[WOS] WOS @ CCC '99

Volker Grassmuck wos@mikrolisten.de
Fri, 14 Jan 2000 00:21:37 +0100


Lieber Florian,

vielen Dank f=FCr Deine Kritik und Vorschl=E4ge. =


Was die beliebige Schachtelbarkeit von Layern betrifft, stimme ich Dir
zu. Die Frage, wo das OS aufh=F6rt und die Applikationsschicht anf=E4ngt,=

hat uns ja schon fast seit Anfang an besch=E4ftigt. Deine beiden Stacks
machen das nochmal sehr sch=F6n deutlich. Auch was Du =FCber eine m=F6gli=
che
Aufteilung in User- und Kernel-Space geschrieben hast, =FCberzeugt mich.
Allerdings nur, wenn einem sozusagen an einer 'Ontlogie' gelegen ist.
Viel einfacher und 'ph=E4nomenologisch' gedacht, gibt es schon eine
ziemlich klare Trennung. Ein Bild daf=FCr ist der Railroad Club am MIT
Ende der 50er, =FCber den Steven Levy in "Hackers" schreibt. Da gab es
eine Fraktion, die *auf* der Platte neue Modellh=E4user, -H=FCgel, -B=E4u=
me
und Streckenf=FChrungen bastelte und eine andere, die immer *unter* der
Platte lag und an den Kabeln und Relais schraubte. Die Hacker gingen
nat=FCrlich aus der zweiten Fraktion hervor. =


Hier kann man auch mal wieder die uns=E4gliche Autometapher bem=FChen: OS=

liegt unter der K=FChlerhaube, Schnittstelle sind Schrauben, Ventile,
Klemmen etc., Systemwerkzeuge wie Schraubenschl=FCssel und Me=DFger=E4te =
sind
erforderlich. Anwenderraum ist die Fahrgastkabine; Schnittstellen sind
Kn=F6pfe, Schalter, Armaturenbrett. Und dann gibt es eben die Schrauber
und Fahrer.

Neal Stephenson benutzt in seinem "In the Beginning was the Command
Line" die Untescheidung in Coder und User, um zu argumentieren, da=DF OS
"ihrer Natur nach" frei seien (sollten): "... the very nature of
operating systems is such that it is senseless for them to be developed
and owned by a specific company. It's a thankless job to begin with.
Applications create possibilities for millions of credulous users,
whereas OSes impose limitations on thousands of grumpy coders, and so
OS-makers will forever be on the shit-list of anyone who counts for
anything in the high-tech world. Applications get used by people whose
big problem is understanding all of their features, whereas OSes get
hacked by coders who are annoyed by their limitations" =

<z.B. http://larry.earthlight.co.nz/essays/commandline.html>

Und noch ein Beispiel aus der Biotechnologie, auf das mich Chris Kelty
gebracht hat: Das Human Genome Projekt (HGP) war als offene kooperative
internationale Forschungsbem=FChung geplant gewesen. Der Schock war gro=DF=
,
als Anfang der 90er amerikanische Firmen begannen, einzelne Sequenzen zu
patentieren. Diese Tendenz ist inzwischen zur=FCckgeschraubt. Das Nationa=
l
Institut of Health (NIH) ist Haupttr=E4ger des HGP in den USA, allerdings=

mit einem kommerziellen Gegenspieler, Celera (Craig Venter). Hauptgrund
daf=FCr k=F6nnte sein, da=DF die Pharmaindustrie gar nicht an der DNS sel=
bst
interessiert ist, sondern f=FCr wirtschaftlich verwertbare Produkte auf
der dar=FCberliegenden Schicht der Proteine aufsetzt. Sie sind
gewisserma=DFen die APIs, die es erlauben, Medikamente auf die Umgebung
einzelner Individuen anzupassen. Eine analoge Schichtung w=E4re hier also=
:
OS =3D DNS, Anwendungs-Software =3D Proteine. Wobei das Wissen =FCber das=
 OS
heute wieder nach dem wissenschaftlichen Ideal frei ver=F6ffentlicht wird=
=2E =



Florian Cramer wrote:
> =

> Am Fri, 07.Jan.2000 um 16:45:23 +0200 schrieb Volker Grassmuck:
> =

> > OS =3D Basisschicht, die Kommunikation und Interoperabilit=E4t erm=F6=
glicht,
> > also Netz und OSs im engeren Sinne. OS =3D Infrastruktur; das, was ni=
cht
> > vordergr=FCndig semantische Funktionen hat, sondern die Voraussetzung=
en
> > f=FCr sinnhaltige Prozesse schafft, f=FCr Anschlu=DFf=E4higkeiten und=

> > Zirkulationen.
> =

> Die Frage ist, ob diese Definition nicht f=FCr fast alle Software gilt.=
 (Z.B.
> f=FCr Funktionsbibliotheken, Java-VMs, aber auch f=FCr Webbrowser und
> Textverabeitungsprogramme. Selbst wenn man "sinnhaltige Prozesse"

Auch hier wieder sch=E4tze ich Deine begriffliche Strenge, aber es war
viel einfacher gedacht. Wenn ich an meinem Systeme, an X, am
Druckertreiber etc. rumschraube, ist das in meinem Fall kein
Selbstzweck, sondern dient dazu, mich zu bef=E4higen, Texte zu schreiben,=

Mails zu lesen, Webseiten zu bauen etc. Wenn ich einen Text schreibe,
hat das nat=FCrlich auch mit Kommunikation zu tun, aber nicht in dem oben=

gemeinten Sinne. Die Trennung in Schaffung von M=F6glichkeitsbedingungen
und inhaltlicher Einf=FCllung der damit geschaffenen M=F6glichkeiten sieh=
t
f=FCr einen Coder nat=FCrlich anders aus, aber da kommt die o.g.
Grundtrennung in Coder und User zum Tragen.

> Die Unterscheidung von OS und Anwendungen mit der Unterscheidung von
> "Kernelspace" und "Userspace" gleichzusetzen, hilft auch nicht, weil es=

> v=F6llig arbitr=E4r ist, welche Programmfunktionen in welche der beiden=

> Schichten integriert werden. (Zum Beispiel kann man unter Linux einen W=
ebserver
> wie gew=F6hnlich im Userspace laufen lassen oder, seit Kernel 2.3.x  im=

> Kernelspace aktivieren. Gleiches gilt z.B. f=FCr Dateisysteme wie NFS o=
der
> CFS. Der Quake-Entwickler John Cormack dachte vor wenigen Tagen dar=FCb=
er
> nach, den Linux-TCP/IP-Stack experimentell in den Userspace zu verlegen=
, und
> ein anderes Projekt versucht, sogar den gesamten Linux-Kernel im Usersp=
ace
> nutzbar zu machen, um Kernel-Entwicklung ohne Reboots zu erm=F6glichen.=
)

Ich bin nicht sicher, ob es so v=F6llig arbitr=E4r ist, was ins OS abgese=
nkt
wird, und was nicht. Ein Kernel im Userspace macht nat=FCrlich nur Sinn,
wenn die User Kernelentwickler sind. Wer sonst wollte den Motor beim
Fahren neben sich auf dem Beifahrersitz liegen haben? Systemweite
Basisfunktionen geh=F6ren eben unter die K=FChlerhaube. =

 =

> > Dar=FCber liegt die Schicht der Anwendungen, der sinnhaften Operation=
en.
> > Die Aufteilung in zwei Schichten markiert eine Unterscheidung in
> > "Regelhaftigkeit" und "Ausdruck". Hier Standard, Eindeutigkeit,
> > Verbindlichkeit, dort Vielfalt, Heterogenit=E4t und Gewusel. OS =3D e=
in
> =

> Die Unterscheidung greift meiner Meinung nach zu kurz, weil Einheitlich=
keit
> _und_ Heterogenit=E4t sowohl das "Betriebssystem" (im Vergleich zu ande=
ren
> Betriebssystemen), als auch die "Anwendungen" (im Vergleich zu anderen
> Anwendungen) charakterisieren.

Standard f=FCr Kommunikation =3D tcp/ip, http, smtp; individueller Ausdru=
ck
ist diese Mail, die ich Dir dar=FCber schicke. Standard f=FCr
Interoperabilit=E4t und Portierbarkeit =3D Posix, der es erlaubt, einzeln=
e
Applikationen =FCberall laufen zu lassen. Standard f=FCr Texterstellung u=
nd
-Kommunikation in deutschen B=FCrostuben ist WinWord (weshalb sich jedes
neue B=FCro dreimal =FCberlegen wird, irgendwas anderes zu verwenden), di=
e
Texte, die er erlaubt m=F6gen auch weitgehend standarisiert sein, aber da=
s
liegt auf einer anderen Ebene. Klar gibt es viele OS und Be-OS mag ein
prima OS sein, aber wenn es keine Economy of Scale erreicht, wird es
gegen=FCber anderen nie einen infrastrukturellen Charakter bekommen.
 =

> > Computer als "OS" der "Informationsgesellschaft". "Essentiell" f=FCr =
das
> =

> Ketzerische Frage: Ist "OS" in diesem metaphorischen Sprachgebrauch nic=
ht
> ein etwas umst=E4ndliches Ersatzwort f=FCr "Grundlage"?

Gar nicht ketzerisch. Mit "Grundlage" bin ich einverstanden (operating
system: /n./ [techspeak] (Often abbreviated 'OS') The *foundation*
software of a machine, of course; (The Jargon File)). Ob "umst=E4ndlich"
ist genau die Frage. Es geht ja nicht um ein reines Wortspiel, sondern
darum, zu sehen, wie weit die These tr=E4gt und wie sie fruchtbar zu
machen ist. Wenn dabei (mit gewissen l=E4=DFlichen Vereinfachungen) eine
infrastrukturelle Schicht identifiziert wird, die =F6ffentliches Gut zu
sein hat, w=E4re das doch schon etwas. =

 =

> > heute haben (Tim O'Reilly sprach von der Gefahr propriet=E4rer
> > Informationsschichten im Internet).
> =

> Ja, stimmt - sein Vortrag hat die o.g. Frage, welche Schicht eigentlich=
 das
> 'Betriebssystem' ist, schon l=E4ngst formuliert und politisch zugespitz=
t.

Welche Schicht meinst Du? Sein Hauptpunkt ist ja, nach der Entkopplung
von Hard- und Software, jetzt die von Software und Infoware. Die -
rhetorische - Gegen=FCberstellung der Bloatware Windows und der winzigen
Perl-Skripte eingebettet in einer Menge Information schafft das OS ja
nicht aus der Welt. Vielleicht kann man Apache, Perl, Tcl etc. als OS
des Webs sehen. Seine Vorhersage, da=DF Amazon Schlie=DFungen vornehmen
k=F6nnte, hat sich ja mit deren Patentanmeldung auf den Einkaufskorb
best=E4tigt. =DCbrigens ist Chris' Transkription von Tim Vortrag seit
einigen Tagen online. =

 =

> =

> > - "Offenes" Geld:
> > * David Chaums Ecash: was ist draus geworden? Welche anderen Ans=E4tz=
e
> > gibt es?
> =

> War es padeluun, der auf dem CCC-Kongre=DF darauf hingewiesen hat, da=DF=
 alle
> existierenden elektronischen Zahlungssysteme extreme vertikale Hierarch=
ien
> zwischen Produzenten und Konsumenten kreieren, weil man z.B. einem Nach=
barn,
> dem man ein gebrauchtes Fahrrad abkauft, nicht per Kredit-, Geldkarte o=
der
> Cybercash bezahlen kann, weil nur Firmen das Privileg eines Kartenleser=
s
> besitzen?
> =

> So offensichtlich und trivial diese Einsicht auch ist, ich war bisher n=
icht
> darauf gekommen, und sie l=E4=DFt mich seitdem nicht mehr los (und auch=
 viele
> meiner Freunde und Kollegen nicht, denen ich sie weitererz=E4hlt habe).=


Daniel Andujar hat schon vor einigen Jahren in Reaktion darauf seinen
Street Terminal entwickelt, der es Bettlern erlaubt, Almosen per
Kreditkarte anzunehmen. <http://www.irational.org/daniel>. Aber im
Ernst, eine solche horizontale Transferm=F6glichkeit war bei Chaums eCash=

sehr wohl vorgesehen. =

 =

herzliche Gr=FC=DFe
Volker




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