[rohrpost] CfP: Offene Objekte / Open Objects

André Wendler andre.wendler at uni-weimar.de
Don Apr 23 12:58:37 CEST 2009


PLEASE SCROLL DOWN FOR ENGLISH VERSION

Offene Objekte
Jahrestagung des Internationalen Kollegs
für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM)
der Bauhaus-Universität Weimar

Call for Papers

Die Medien- und Kulturwissenschaften ergänzen die tradierten
Geisteswissenschaften unter anderem dadurch, dass sie ein massives Interesse
an den Dingen hegen; nicht an ihrer Wahrnehmung und Bedeutung allein,
sondern an ihnen selbst. Beginnend mit technischen Objekten, untersuchen die
Medien- und Kulturwissenschaften heute historisch und systematisch die
verschiedensten Artefakte in all ihrer Materialität und Gegenständlichkeit,
ihrer Widersetzlichkeit und ihrem Eigensinn.

Das ist keineswegs selbstverständlich. Die Theorieansätze, denen sich die
neueren Medien- und Kulturwissenschaften zunächst verdankten, legten eher
das Gegenteil nahe. Strukturalismus und Poststrukturalismus, Systemtheorie,
Diskursanalyse und Simulationstheorie haben sich eher um die Umgehung,
Überwindung und Auflösung des Materiellen bemüht. Im System der Dinge
interessiert die Relation, nicht das Ding; die Dinge werden zu
Diskurseffekten aufgefächert, in Sinn aufgelöst oder kurzerhand zugunsten
des Immateriellen für überwunden erklärt.
Mit der Freilegung der ›Materialität der Kommunikation‹ haben sich die
Medien- und Kulturwissenschaften davon jedoch gelöst. Dafür gibt es neben
binnentheoretischen Gründen durchaus realweltliche Anlässe, vor allem
technische und ökonomische. Das Vordringen ›intelligenter‹ Objekte aus
Laboren und Waffenarsenalen in sämtliche Alltagszusammenhänge und die
Durchsetzung des Designs als grundlegender Kulturtechnik haben dazu
angehalten, die Genese und Funktion der Dinge – auch historisch – neu zu
betrachten.

Aus diesem Interesse resultiert die große Bereicherung, die die Theorie der
Handlung erzeugenden Netzwerke Bruno Latours, Alfred Gells und anderer für
die Medien- und Kulturwissenschaften darstellt. Hier findet nämlich ein
konsequenter Verzicht auf die grundlegende Unterwerfung der Dinge unter
Sinn, Struktur und Diskurs statt. Personen, Dinge und Zeichen ordnen sich
stattdessen zu heterogenen und heterarchischen Ensembles an, in denen sie
einander bei- und gleichgestellt zusammenwirken. Dadurch wird der Anteil der
Dinge am Zustandekommen etwa des Wissens und anderer Kulturleistungen
sichtbar.

Damit tritt allerdings auch eine Reihe neuartiger Probleme auf. Neben Fragen
des Politischen und des Ethischen zählen dazu die Genese und die formale
Einheit solcher Agentennetzwerke. Wie entstehen und bestehen sie? Zwar kann
man annehmen, dass sie sich als Ensembles operativ und situativ stets und je
neu konstituieren. Dennoch bedürfen sie auch einer Gerinnungs-,
Materialisierungs- und Rekursionsform, um Wirkungsmacht zu entfalten, sich
zu reproduzieren, zu beobachten und zu wandeln. Das Labor etwa, aber auch
das Studio, das Atelier oder die Küche wären solche Materialisierungen. Ihre
Einheit wird in der Regel aus ihrer Kontur abgeleitet, aus
architektonischer, institutioneller und habitueller Rahmung.

Können handelnde Ensembles aber nicht auch anders als durch bloße äußere
Abgrenzung gesetzt werden, nämlich in einer internen Kopplung? Und können
sie die Reichweite, operative Beschaffenheit und Formierungskraft dieser
Kopplung selbst materiell, d.h. durch Dinge anlegen? Dies zu untersuchen,
schlägt die Tagung das Konzept des ›offenen Objekts‹ zur Diskussion vor. Im
Unterschied etwa zur kompakten ›black box‹ speisen sich ›offene Objekte‹ aus
den komplexen und jeweils variablen Übergängen zwischen Kontur und Kopplung,
Ding und Medium, Handeln und Reflexion.
›Offene Objekte‹ sind begegnungsfähige Dinge, befinden sich aber im Zustand
des noch Unentschiedenen. Zunächst rätselhaft und ungreifbar, bilden sie
ihren Status erst allmählich heraus, indem sie Entscheidungen hervorrufen
und Positionierungen einfordern. Ihren Ausgangspunkt und ihre Grundfigur
finden sie in Paul Valérys objet ambigu, wie er es in seinem Dialog
Eupalinos entwickelt. Denn das objet ambigu ist ›das zweideutigste Objekt‹.
Es entsteht in einer Welt, die sich ›von ihrer Rückseite‹ darbietet. Es
erscheint an der Grenze zwischen Land und Meer, die ununterscheidbar mit ihm
zusammenfällt; es bewegt sich in einer Zone, deren Vielheit der Kräfte zur
Unüberwindlichkeit seiner eigenen Vielheit gerinnt. Das objet ambigu ist
reine Potentialität, es ist ein Gegenstand, der aus der platonischen Ordnung
herausfällt, während seine Bedeutung ›ins Unabsehbare‹ reicht, denn: »Es
stellt alle Fragen und läßt sie offen.« (Hans Blumenberg)

Das ›offene Objekt‹ legt mögliche Handlungen in einem Agentennetzwerk an und
spannt dessen Einheit und Reichweite auf offene Weise auf, nicht immer schon
von seinen Grenzen her. ›Offene‹ Objekte sind noch keiner Herkunft oder
Funktion zugeschrieben, weder Kunst-, noch Natur-, noch Technikding. Sie
lassen sich spontan auch keinem der Pole der Trias aus Person, Ding und
Zeichen eindeutig und einseitig zuordnen. Genau dadurch aber lösen sie die
Bildung eines heterogenen Ensembles aus: sie provozieren Entscheidung,
Handlung und ihre Stabilisierung in einem Netzwerk. Zugleich geben sie
Anlass zur Thematisierung des Netzwerks selbst, das sie (mit) aufspannen
und, eben in dem ›offenen Objekt‹, zusammenziehen. Damit nehmen diese
Objekte, ohne an Dinghaftigkeit einzubüßen, dennoch zugleich die
Eigenschaften von Medien an.
Bei Valéry ist es das bloße Fundstück, das gerade in seiner Unverfügtheit in
einem Zusammenhang mit allen möglichen Handlungsweisen steht. So könnten
aber etwa auch Bilder sowohl als Zeichen wie als Dinge wie auch als
handelnde, quasi-menschliche Personen wirksam werden. Sie fordern dann zur
Herausbildung beispielsweiser ritueller oder ästhetischer Handlungsnetzwerke
auf. Mehr noch gilt dies für technische oder gar ›lebende‹ Bilder und deren
Produkte, man denke etwa an die Stars. Auch Automaten, besonders solche, die
Zeichen verarbeiten, können in diesem Sinne als ›offen‹ verstanden werden
und damit ganze Ensembles verkörpern.

Der Erfassung und Erforschung solcher ›offener Objekte‹ widmet sich die
Jahrestagung 2010 des IKKM, die vom 28. bis 30. April 2010 in Weimar
stattfinden wird. Die erbetenen Beiträge sollen auf das vorgeschlagene
Konzept eingehen, es prüfen, kontrastieren und weiterentwickeln.
Insbesondere sind Beiträge willkommen, die entlang konkreter Beispielfälle
helfen können, Vorkommen und Funktionsweise ›offener Objekte‹ in
Agentennetzwerken genauer zu beschreiben.

Die Konferenzsprachen sind Deutsch und Englisch. Vorschläge im Umfang von
max. 2000 Zeichen werden zusammen mit einer Kurzvita der Einreichenden bis
zum 30.06.2009 per Email erbeten an laura.frahm at uni-weimar.de oder per Post
an:

IKKM Weimar
Dr. des. Laura Frahm
Bauhaus-Universität Weimar
99421 Weimar

********* ENGLISH VERSION *********

Open Objects
Annual Conference of the IKKM –
Internationales Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie
at the Bauhaus University Weimar

Call for Papers

One of the ways in which cultural and media disciplines complement the
traditional humanities is that they enshrine a massive interest in the
concrete and tangible, i.e. in things––not merely in the perception of
things or significance of things, but in things themselves. Having begun
with technological objects, studies of culture and media have now embarked
on the historical and systematic study of artefacts of every kind, in all
their materiality and thingness, their refractoriness and obduracy.

This was not a readily foreseeable development. If anything, the theoretical
approaches that gave rise to the cultural and media sciences tended to point
in the opposite direction. Structuralism and post-structuralism, systems
theory, discourse analysis, and simulation theory all sought ways to evade,
overcome or fragment materiality. In the system of objects, what counts is
the relationship, not the thing; things themselves are differentiated up
into discourse effects, or dissolved into mere import, or simply proclaimed
obsolete, superseded by the immaterial.

Yet now the cultural and media sciences have cut loose from all that by
uncovering and exposing what may be called the ‘materiality of
communication.’ There are theoretical reasons why this happened, but also
real-world explanations, mainly technological and economic. The phenomenon
of ‘intelligent’ objects emerging from laboratories and war arsenals to
penetrate into every facet of everyday life, and the new hegemony of design
as the decisive cultural technology, have together prompted a fresh look at
the genesis and function of things––in part from a historical perspective.

This new interest led on directly to the major enrichment that the cultural
and media sciences have gained from the theory of action-generating networks
evolved by Bruno Latour, Alfred Gell, and others: for here we have a
systematic rejection of the hierarchy by which things are as a matter of
principle subjugated to meaning, structure, discourse. Instead, persons,
things, and signs arrange themselves in heterogeneous and heterarchical
ensembles in which they function jointly, contiguously and on an equal
footing. This makes it possible to see the role played by things in the
genesis of, for example, knowledge and other cultural outcomes.

At this point a number of unfamiliar problems arise. Aside from political
and ethical issues, these include the genesis and formal unity of the actor
networks. How do they come about, and how do they subsist? While it seems
clear enough that qua ensembles they constantly reconstitute themselves
functionally and situationally in ever-new constellations, they nevertheless
still have to generate a fixed form of coagulation, of materialisation, of
recursion, if they are to exert influence externally and to reproduce,
observe, and modify themselves. Examples of such materialisations might be
the lab, for a start, or the studio, the workshop or the kitchen. Their
coherence usually comes from the given setting, i.e. the architectural,
institutional, and conventional context.

But is it not possible for action ensembles to be constituted in other ways
than through mere external demarcation––that is to say, by means of an
internal link? And can they themselves fix the scope, operational
characteristics, and formative power of such a link by material means, i.e.
using things? With a view to examining this issue, the conference will focus
debate on the concept of an ‘open object.’ Unlike the compact ‘black box,’
for example, ‘open objects’ draw their vitality from the complex and
constantly varying interfaces between context and internal linkage, thing
and medium, action and contemplation.

‘Open objects’ are encounterable things that are still in a state of
indeterminacy. Enigmatic and elusive on first encounter, they develop their
status gradually over time, by prompting decisions and demanding
positionings. They take their starting-point and their basic configuration
from Paul Valéry’s objet ambigu, as elaborated in his dialogue
Eupalinos––the objet ambigu being ‘the most ambiguous object.’ It originates
in a world, which presents itself ‘as seen in rear view.’ It appears on the
borderline between land and sea and coincides inseparably with that
borderline; it moves within a zone inhabited by a multiplicity of forces
that coagulates together into the invincibility of the object’s own
multiplicity. The objet ambigu is pure potentiality, an object that falls
outside the Platonic order of things; its significance extends ‘into the
incommensurable,’ for ‘it poses all the questions and leaves them open.’
(Hans Blumenberg)

The ‘open object’ arranges possible actions in an actor network and deploys
the network’s unity and scope in an open-ended process, not always starting
with its limits. ‘Open objects’ are objects that have not yet been assigned
an origin or function; they are not an art thing, not a natural thing, not a
technology thing. Nor are they spontaneously amenable to being assigned
unambiguously and exclusively to any of the poles of the triad of persons,
things, and signs. But this is what enables them to trigger the formation of
a heterogeneous ensemble: they provoke decision, action, and their
stabilisation in a network. At the same time they initiate the thematic
definition of the network itself, which they (help to) deploy fully, and
also to focus––the focal point being the ‘open object.’ In this way the
objects concerned acquire the characteristics of media, yet lose none of
their thingness.
For Valéry it is the ordinary found object that by virtue of its very
autonomy stands in some relation to all conceivable courses of action; but
in the same way images, for example, could be made effective as signs, or as
things, or as actors, quasi-human personages. At that point they call for
the formation of ritual or aesthetic action networks. The same applies, with
still greater force, to technological or even ‘living’ images, a case in
point being the movie star. Robots too––especially those that process
signs––can likewise be seen as ‘open’ in this sense and may consequently
embody entire ensembles.

The central theme of the 2010 IKKM Conference will be the identification and
exploratory study of such ‘open objects.’ The conference will take place
from 28th April to 30th April 2010 in Weimar. Papers are invited and should
explore the nominated concept, scrutinise it, subject it to contrastive
study and further development. The conference organisers particularly
welcome papers that use close reference to actual case studies to contribute
to a fuller description of the incidence and manner of functioning of ‘open
objects’ within actor networks.

The conference languages are German and English. Abstracts (max. length 2000
keystrokes) should be sent by email to laura.frahm at uni-weimar.de, or to the
address below, together with authors’ summary CVs, by 30 June 2009:

IKKM Weimar
Dr. des. Laura Frahm
Bauhaus-Universität Weimar
99421 Weimar
GERMANY


-- 
Diplom-Kulturwissenschaftler (Medien)
André Wendler
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie

Bauhaus-Universität Weimar
Cranachstraße 47
99421 Weimar

Telefon +49 36 43 58 40 17
Mail andre.wendler at uni-weimar.de