[rohrpost] lass uns lieber nicht ueber kunst reden

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Fre Feb 18 13:16:04 CET 2005


Am Freitag, 18. Februar 2005 um 12:31:17 Uhr (+0100) schrieb Stefan
Heidenreich:

> es ist eine immer wiederholte annahme, dass die medientheorie ihre 
> geschichte vergisst. ich sehe die lage etwas anders. sie vergisst die 
> gegenwart.

Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Gerade um zu beschreiben,
was das Andere, Neue, Gegenwärtige z.B. an Codework-Netzliteratur von
Künstlern wie mez ist, muß man ältere computationelle Poetiken von
Oulipo in den 60er Jahren bis hin zur Pegnitzschäfern im Barock und den
grand rhétoriqueurs im Mittelalter kennen, aber sich andererseits eben
auch mit Slang und der Codesprache von Hackern und Skript-Kiddies
auskennen.  Dies nur als ein Beispiel. Ich finde es grundsätzlich
legitim, wenn die universitäre Lehre es als ihre erste Aufgabe ansieht,
Leuten, die sehr wahrscheinlich mit Interesse und Detailkenntnissen der
gegenwärtigen Künste ihr Studium aufnehmen, historisches
Hintergrundwissen zu vermitteln. Zumindest war dies die relativierende
und sinnschärfende Funktion, die das geisteswissenschaftliche Studium
für mich gehabt hat.  Viele Aussagen über "das Neue" in der sog.
Medienkunst sind deshalb so naiv, weil sie ohne oder nur mit
oberflächlicher Kenntnis vermeintlich langweiliger bürgerlicher Kunst
von Stockhausen bis Oskar Pastior getroffen werden, von früheren
Jahrhunderten ganz zu schweigen. Ich sehe Universitäten in einer im
positiven Sinne konservativen Pflicht, dieses Wissen zu bewahren und
weiterzugeben.  Auf einem anderen Blatt, und da stimme ich Dir völlig
zu, steht die Forschung - sowie die Notwendigkeit, die Reflexion
historischen Wissens aus den Provokationen der Gegenwart abzuleiten.
Insofern erscheinen mir weder Deine, noch Claus' Position in einem
wirklichen Widerspruch zueinander zu stehen.


[Der Rest antwortet weniger auf Dich, als allgemein auf die
Kunst-Debatte in der rohrpost:]

Auf Bildungsbürgerlichkeit zu schimpfen, wie es hier in der rohrpost
gerade Mode ist, finde ich billiges, abgestandenes Pop-Spießertum.
Diese Haltung war vor ein paar Jahrzehnte vielleicht noch provokativ und
ist ja von Protagonisten der sog. bürgerlichen Kultur wie Boulez, der
die Sprengung von Opernhäusern forderte, selbst zelebriert worden. Heute
artikulieren sich darin, ob gewollt oder nicht, die Hilfs-Abrißtruppen
dessen, was Matthias sozialdemokratischen Neoliberalismus nennt, ein
hemdsärmeliger sozialökonomischer Utilitarismus, der gerade die
universitäre Bildung im sogenannten Bologna-Prozeß zugrunderichtet, und
übrigens auch Popkultur als Repräsentationskultur des Mittelmaßes wie
von Tony Blair, Britpop und "Cool Britannia" schon vor Jahren
vorexerziert.

-F

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