[rohrpost] Irational's Finest (The Hartware Guide to irational,
Dez. 2006)
Inke Arns
inke.arns at snafu.de
Mon Nov 6 20:17:59 CET 2006
Der untenstehende Text erscheint in "The Hartware
Guide to irational", hg. v. Susanne Ackers, Inke
Arns, Francis Hunger, Jacob Lillemose (Frankfurt
am Main: Revolver - Archiv fuer aktuelle Kunst
2006, ISBN: 3-86588-299-4 [Deutsch/Englisch]).
Das Buch kann ab Anfang Dezember 2006 ueber
www.hmkv.de und www.revolver-books.de bestellt
werden und enthaelt Beitraege von Matthew Fuller,
Jacob Lillemose, Inke Arns, Francis Hunger,
Susanne Ackers und Darija Simunovic.
* * *
Irational's Finest, oder: Ueber die Kunst der Bewegung im Raum
Inke Arns
Fast taeglich lesen wir Meldungen ueber den Anbau
von Genmais, der jahrelang versteckt gehalten
wurde, ueber Fluessigsprengstoff in Flugzeugen
und Bombenkoffer in Zuegen, ueber Forderungen
nach flaechendeckender Videoueberwachung, wir
verfolgen die globale Ausbreitung der Vogelgrippe
und fragen uns, wann sie denn unser Land
erreicht, wir begreifen die inzwischen spuerbaren
Auswirkungen von Hartz IV, sehen die Folgen des
Klimawandels und koennen uns des Eindrucks nicht
erwehren: Das Leben ist haerter geworden.
Irational, gegruendet 1996 in Grossbritannien,
einem ueber Jahre von Maggie Thatcher regierten
Land, wusste dies schon vor zehn Jahren.
Treffsicher werden seit 1996 Themen formuliert
und eigensinnige Loesungsvorschlaege gemacht, die
nun erstmals umfassend in der Ausstellung The
Wonderful World of irational.org zu sehen sind.
So treten z.B. Firmen auf, die - wie Technologies
to the People - den Zugang zu neuen Technologien
als ein Menschenrecht definiert wissen wollen
sowie Unternehmen, die fuer ein “besseres Leben"
(Mejor Vida Corporation) mit einem “menschlichen
Interface" plaedieren. Neben Mailinglisten wie
American Express und 7-11 agiert die Agentur fuer
kulturellen Terrorismus, die aktuelle Formen
performativer Ideologie und Rhetorik
unterwandert, indem sie einen neuen Londoner
Bezirk gruendet und dann einen Wahlkampf in
diesem inszeniert oder ein “genetisch
modifiziertes antikapitalistisches Unkraut"
vertreibt, dem eine Resistenz gegen
Unkrautvernichtungsmittel von Monsanto
angezuechtet wurde und das so den profitablen
Einsatz genmanipulierter Getreidearten bedroht.
Neben der Kritik des leichtfertigen Umgangs mit
gentechnisch veraenderten Organismen denkt
irational ausserdem ueber konkrete
Verhaltensmassnahmen im Falle einer globalen
Grippe-Pandemie nach. Zunehmend prekaeren
Arbeitsverhaeltnissen (die jedoch vor sieben
Jahren noch nicht mit einem heute fast modischen
Schlagwort bezeichnet wurden) wird mit Slogans
wie “Zeitarbeiter aller Welt vereinigt Euch -
Turning Shit into Gold" oder Loesungsvorschlaegen
zur kostenlosen Nutzung oeffentlicher
Verkehrsmittel und der flaechendeckenden
Ausstellung von Studentenausweisen begegnet.
Ueberhaupt, Reisen: Mitglieder von irational
ueberwinden Zaeune und Mauern mit einfachsten
Hilfsmitteln (z.B. selbstgeknuepfte Netze) und
Klettertechniken und ueberqueren internationale
Grenzen unter Umgehung offizieller
Grenzkontrollen. Immer geht es darum, den Raum
neu zu erfahren, z.B. im spielerischen
gemeinsamen Auf-Baeume-Klettern waehrend des
jaehrlichen, unter dem Motto “Liberate the
Horizontal!" stattfindenden International Tree
Climbing Day, oder der Weltmeisterschaft im
Abfahrts-Skateboarding mit drei Teilnehmern im
britischen Bristol.
Irational als Reiseunternehmen der anderen Art
hat nicht zuletzt deshalb das Logo der
International Air Transport Association IATA (1)
(gegruendet 1945 in Havana) uebernommen: ein
stilisierter gefluegelter Globus, der globale
Kommunikation und globalen Verkehr symbolisiert.
Mit dem Zusatz “irational" wird daraus ein
Qualitaetssiegel fuer eine Kunst der besonderen
Bewegung im Raum.
Irational ist eine lose Gruppierung von sechs
internationalen Netz- und MedienkuenstlerInnen,
die sich um den 1996 von dem britischen
Netzkuenstler Heath Bunting gegruendeten Server
irational.org zusammengefunden haben und die
fruehe Netzkunst Mitte der 1990er Jahre
entscheidend mitgepraegt haben: Daniel Garcia
Andújar/Technologies to the People (Valencia/E),
Rachel Baker (London/GB), Kayle Brandon
(Bristol/GB), Heath Bunting (Bristol/GB), Minerva
Cuevas/Mejor Vida Corporation (Mexico City/MEX)
und Marcus Valentine (Bristol/GB).
Mit trockenem Humor und minimaler Aesthetik
kommentierte irational den sich ab Mitte der
1990er Jahre entwickelnden Internet-Hype und
konkurrierte mit der ab 1996/1997 hochschlagenden
Kommerzialisierungs-Euphorie des Neuen Marktes
durch die Entwicklung eigener Pseudo-Firmen.
Kunst war im Netz unmittelbar, ohne den Bedarf
und die Sicherheit eines Vermittlungsraumes bzw.
einer Vermittlungsinstanz. Daher geriet irational
in dieser Zeit auch oefters an humorlose
Markenrechts-Anwaelte, die irational den Gebrauch
von Firmennamen wie 7-11, American Express,
Sainsburys und Tesco untersagen wollten. Diese
Auseinandersetzungen, die in der Ausstellung
ausfuehrlich dokumentiert werden, waren nur ein
Vorspiel dessen, was sich heute im Rahmen von
Urheberrecht, geistigem Eigentum, Copyright und
Markenschutz abspielt (vgl. dazu nur die
Auseinandersetzungen um die Marke FIFA WMTM im
Jahr 2006). Heath Bunting ging 1997 weltweit als
erster Netzkuenstler in den “Ruhestand". Er
beendete seine ausschliessliche Arbeit im Netz
und wandte sich nun wieder verstaerkt der Arbeit
im oeffentlichen Raum zu, zu dessen wichtigem
Bestandteil das Internet ja heute geworden ist.
Haben sich die Aktivitaeten von irational in der
’Netzphase' der Hinterfragung virtueller Grenzen
gewidmet, so experimentieren die Mitglieder von
irational heute mit der Befragung und
Ueberwindung realraeumlicher - oekonomischer,
politischer, sozialer - Grenzziehungen und
schaffen mitunter recht unterhaltsame Abhilfe.
Die zehnjaehrige Arbeit von irational 1996-2006
deckt eine weites Spektrum von heute sehr
aktuellen und relevanten
gesellschaftlich-politischen Themen ab: Bereits
frueh verhandelte die Gruppe Themen wie das
wachsende Gefuehl von Un/sicherheit, das sich in
einer zunehmend auf Technologie basierenden Welt
ausbreitet, Fragen von Ueberwachung und
Datenerhebung (irational bedient sich hierbei
z.B. ’irationaler' Frageboegen und setzt
Kundenkarten von Unternehmen zweckentfremdet
ein), Branding und Markenrechtsschutz, prekaere
Arbeitsverhaeltnisse sowie DIY-Kulturen, -Medien
und -Oekonomien. Mit der Verlagerung des
Arbeitsschwerpunktes vom Netz in den Raum steht
die Arbeit von irational ausserdem zu einem
fruehen Zeitpunkt singulaer und paradigmatisch
fuer das, was heute in der Medienkunst zu
beobachten ist: Es geht zunehmend weniger um die
Medien und Technologien selbst, als vielmehr um
ein gesteigertes Interesse an gegenwaertigen
Raeumen, die auf komplexe Art und Weise ueber
diese Technologien miteinander verlinkt sind und
von medialen Netzen durchzogen werden.
Die Verknuepfung dieser Ausstellung mit dem
zehnjaehrigen Jubilaeum des Hartware
MedienKunstVereins basiert jedoch nicht nur auf
der magischen Zahl Zehn. Vielmehr ergibt sie sich
aus der Rolle, die Hartware und die Stadt
Dortmund fuer die heutige Zusammensetzung von
irational gespielt hat (nichts weniger als das!).
1996 verbrachte Daniel G. Andújar, ausgestattet
mit einem Stipendium, ein halbes Jahr im
Kuenstlerhaus Dortmund. Dort lernte er Iris
Dressler und Hans Christ kennen und kooperierte
seitdem wiederholt intensiv mit Hartware.
Ebenfalls 1996 nahm Daniel G. Andújar an einer
Austellung in Hamburg teil - un-frieden. sabotage
von wirklichkeiten (2) - waehrend der er Heath
Bunting kennen lernte, ebenfalls ein Teilnehmer
dieser Ausstellung (3). Im selben Jahr wurden
sowohl irational als auch der Hartware Projekte
e.V. gegruendet.
Den vier am Projekt The Wonderful World of
irational.org Beteiligten - den Initiatoren
Susanne Ackers, Francis Hunger und mir sowie
Jacob Lillemose, der als Co-Kurator sehr schnell
mit ins Boot geholt wurde - war recht schnell
klar, dass wir angesichts der diversen
Aktivitaeten von irational verschiedene Formate
entwickeln mussten. Diese finden sich nun in Form
der von Jacob Lillemose und mir kuratierten
Ausstellung, dem von Francis Hunger kuratierten
irational Action Weekend Mitte September und der
vorliegenden Publikation The Hartware Guide to
irational.org wieder.
Zur Ausstellung: Wir haben uns bewusst dafuer
entschieden, mit dem Medium Ausstellung zu
arbeiten. Das mag redundant klingen - aber es ist
gar nicht so selbstverstaendlich, wenn man von
Netzkunst spricht. In den letzten zehn Jahren ist
ausfuehrlich (jedoch bis heute nicht
abschliessend) darueber diskutiert worden, ob und
wie Netzkunst auszustellen ist. Man erinnere sich
nur an unglueckliche Buerosituationen wie die auf
der documenta X (1997) oder an die Inszenierung
von Internetcafé-Settings wie z.B. in der
Ausstellung net_condition am ZKM (2000/2001).
Irational selbst wurde kuerzlich von Sarah Cook
und Steve Dietz im kanadischen Banff als
riesiges, mit Kreide geschriebenes Wandschema
plus einem online-Computer ausgestellt. Im
Gegensatz zu diesen Ausstellungspraktiken haben
wir uns dafuer entschieden, die von uns
ausgewaehlten 54 Arbeiten von irational aus dem
Internet ’herauszuholen' und fuer jede dieser
Arbeiten im Dialog mit den KuenstlerInnen eine
kongeniale Umsetzung fuer den Ausstellungsraum
der PHOENIX Halle zu entwickeln. Fuer jedes
einzelne Konzept haben wir - teilweise
unabhaengig vom urspruenglich benutzten Medium,
z.B. dem Internet - eine im Medium der
Ausstellung erfahrbare Umsetzung konzipiert.
Genau das koennte man dieser Ausstellung jedoch
auch vorwerfen: Naemlich dass sie die Netzkunst,
die immer stolz auf ihren direkten Bezug zum
Netz-Rezipienten war, in einen ’institutionellen'
Vermittlungsraum zurueckholt und sie damit -
indem sie sie eindeutig zu ’Kunst' erklaert, was
im Netz nie so klar war - eines Teils ihrer
vielfaeltigen Bedeutungen beraubt. Wir sind
jedoch der Meinung: Auch - und vielleicht gerade
- die Netzkunst braucht einen dezidierten Raum
der Vermittlung (ganz abgesehen davon dass Kunst
ohne Vermittlung eine Utopie ist). Netzkunst
haette ueber ihr Medium - naemlich das Internet -
ein potentiell globales und potentiell sehr
grosses Publikum erreichen koennen - was sie
nicht getan hat. Sie hat ein kleines
spezialisiertes Publikum erreicht und manchmal
auch nichts ahnende Internetnutzer irritiert. Wir
meinen, dass es zu schade waere, diese klugen
Projekte einfach dem Netz zu ueberlassen und
haben uns aus diesem Grund fuer diese Form der
Umsetzung entschieden.
Insofern geht es in dieser Ausstellung auch nicht
um Netzkunst. Man koennte weitergehen und
behaupten: irational selbst war nie Netzkunst.
Die Themen von irational reichen weit ueber die
Grenzen des jeweiligen Mediums hinaus. Es geht
durchweg um Projekte, die auf sehr kluge Art und
Weise ueber gegenwaertige Themen sprechen. Ob
diese nun im Netz oder offline verhandelt und
umgesetzt werden, ist zweitrangig. Insofern
versucht die Ausstellung, die konzeptuellen roten
Faeden von irational in etwas mehr als einem
halben Dutzend thematischer Bereiche zu buendeln:
Sprache als Eigentum, alternative Formen von
Oekonomien, Ueberwindung von Grenzen,
Hinterfragung von Sicherheitstechnologien und
Bio- und Gentechnologie, die Weitergabe von
Wissen in partizipativen Projekten sowie die
Ermoeglichung neuer Raumerfahrungen. Mehr noch:
In fast allen Projekten geht es um die Kunst der
Bewegung im (erweiterten) Raum. Und immer ging
und geht es darum, die Handlungsmoeglichkeiten
des Subjektes zu erweitern - im Sinne einer
Taktik der Ermaechtigung des/der Einzelnen.
Irational formuliert eine Politik und Poetik des
raeumlichen Ungehorsams. Darum: Reisen Sie mit
dem Unternehmen Ihres Vertrauens! Fly irational!
Fussnoten
(1) The International Air Transport Association, http://www.iata.de/
(2) un-frieden. sabotage von wirklichkeiten,
Kunstverein und Kunsthaus Hamburg, 1996,
kuratiert von Inke Arns und Ute Vorkoeper, vgl.
http://www.projects.v2.nl/~arns/Archiv/Discord/.
Vgl. zur Teilnahme von Technologies to the People
auch Inke Arns: Technologies to the People® - Our
Sponsor, or: How we got the attention of both
Apple (TM) and the left German art critique. In:
Technologies to the People®. Annual Report 2000
[d.i. Daniel Garcia Andujar], Alicante 2001,
http://www.projects.v2.nl/~arns/Texts/tp.html
(3) Heath Bunting nahm an dieser Ausstellung mit
dem Projekt Vunerability teil, das auch in The
Wonderful World of irational.org zu sehen ist.
--
Dr. Inke Arns
Künstlerische Leiterin / Artistic Director
Hartware MedienKunstVerein
Güntherstrasse 65 * D-44143 Dortmund
T ++49 (0) 231 - 823 106
F ++49 (0) 231 - 882 02 40
inke.arns at hmkv.de
www.inkearns.de
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