[rohrpost] Alle Kunst ist Medienkunst!

Tilman Baumgärtel mail at tilmanbaumgaertel.net
Die Jan 29 18:43:05 CET 2008


Lieber Stefan,

schön, dass mal wieder jemand die Rohrpost als Plattform für 
Diskussionen benutzt.

Zu dem, was Du da schreibst. gibt es viel zu sagen, ich möchte nur einen 
Satz herausgreifen:
> Künstler arbeiten mit beliebigen  Medien, von der Zeichnung bis zum 
> Internet.

Wenn es so wäre, dass die "richtigen" Künstler (also die vom 
Kunstbetrieb anerkannten und als verkäuflich eingestuften Künstler,die 
Du wohl meinst) gelegentlich tolle Arbeiten mit Internet, Computer, 
Handy, Second Life etc schaffen würden, könnte man die Transmedialen, 
Ars Electronicas, Medienkunstschulen etc. vielleicht wirklich 
abschaffen. Leider kenne ich solche Beispiele nicht.

Im "richtigen" Kunstbetrieb treibt ja gerade Regressionskunst a la 
Jonathan Meese und das Malerfürstentum neue Sumpfblüten. Aber auch die 
konzeptueller arbeitenden Künstler haben neue Medien meist nur für 
Dokumentationen aller Art benutzt, und nicht ihre anderen, wesentlichen 
Qualitäten herausgekitztelt. Das ist aber für meine Begriffe auch eine 
Aufgabe von Kunst: sich ihre Medien selbst vorzunehmen - ob das nun 
Ölfarbe oder html ist. Jede Kunst kann "Medienkunst" sein, wenn man mit 
Medien nicht nur technische Medien meint, sondern Medien als 
Kommunikationsmittel aller Art versteht, was auch die traditionellen 
Kunstmedien wie Stein, Holz, Farbe, Holzschnitt, Lithographie etc 
einschliesst.

Der Vorwurf, dass die Netzkunst nicht das Netz geprägt hat, heisst 
weiter gedacht, dass Kunst nur dann ihrer Aufgabe gerecht wird, wenn sie 
die Gesellschaft verändert, und das ist nun wirklich eine 
Avantgarde-Utopie reinsten Wassers. Was haben denn Picasso, Warhol, 
Beuys, Polke, Richter, Dan Graham, Sol Lewitt  (bitte anderen 
Grosskünstlernamen hier einfügen) zur Verbesserung oder Veränderung der 
Gesellschaft beigetragen? Im übrigen könnte man durchaus argumentieren, 
dass Kunst-Projekte wie The Thing, Digitale Stad oder die Internationale 
Stadt Facebook und MySpace vorweg genommen haben, oder dass OrangOrang 
YouTube hätte werden können, Jodi in dem meisten 
Webdesign-Coffeetable-Books der 90er Jahre vertreten waren etc.

Das soll nicht heissen, dass ich mit der Mehrzahl der Arbeiten, die bei 
den einschlägigen Festivals (oder bei einer Ausstellung wie "Vom Funken 
zum Pixel") gezeigt werden, besonders glücklich wäre. Aber das gilt auch 
für die Mehrzahl der Arbeiten, die bei documenta et al gezeigt werden...

Gruesse,
Tilman

-- 
Dr. Tilman Baumgärtel 
Film Institute, College of Mass Communication, 
University of the Philippines
www.tilmanbaumgaertel.net