[rohrpost] So. 1.4. 20 Uhr: Happiness (Aleksandr Medvedkin) + The Last Bolshevik (Chris Marker)

pirate cinema berlin sebastian at rolux.org
Fre Mar 30 19:45:50 CEST 2007


                                                            Sunday, April 1, 8 pm
                                                             Pirate Cinema Berlin
                                                        Tucholskystr 6, 2nd floor

                                                                        Happiness
                                                              Aleksandr Medvedkin
                                                             1932, 64 min, 966 MB

                                                               The Last Bolshevik
                                                                     Chris Marker
                                                           1992, 116 min, 1.36 GB

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Das letzte Bild, um einmal ganz am Ende zu beginnen, von Chris Markers Film über
Medvedkin, bei dem es sich - wie wir bereits angemerkt hatten, als wir ihn, vor
mehr als zwei Jahren, siehe www.piratecinema.org/screenings/20041205, zum ersten
Mal gezeigt hatten - weniger um ein Portrait von Medvedkin als vielmehr um eine
mögliche Geschichte des 20. Jahrhunderts, erzählt als Geschichte des russischen
Kinos, handelt, ist vermutlich eins der überraschendsten letzten Bilder, die ein
Film überhaupt haben kann: nachdem Chris Marker nämlich, fast zwei Stunden lang,
den Erzählungen von Medvedkins Freunden und Kollegen gefolgt ist - den Berichten
der jüngeren von ihrer ersten Begegnung mit Medvedkins Film "Happiness" ("An der
Filmhochschule hatten wir nie von Medvedkin gehört, und 'Happiness' hatte nichts
mit unserer Idee vom russischen Film der 30er Jahre gemein. Es war ein Schock -
und zwei Dinge waren uns sofort klar: dass Medvedkin ein Genie gewesen sein und
dass er wegen dieses Films erschossen worden sein musste.") und den Erinnerungen
der älteren an eine Zeit, in der das Kino noch eine neue Kunstform war ("Es war,
als hätte ein riesige Welle, ein gigantischer Strom die gesamte Gesellschaft mit
sich gerissen.") und die Sowjetunion noch ein Staat mit einer Zukunft ("Das mag
sich zwar seltsam anhören, aber er ist gerade noch rechtzeitig gestorben. Er war
Kommunist. Die ersten Anfänge der Perestroika hat er noch im Fernsehen gesehen,
da war er glücklich, er sagte, das sei inspiriert von seinen Filmen. Wenn er die
Resultate noch hätte sehen müssen, er wäre entsetzt gewesen.") - und zum Schluss
die Denkmäler Lenins und Stalins demontiert werden und drumherum das mit seiner
zaristischen Geschichte wiedervereinigte russische Volk zu Volksmusik Volkstänze
tanzt, während Yakov Tolchan, Dziga Vertovs Kameramann und Freund von Medvedkin,
der zuvor gemeint hatte, man lebe zwar in schmutzigen Zeiten, doch da in zwanzig
oder dreissig Jahren wieder bessere kommen könnten, würde es sich lohnen, seine
Erinnerungen für spätere Generationen aufzubewahren, Marker um einen Moment Ruhe
bittet, um Musik hören zu können, sagt der Erzähler: "Ich weiss, was der Begriff
wäre, der vielen in den Sinn kommen würde bei diesen alten Männern: Dinosaurier.
Aber wie ist es den Dinosauriern ergangen?", und dann einer der besten Schnitte,
die jemals jemand im Genre des historischen Dokumentarfilms gemacht hat: "Kinder
lieben sie." - und wir sehen ein russisches Mädchen, das, wozu es in die Kamera
von Chris Marker lächelt, einen grossen, grünen Plastikdinosaurier im Arm hält.

Medvedkins "Happiness" ist in der Tat, auch nach fünfundsiebzig Jahren noch, ein
ziemlich umwerfender Film, der Moment, in dem Medvedkin noch sehr viel mehr war
als bloss - das ist der Ehrentitel, der ihm, nicht ganz ohne Grund, immer wieder
verliehen worden ist - der russische Chaplin: nämlich Avantgarde-Filmemacher im
Dienst der gesellschaftlichen wie cinematografischen Revolution und gleichzeitig
Propagandist eines volkstümlichen, autoritätsfeindlichen, eskapistisch-absurden
Humors, von dem gesagt wird, er ginge vor allem zurück auf seine Begegnungen mit
der Landbevölkerung, zu der Zeit, als er mit dem Kino-Zug - eine der seltsamsten
Maschinen der Kinogeschichte: zugleich Filmstudio, Schnittplatz und Vorführraum,
ein Fortbewegungsmittel, dessen Passagiere sich so weit an der vordersten Front
des technischen Fortschritts wussten wie dreissig Jahre später die Kosmonauten -
durch die Sowjetunion fuhr; ein Film, der zur Geschichte des Kinos nicht allein
eine Reihe ziemlich einzigartiger Bilder beigetragen hat - das Bild des Pferdes,
das auf dem Dach grast, später das Bild des Hauses, das durch die Steppe läuft -
sondern auch eine so vernichtende wie bizarre (selbst bei Buñuel trugen 1932 die
Nonnen noch keine durchsichtigen Blusen) Karikatur der zaristischen Pfaffen und
Soldaten - und was Chris Marker sechzig Jahre später in den Strassen von Moskau
gefilmt hat, sind, so wie sie zu diesem Zeitpunkt überall in Russland wieder aus
ihren Gräbern hervorgekrochen kamen, genau dieselben Charaktere, den Figuren von
Medvedkin mitunter wie aus dem Gesicht geschnitten, fast genauso kostümiert und
in derselben Mission unterwegs, umgeben von den Russen von 1992. Was das letzte
Bild macht, ist, dieses von Wiedergängern der Geschichte bevölkerte Szenario auf
eine völlig andere Zukunft hin zu öffnen: Jurassic Park, Hollywood, den Westen -
was schon mal besser ist als gar nichts, und mehr, als anderen eingefallen ist.

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