nicht repräsentieren. 


III.
Das Majoritäre entspricht dem Respekt, dessen andere Seite immer die 
Verachtung darstellt. Es ist nicht das, was besonders häufig vorkommt, d.h. 
„Minorität“ und „Majorität“ sind nicht quantitativ einander entgegengesetzt.
„Mehrheit“ sagt Deleuze, „impliziert eine ideale Konstante, ein Standardmaß 
(...) Nehmen wir an, die Konstante oder das Maß sei: weiß - westlich - männlich 
- erwachsen - vernünftig - heterosexuell - Stadtbewohner - Sprecher einer 
Standadtsprache.“ Er fügt hinzu „Offensichtlich hat der ’Mensch’ die Majorität, 
auch wenn er weniger zahlreich ist als Kinder, Frauen, Schwarze, Bauern, 
Homosexuelle.“ Das ist etwas dunkel ausgedrückt. „Mensch“ kommt in der 
Konstruktion zweimal vor: Einmal implizit als „alle Menschen“ und dann explizit 
als das, was alle Menschen vertritt. Hierarchie stützt sich immer auch darauf, 
dass ihre Spitze das Ganze repräsentiert. Hierarchie ist also eine Ordnungsform 
sinnhafter Ereignisse, die eine differenzlose Spitze, ein Oben voraussetzt, welches 
das Ganze repräsentiert. Obwohl es in der modernen heterogenen Gesellschaft 
keine Instanz mehr für die Repräsentation des Ganzen gibt (wie etwa in den 
stratifikatorischen Gesellschaften, in denen „Gesellschaft“ mit der Oberschicht 
gleichgesetzt wurde), entstehen unterschiedliche Repräsentationsstrategien in 
unterschiedlichen Bereichen: der Politik, der Wirtschaft, der Kunst, dem Recht, 
der Wissenschaft etc. Die gesamtgesellschaftliche Repräsentation „besorgt“ das 
Massenmediale, in dem einige wenige Personen und Ereignisse die Welt repräsentieren. 


IV.
Das Problem des Konzeptes Minorität und das auf diesem Konzept fußende 
Verständnis von Emanzipation besteht darin, dass man sich einbildet, das 
Nicht-Repräsentierte immer schon zu kennen. Man muss aber davon ausgehen, 
dass die Repräsentationsstrategien uns nicht äußerlich bleiben, sondern auch 
auf unsere Beobachtungen wirken. Es gilt also, dreierlei zu unterscheiden: Die 
Majorität (das, was das Ganze repräsentiert), die „anerkannte Minorität“ (das, 
was um seine Repräsentation kämpft) und das tatsächlich (auch von uns) 
Überhörte und Übersehene. 

Diejenigen, die an der Konzeption der Minorität festhalten, neigen immer etwas 
zum Sozialkitsch. Deleuze spricht beispielsweise davon, dass er „schöne Briefe 
erhalten [habe], die von einem Lumpenproletariat der Psychoanalyse stammen“ 
(Kleine Schriften, Berlin 1980, p.17). Hier vollzieht sich eine Form des Anti-Labelings, 
das immer noch Labeling bleibt. Das heißt nicht, dass Anti-Labeling gleichzusetzen 
wäre, mit dem Labeling des Mainstreams, heißt nicht, dass die politische Arbeit, in 
der neue Formen der Symbolisierung für Minoritäten und deren Anerkennung und 
Aufwertung gesucht werden, unwichtig wäre; aber es heißt, dass diese politische 
Arbeit auf einen Bereich baut, den sie selbst ausschließt, da die Kategoriebildung der 
jeweiligen Minorität (und die mit ihr verknüpfte Arbeit) ihre Voraussetzung bleibt. Wie 
aber kann das Nicht-Kategoriale in den Blick kommen? Müssen Kategorien in jedem Fall 
gebildet werden oder könnte auch das Nicht-Kategoriale hörbar und sichtbar gemacht 
werden? 

In der Konstruktion der deleuzianischen Majorität werden die anerkannten Minoritäten 
als unbezeichnetes Mitbezeichnetes hörbar. So gesehen verweist die Repräsentation: 
„weiß -  männlich - heterosexuell - westlich - erwachsen - vernünftig - Stadtbewohner - 
Sprecher einer Standardsprache“ auf unterschiedliche minoritäre Kategorien (schwarz, 
Frau, schwul etc.) und damit indirekt auf die entsprechenden Bewegungen, die die 
entsprechenden Kategorien gebildet haben. Was aber ist mit denjenigen, welche hier 
nicht nur semantisch ausgeschlossen wurden, sondern distinktionstheoretisch 
unbezeichnet bleiben? 


V.
Könnte im Unterschied zur rein politischen Arbeit, die immer nur auf bestehende 
Bewegungen bauen kann, wenn sie das Avantgardekonzept (also die Vorstellung, 
dass man für jemand anderen revolutionär werden kann {beispielsweise, dass 
„die Partei“ als Avantgarde das „Proletariat“ VERTRETEN kann}) verwirft, Methoden 
entwickeln, in denen das Unbezeichenbare positiv evident wird? Wäre es möglich, 
nicht gegen, aber jenseits der politischen Arbeit eine Aisthesis des noch nicht 
begrifflich und kategorial Fassbaren zu entwickeln? Könnte es eine künstlerische 
oder epistemologische Herausforderung sein, durch bestimmte operative und 
performative METHODEN das Überhörte und Übersehne hörbar und sichtbar 
zu machen? 

Die erste Konsequenz ist, dass von der Parteinahme für das, von dem wir DENKEN, 
es sei minoritär, umbauen müssen zu einer METHODE, mit deren Hilfe auch das 
erscheint, was nicht nur nicht gesellschaftlich, sondern auch in unserem Kopf nicht 
präsentiert ist (Wendung von der kulturellen Semantik hin zur Operativität bzw. 
Performativität). 

Die zweite Konsequenz ist, dass eine derartig Methode, die nie „objektiv“ sein 
kann, ihr Vorgehen explizieren und in einer Methodologie reflektieren und ausarbeiten 
würde (Prinzip der Reflexion und Transparenz). 

Die dritte Konsequenz ist, dass diese Methode sich in einem offenen diskursiven und 
kritischen Prozess entwickelt (Prinzip der Kollektivität).

Wie aber könnte diese Methode beschrieben und transparent gemacht werden? 
Bedingung wäre, dass die Methode sich zunächst von der Vorstellung des Ergebnisses 
abwendet und den konstruktiven und kreativen Prozess als eine Reihe von 
Unterscheidungen beschreibt, die zu Entscheidungen führen *. 



*In Bezug auf Audio und Video basiert die erste Entscheidung auf der Unterscheidung 
zwischen dem, was aufgenommen wird, und dem, was nicht aufgenommen wird. 
Aber auch diese Entscheidung kann aleatorisch getroffen werden. 

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