[rohrpost] MediaArtHistories, rezensiert von Martin Schulz

Manuel Bonik manuel at nightacademy.net
Mit Sep 17 20:35:13 CEST 2008


Oliver Grau: MediaArtHistories. (Leonardo, ), Cambridge, Mass.: MIT
Press 2007, xii + 475 Seiten, ISBN 978-0-262-07279-3, GBP 24.95
 

Rezensiert von Martin Schulz, Institut für Kunstwissenschaft und
Medientheorie, Staatliche Hochschule für Gestaltung, Karlsruhe


Der geläufige Begriff der Medienkunst ist streng genommen eine
Tautologie. Es gibt keine Kunst, die nicht im weitesten Sinn von einen
Medium abhängig ist, bestimmt wird von seinen spezifischen Bedingungen
und Möglichkeiten, die sie überhaupt erst materialisieren, zur
Erscheinung bringen, dauerhaft und für alle sichtbar machen. Darüber
gibt es in der Kunst und Kunstgeschichte, ohne dass der Begriff des
Mediums je explizit gemacht wurde, immer schon ein Wissen, nicht zuletzt
Wettbewerb und bewertenden Kanon. Doch war es die technisch
revolutionäre Medienkunst im engeren und gegenwärtigen Sinn, d.h. die
Phänomene der maschinell, längst elektronisch und digital generierten
Kunst, die hierfür das Bewusstsein in besonderer und nachhaltiger Weise
ausgeprägt hat. Umgekehrt hatten es die mechanisch hergestellten Bilder,
die wiederum eine viel längere Geschichte haben als die der sogenannten
Neuen Medien, immer schon schwer, mit der idea der hohen, genialen und
freien Kunst seit der Renaissance gleichgestellt und überhaupt als
Medien der Kunst anerkannt zu werden. Die Geschichte der Fotografie als
dem ältesten der Neuen Medien ist hierfür ein prägnantes Beispiel. In
den Bilderströmen der Gegenwart fällt es indessen immer schwerer,
überhaupt noch die Grenzlinien zwischen Kunst, Wissenschaft, Technik,
Unterhaltung und Kommerz auszumachen. Und die bloße Anwendbarkeit
komplexer Technologie garantiert längst noch nicht eine künstlerische
Qualität der Medienbilder.

Der englischsprachige Sammelband "MediaArtHistories", herausgegeben von
Oliver Grau und erschienen in der namhaften Leonardo-Reihe der MIT
Press, vereint insgesamt 22 Beiträge von international renommierten und
interdisziplinär ausgerichteten Wissenschaftlern, Künstlern und
Kuratoren zu diesem weiten Themenfeld. Er bietet viele Einblicke,
mediengeschichtliche Referenzen und kritische Diskussionen zu einem
längst unüberschaubaren Feld an Namen und Werken, von denen viele
nach wie vor schwer zugänglich und selbst deren Klassiker immer noch
wenig bekannt sind. Das Buch, das teils aus der Konferenz "Refresh! The
First International Conference on the Histories of Media Art, Science,
and Technology" 2005 am Banff New Media Institute hervorgegangen ist,
verfolgt ein mehrfach angelegtes Ziel: Die digitale Kunst in ihren
Phänomenen und theoretischen Konsequenzen als Teil der
Kunstgeschichte zu begreifen und darzustellen. Doch dies geschieht
nicht, wie lange üblich und geleitet von einem technozentristischen
Diskurs, allein auf der Grundlage der fundamental und rasant
veränderten, alle Lebensbereiche durchdringenden Technologie, sondern
innerhalb einer weiter gefassten, interdisziplinär und nicht zuletzt
interkulturell orientierten Kunstwissenschaft. Nur in einer größer
angelegten historischen, die Phänomene zugleich genau beschreibenden,
analysierenden, in ihrer Qualität beurteilenden Perspektive, die nicht
kurzsichtig zwischen alten und neuen Medien trennt, sondern Verbindungen
und Wechselverhältnisse aufzeigen kann - nur in einer solchen
Perspektive, wie sie dieser Band vorgibt, wird das Neue verständlich,
werden aber die kulturellen Vorgaben deutlich und das Neue in den alten
Medien sichtbar. Das Spektrum der Aufsätze reicht vom islamischen
Mittelalter zur Laterna magica und bis zu Fotografie, Film und Video,
von der Kunst Duchamps bis zur digitalen Medienkunst der Gegenwart.

Den Auftakt bildet ein kurzer Essay des Altmeisters der
Wahrnehmungspsychologie, Rudolf Arnheim, dessen weltbekannte Bücher zur
Kunst auch auf das Fach großen Einfluss haben. Sein Anliegen, die neue
Medienkunst in den Horizont der überlieferten Geschichte zu integrieren,
steht gleichsam als Plädoyer für das ganze Buch. Die erste Sektion heißt
daher bezeichnend: "Origins: Evolution versus Revolution". Peter Weibel
macht in seinem erhellenden Beitrag deutlich, dass der teils
überstrapazierte Begriff des Virtuellen bereits in der kinetischen
Kunst der 1960er Jahre auftaucht; während Edward Shanken darüber
reflektiert, wie das Verhältnis zwischen "Art, Science, and Technology"
(kurz AST genannt) methodisch und historiografisch in die Kunst der
1960er Jahre eingefügt werden kann: in eine Epoche, die konzeptuell wie
technisch so gut wie alle überlieferten Rahmen gesprengt und und damit
nicht zuletzt dem Verhältnis von Betrachter und Kunstwerk neue
Koordinaten hinzugefügt hat. Gerade auch in ihren theoretischen, oft von
den Künstlern selbst formulierten Texten wurde dies immer wieder
reflektiert. Leitend ist der bekannte Aufsatz "Beyond Modern Sculpture"
von Jack Burnham von 1968 und die vielen Diskussionen innerhalb des
amerikanischen Modernismus. Eher schlagwortartig, summarisch und wenig
historisiert fallen jedoch die vorgeschlagenen Kategorien für die
Medienkunst aus, wie "Networks, Surveillance, Culture Jamming",
"Simulations and Simulacra", "Interactive Context", "Communities,
Collaborations, Exhibitions, Institutions". Überzeugender und
origineller argumentiert der Aufsatz von Dieter Daniels, der unter dem
Begriff des Mensch und Maschine verbindenden Interface eine
hypothetische Beziehung herstellt zwischen Duchamps vielfach
theoretisiertem Schachspiel und der "universal machine" von Turing;
ebenso der Beitrag von Oliver Grau selbst, aufbauend auf seinen viel
beachteten (und im Fach erstmaligen) Studien zur Kunstgeschichte der
Virtuellen Realität, über Praktiken und Utopien der Telepräsenz,
Immersion und Phantasmagorien artifizieller und geisterhafter
Erscheinungen, die bereits in vielen visuellen Experimenten des 18.
Jahrhunderts angelegt sind.

In der zweiten Sektion "Machine - Media - Exhibition" werden einige der
Schlüsselbegriffe der neuen Medienkunst verhandelt. Die "automatization"
als Prinzip der Bildherstellung spielt hier eine wichtige Rolle; das
mechanische, sich selbst gestaltende Prinzip, das zugleich bis zu den
Handabdrücken der Altsteinzeit zurückverfolgt werden kann. Edmond
Couchot versteht Abdruck wie optische Projektion als Basis aller
nachfolgenden mechanischen Bildprozesse, die wiederum Grundlage der
analogen Medien Fotografie und Film sind. Allerdings wird der Bruch zum
digitalen Bild einmal mehr vor allem auf technischer Ebene beschrieben
und in die Erzählschemata (und nicht zuletzt Erfolgsgeschichte)
evolutionär fortschreitender Technologie eingefügt. Zweifelsohne haben
sich die Verhältnisse von Objekt, Bild und Subjekt verändert. Fraglich
bleibt, wie es Oliver Grau selbst favorisiert, ob Virtualität,
Immersion, Interaktivität und Animation nicht immer schon in der
Bildgeschichte angelegt und vielleicht ihre eigentlichen Motoren sind.
So bleibt auch die Frage offen, ob mit den Möglichkeiten digitaler
Bildgenerierung auch grundlegend neue ästhetische Kategorien, gar eine
neue Ontologie und eine gänzlich neue Kultur der Kunst eingeführt
wurden, wie sie in den Beiträgen von Andreas Broeckmann, Ryszard W.
Kluszczynski, Louise Poissant und Christiane Paul diskutiert werden. In
der darauffolgenden Sektion "Pop and Science" wird der inflationär
verwendete Begriff der Interaktion im Beitrag von Ron Burnett noch
einmal kritisch aufgegriffen, ausführlich, luzide und historisch weit
verankert diskutiert. Gerade die dialektischen Verbindungen zwischen
"alten" und "neuen" Medien werden hier sehr deutlich und überzeugend
aufgezeigt. Doch sicherlich sind zugleich die Verbindungen,
Zusammenarbeit und wechselseitigen Durchdringungen von Kunst,
Wissenschaft, Technologie, Massenkommunikation, Softwareentwicklung,
Popkultur und Unterhaltungsindustrie enger und unterscheidbarer denn je
zuvor, wie das insbesondere die Beiträge von Lev Manovich und Timothy
Lenoir ausführen.

Die vierte und letzte Sektion widmet sich schließlich dem, was aus dem
deutschen Wort "Bildwissenschaft" wörtlich übersetzt als "Image Science"
bezeichnet ist. Diese Übersetzung scheint nicht ganz glücklich, da, wie
es W. J. T. Mitchell, einer der prominenten Beiträger dieses Bandes,
einmal selbst ausgebreitet hat, unter "Image Science" etwas sehr anderes
verstanden werden kann, vornehmlich ein Anliegen der Naturwissenschaft.
Hier stößt dieser Band auch an die bestehenden Grenzen des Dialogs
zwischen "Bildwissenschaft" und den angloamerikanischen "Visual
Studies", die mitunter sehr verschiedene Ziele verfolgen und mit
unterschiedlichen Begriffen operieren. Mitchells eigener Beitrag macht
noch einmal deutlich: "There are no Visual Media"! Alle Bildmedien,
insbesondere auch die "alten" sind in ihren Eigenschaften "mixed media".
Dies zeigt einmal mehr an, dass die Grenzlinien zwischen alten und
neuen, audiovisuellen Medien nicht so deutlich verlaufen, wie es manche
Apologeten der Medienkunst gerne sehen. Den letzten Beitrag liefert die
ebenso in Chicago lehrende, international renommierte
Wissenschaftshistorikerin Barbara Stafford. Sie bringt abschließend den
für alle bild- und medienwissenschaftlichen Diskussionen schwer
greifbaren, aber entscheidenden Begriff der "Mental representation" ein.
Unter dem Stichwort "Picturing Uncertainty" spannt sie einen weiten und
erhellenden Bogen von der Romantik bis zu den Techniken mentaler
Repräsentationen der Gegenwart.

Der Band "MediaArtHistories" ist ein sehr produktives Lesebuch, das die
Diskussionen über den kulturhistorischen Status des Bildes, der Kunst
und seiner aktuellen Medien in einem weiten Spektrum voranbringen wird -
klug mit dem Plural versehen, der anzeigt, dass nicht eine einzige und
noch weniger eine lineare Geschichte der Medienkunst geschrieben werden
kann.


-- 
Manuel Bonik <manuel at nightacademy.net>